IX

[80] Alle Völker haben in Zeiten schwerer Bedrängnis ihren Patriotismus zunächst und am bequemsten dadurch zu beweisen gesucht, daß sie die zudringlichen Fremden aus ihrer Muttersprache hinauswarfen; so befreiten sich die Neugriechen von türkischen, die Rumänen von slawischen, die Tschechen von deutschen Eindringlingen. In Deutschland war die puristische Bewegung niemals stärker als in den Zeiten der schwersten Not: um 1640 und um 1810. Die Bewegung zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges war übrigens selbst wieder eine Entlehnung; die Führer des damaligen deutschen Purismus hatten sich die Anregung aus den Niederlanden geholt; so Schottel[80] und Harsdörffer, von denen manche kühne Neubildung herstammt (z.B. Anmerkung, Rechtschreibung, Umschreibung), die heute der vertrautesten Gemeinsprache angehört. Vom Standpunkte des Nationalgefühls kann die Tätigkeit dieser Männer nicht genug gerühmt werden; und die Liebe zur Muttersprache wird vielleicht die jetzt herrschende Nationalitätsidee noch überdauern. Auch die Bedeutung des Purismus für das, was unsere Liebe als Schönheit unserer Sprache empfindet und was der Sprache vielleicht immanent ist, soll nicht unterschätzt werden. Geschmacklose Übertreibungen des Purismus (Zesen im 17. Jahrhundert, Campe um 1800) haben dann mitunter unsere besten Männer und Schriftsteller gegen die Sprachreiniger aufgebracht. Ich nenne nur die beiden, deren Verdienst um die Reinheit und Schönheit der deutschen Sprache groß genug ist. Goethe hat einmal ärgerlich gemeint, Reinigung ohne Bereicherung sei oft geistlos; und der deutscheste Germanist, Jacob Grimm, wetterte einmal los (Klein. Schrift. I. 347): »Deutschland pflegt einen Schwarm von Puristen zu erzeugen, die sich gleich Fliegen an den Rand unserer Sprache setzen und mit dünnen Fühlhörnern sie betasten. Ginge es ihnen nach, die nichts von der Sprache gelernt haben und am wenigsten die Kraft und Keuschheit ihrer alten Ableitung kennen, so würde unsere Rede bald von schauderhaften Zusammensetzungen für einfache und natürliche fremde Wörter wimmeln.«

Man würde aber irren mit dem Glauben, daß eine so klare Einsicht in die Gefahren eines übertriebenen Purismus erst nach dem glückhaften Gelingen einer deutschen Nationalliteratur möglich war, daß in den schlimmen Zeiten, da der deutschen Sprache, die wir lieben, Romanisierung oder Vernichtung drohte, nur in unbedingter Reinheit eine Rettung zu liegen schien. An der Wende des 17. und 18. Jahrhunderts, als das Literatendeutsch fast noch unschöner war als während des Dreißigjährigen Krieges, sah Leibniz ebenso klar, was not tat, wie hundert Jahre später Goethe und Grimm. Leibniz hat in seinen »Unvorgreiflichen Gedanken« schöner als irgend jemand vor[81] ihm die Bestrebungen der Fruchtbringenden Gesellschaft verteidigt; aber auch er ist ein Gegner des konsequenten Purismus. Er ist der Meinung nicht, »daß man in der Sprache zum Puritaner werde und mit einer abergläubischen Furcht ein fremdes aber bequemes Wort als eine Todsünde vermeide, dadurch sich selbst entkräfte, und seiner Rede den Nachdruck nehme; denn solche allzu große Scheinreinigkeit ist einer durchbrochenen Arbeit zu vergleichen, daran der Meister so lange feilet und bessert, bis er sie endlich gar verschwächt, welches denen geschieht, die an der Perfektie-Krankheit, wie es die Holländer nennen, darniederliegen«. Und er zitiert ein hübsches Wort der Pflegetochter von Montaigne: »Was diese Leute (die Rein-Dünkler) schrieben, wäre eine Suppe von klarem Wasser, im bouillon d'eau claire, nämlich ohne Unreinigkeit und ohne Kraft!«

Bei allen Kämpfen für und wider den Purismus ist von den Fremdwörtern die Rede; bezüglich der eingebürgerten Lehnwörter besteht unter den besonnenen Streitern eine Art Waffenstillstand; die Lehnübersetzungen werden, wenn sie gelungen sind oder Glück gehabt haben, gar nicht als fremdes Lehngut betrachtet. Für die Wanderung der Begriffe sind aber die Lehnübersetzungen noch bedeutungsvoller als die Fremd- und Lehnwörter. Die wissenschaftlichen und besonders die philosophischen Begriffe werden um so schwerer als Scheinbegriffe erkannt, wenn sie in der Kleidung unseres Landes und unserer Zeit auftreten. Das Elend oder die Fremdheit der wissenschaftlichen, besonders der philosophischen Terminologie wird durch den äußern Schein verhüllt; aber darüber soll nicht vergessen werden, daß unzählige brauchbare Begriffe erst durch die Übersetzung vertraut geworden sind, daß jedes Volk bei dem andern tief verschuldet ist. Auch für Deutschlands Verhältnis zu andern Ländern, namentlich zu Rom und Frankreich, gilt das schon erwähnte Wort, das der Römer auf Griechenland geprägt hat: capta ferum victorem cepit. Die folgende Sammlung könnte gewiß leicht vielfach so groß gemacht werden; sie gibt noch keine genügende Vorstellung von dem[82] durch Übersetzung eingewanderten Lehngut. Aber auch wenn ich bei einigen Wörtern, bei denen ich Lehnübersetzung annahm, geirrt haben sollte, von meinem leitenden Gedanken verführt, so bliebe noch genug übrig, um die Sprachwissenschaft zu zwingen, ihre Vorstellungen von den Prinzipien der Wortgeschichte zu revidieren. Im Wörterbuche selbst werde ich den Einfluß der Lehnübersetzung bei sehr vielen philosophischen Begriffen nachzuweisen suchen; die folgende Liste behandelt Wörter aus allen Gebieten der Sprache. (Vgl. Paul, Deutsches Wörterbuch2.)

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 1, S. LXXX80-LXXXIII83.
Lizenz:
Faksimiles:
80 | 81 | 82 | 83
Kategorien: