[53] Reinhold Köhlers unermüdliche Sammelarbeit hat uns eine Fülle von wandernden Märchen, Sagen, Fabeln, Novellen und auch Redensarten geboten. Man könnte einen stattlichen Band aus den Arbeiten Köhlers ausschreiben. Die Wanderlust von Sagen und geflügelten Worten ließe aufs neue an der Zuverlässigkeit geschichtlicher Überlieferung zweifeln; hier aber, wo uns die Internationalität der Kulturgeschichte, das endlose Entlehnen von Sachen und Worten allein interessiert, sollen nur einige allgemeine Gesichtspunkte und wenige frappante Beispiele[53] aus dem Lebenswerke des prächtigen Köhler entlehnt werden, der wie kein anderer die junge Wissenschaft des Folklore gefördert hat, diese schrecklich gelehrte Bezeichnung für Volkskunde aber ablehnte.
Die allgemeinen Sätze nehme ich aus einer der seltenen Niederschriften Köhlers, in denen dieser bescheidene Forscher einmal das Mikroskop beiseite legte und den Blick in die Weite schweifen ließ: aus der Abhandlung »Über die europäischen Volksmärchen«. Man werde bald gewahr, »daß die Märchen, die nur in Einem Lande, bei Einem Volke vorkommen, verhältnismäßig selten sind, daß dagegen Märchen in weit voneinander gelegenen Räumen in wesentlich gleicher Gestalt sich finden, vielleicht eines in Schottland und in Siebenbürgen, ein anderes in Littauen und in Neapel..... die Zahl der nur an zwei oder drei weit entlegenen Punkten gefundenen gleichen Märchen ist verhältnismäßig gering und würde noch weit geringer sein, wenn überall gleich eifrig gesammelt wäre. Bei weitem die Mehrzahl aber der bisher gesammelten Märchen sind solche, die in den meisten, ja zuweilen in allen Ländern, woher wir Sammlungen haben, sich finden.«
Man habe, sonst kluge Leute haben es getan, die Übereinstimmung entweder Folge der Einheit des Menschengeistes oder des Zufalls sein lassen. »Aber diese Annahme ist in den meisten Fällen unmöglich, da die Gleichheiten meist so eigentümlicher Art sind und in einem so eigentümlichen Zusammenhange, in einer so eigentümlichen Mischung wiederkehren, daß man mit Bestimmtheit sagen kann, daß sie schon an und für sich nicht, am wenigsten aber in dem Zusammenhang, in dem sie regelmäßig erscheinen, zwei oder mehrere Male unabhängig voneinander sich gestalten konnten; sie können vielmehr nur einmal an Einem Ort und zu Einer Zeit erfunden und müssen das andere oder die andern Male durch Überlieferung oder Übertragung fortgepflanzt sein.« Besonders wichtig ist die nachgewiesene Wanderung indischer Märchen nach dem Abendlande. Schon vor der Zeit des Islam wurde eine Bearbeitung der Buddhalegende zu einem weitverbreiteten christlichen[54] Volksroman; die eigentlichen Märchen kamen zu uns durch persische und arabische Übersetzungen. Die Zukunft wird vielleicht die meisten abendländischen Märchen auf eine indische Grundlage zurückführen. »Diese Resultate sind abzuwarten; jedenfalls sind aber schon jetzt soviele Märchen auf indische Quellen sicher zurückgeführt, daß wir auch bei den übrigen sehr vorsichtig mit der Annahme sein müssen, sie seien autochthonischen Ursprungs. Ganz besonders aber wird man sich hüten müssen, in jedem deutschen Märchen einen verblaßten und entstellten uralten heidnischen Mythus zu suchen und natürlich auch zu finden, wie dies bisher von vielen deutschen Mythologen nur zu gern geschah.« Ich berufe mich auf diese Ketzereien Köhlers um so lieber, als es doch Freiheit gibt, wenn so z.B. eins der schönsten deutschen Märchen, das vom treuen Johannes, in Böhmen, im neuen Griechenland, in Italien, in Katalonien und endlich auch in Indien nachgewiesen wird. Es ist dem Chauvinismus gar gesund, zu erfahren, daß die tiefsinnigsten und nationalsten Geschichten eher eingeheimst als heimisch sind. Eine süddeutsche Form der Geschichte von Griseldis gibt gar eine Volksetymologie des Namens: sie heißt Griseldis, von dem griselten (graulichen) Kittel, den sie als armes Maidli trug; da sie verstoßen wird, sagt der Vater zu ihr:
Leg nur an das griselte Kittele
Und iß mit mir ein Überschüttele.
Die Matrone von Ephesus, ein wahrer Globetrotter unter den Novellen, ist jüdisch, russische italienisch und sonst fast überall naturalisiert worden.
Selbst eine so einfache Redeformel wie »und wenn der Himmel war' Papier« ist von Köhler über den Talmud und Arabien zu den Neugriechen, den Serben, den Italienern, den Franzosen, Deutschen und Engländern begleitet worden; die Originalstelle im Talmud heißt: »Wenn alle Meere Tinte und alle Binsen Schreibfedern und der ganze Himmel Pergament und alle Söhne der Menschen Schreiber wären, sie reichten nicht aus zu beschreiben usw.«
Die Wendung gegen den kulturwissenschaftlichen Chauvinismus[55] findet sich schon bei Köhler (Kleinere Schriften III. 355): »Ohne irgendwie Gewicht auf meine eigene Ansicht legen zu wollen, nach der allerdings verschiedene Nationen, deren Volkslieder ich einigermaßen zu kennen glaube, uns darin ebenbürtig sind, möchte ich nur fragen, ob der Herausgeber, ob überhaupt irgend jemand die Volkslieder aller andern Nationen genau genug kennt, um sich erlauben zu dürfen, so kurzweg über alle zugunsten von uns Deutschen abzuurteilen.«
Auch die alte Weisheit, daß der Charakter eines Volkes aus seinen Sprichwörtern erkannt werden könne, ist nicht mehr wahr. Aus zwei Gründen nicht. Erstens weil Sprichwörter ebensowenig wie Volkssagen vom Volke geschaffen worden sind; zweitens weil Sprichwörter fast immer international sind, von einem Volk zum andern wandern und, richtig oder unrichtig, wie andere Wissenschaft um so gläubiger nachgesprochen werden, je bekannter sie sind. Es wäre übrigens nicht übel, gehört aber nicht zu meiner Absicht, an ein paar Hundert der beliebtesten Sprichwörter nachzuweisen, daß ihre Weisheit der Erfahrung schnurstracks widerspricht.
Daß Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten, daß also geformte Weisheit ebenso Kunstprodukte sind wie die sog. Volksepen, demnach nur von individuellen Wortkünstlern in die Welt gesetzt werden können, dafür braucht ein Beweis nicht erst erbracht zu werden; die ganze Rederei über die künstlerische Tätigkeit von Volkseinheiten entstand nach Rousseau und Herder vor etwa hundert Jahren, als der Begriff des Volkstums entdeckt worden war und mit natürlicher Entdeckerfreude maßlos überschätzt wurde. Nicht die vaterlose Entstehung im Volke ist für das Sprichwort wesentlich, sondern die Adoption durch das Volk, durch die Vielen. Der einzelne spricht den Satz aus, selten aus eigener Kraft, gewöhnlich als Nachsprecher, als Plagiator oder als Übersetzer; und weil die Vielen den Satz gemeinsam hören und so gemeinsam erfahren, wie stark der Eindruck durch Prägnanz oder Reim oder durch ein keckes Bild auf alle war, darum können sie von jetzt ab den Satz einander wie andere Worte zuwerfen. Diese gemeinsame und gleichzeitige[56] Adoption war immer eine Bedingung für die Verbreitung von Sprichwörtern. Ich erinnere daran, daß für das 16. Jahrhundert, wo das Sprichwörtersammeln bei uns begann, populäre Predigten eine Hauptquelle sind; wir können bei dem Zustande der mittelalterlichen Kultur annehmen, daß die christlichen Prediger überall Verbreiter von Sprichwörtern waren. Man achte ferner darauf, daß es den Geistlichen darauf ankam, für die alte Spruchweisheit, die in dem großen Sammelbecken der lateinischen Sprache vereinigt war, eine hübsche Form in der Muttersprache oder in der Mundart zu finden, während es den ersten, humanistischen Sprichwortgelehrten, wie Erasmus und Bebel, umgekehrt darum zu tun war, die mundartlichen Sprichwörter, deren Herkunft sie selten kannten oder mit deren mönchslateinischer Fassung sie nicht zufrieden waren, in klassisches Latein zurückzuübersetzen.
Neben den Predigern waren natürlich Spielleute und Theaterdichter Verbreiter von Sprichwörtern, meinetwegen auch deren Schöpfer. Und man achte darauf, wie heute noch, trotzdem so unendlich mehr gelesen wird als früher, Spruchweisheit so viel häufiger aus einem Theaterstück ins Volk dringt als aus einem Buche. Goethes köstliche »Sprüche in Prosa« werden nur von Gelehrten zitiert; der »Faust« hat hundert geflügelte Worte geschaffen. Die momentane gemeinsame Seelensituation, das gemeinsame Erlebnis eines starken Eindrucks durch ein gehörtes Wort ist in der Kirche und im Theater vorhanden; selbst in Volksversammlungen können neue sprichwörtliche Redensarten geprägt werden, wenn in erregten Zeiten anstatt der gewerbsmäßigen Schwätzer Redner aus neuen Schichten zu Worte kommen. Ich brauche nicht erst zu sagen, daß die Begriffe Sprichwort und Redensart nicht scharf zu trennen sind. Der zweite Grund dafür, daß Sprichwörter den Charakter eines Volkes nicht erkennen lassen, der Wandertrieb der Sprichwörter ist allen denen längst bekannt, die sich mit diesem Gegenstand ernstlich beschäftigt haben. Ich will diesen Wandertrieb die internationale Entlehnung von sprichwörtlichen[57] Redensarten hier nur an einigen Beispielen nachweisen, die auch ohne die Versicherung überzeugen dürften, daß sich die Zahl leicht verhundertfachen ließe. Zunächst einige Parallelen aus der deutschen und französischen Sprache (Sprichwörter gehören zum Sprachsatz); der Leser wird ja bei vielen an uralte Geschichtsanekdoten oder Fabeln erinnert werden., von denen sie herstammen; von der Bibel als gemeinsamer Sprichwortquelle gar nicht erst zu reden: durch seine Abwesenheit glänzen (briller par son absence); über die Achsel ansehen (regarder par dessus l'épaule); ein Stein des Anstoßes sein (être une pierre d'achoppement); teuer wie eine Apothekerrechnung (compte d'apothicaire); Ariadne-Faden; attisches Salz; die Augen größer als der Magen (les yeux plus grand que le ventre); Splitter und Balken (paille et poutre); mit dem linken Beine aufstehen (se lever du pied gauche); der Berg hat eine Maus geboren; er trinkt wie ein Loch (il boit comme un trou); Damokles-Schwert; Danaiden-Arbeit; dumm wie eine Gans (bête comme une oie); Ei des Columbus; geschwätzig wie eine Elster; das ist das Ende vom Lied (c'est la fin de la chanson); Esel in der Löwenhaut; den Faden verlieren; die letzte Feile (le dernier coup de lime); Öl ins Feuer gießen; mein kleiner Finger hat es mir gesagt; das fünfte Rad am Wagen; wie Hund und Katze leben; den Mond anbellen; der Punkt auf dem I; die Kastanien aus dem Feuer holen; sieht doch die Katze den Kaiser an (un chat regarde bien un evêque); der liebe Gott spielt Kegel (le bon Dieu joue aux boules); auf glühenden Kohlen sitzen; den Kopf verlieren, waschen, zerbrechen; Krokodilstränen weinen; Löwenanteil; gute Miene zum bösen Spiel machen; die Nase in alles stecken (fourrer son nez partout); aus der Not eine Tugend machen; die Ochsen hinter den Pflug spannen; nach der Palme ringen; eine Pferdearbeit; naß bis auf die Knochen; er hat das Pulver nicht erfunden; Ritter ohne Furcht und Tadel (chevalier sans peur et sans réproche); der Sandmann kommt (le marchand de säble qui passe); er folgt ihm wie sein Schatten; Schwanengesang; einen Stein auf jemand werfen; Tantalusqualen; von der Tarantel[58] gestochen werden; etwas wie seine Tasche kennen; der Teufel soll dich holen; ein armer Teufel; die Trauben hängen zu hoch; unter zwei Übeln das kleinste; frei wie der Vogel; die nackte Wahrheit; die Wände haben Ohren; alle Wege führen nach Rom; der Wolf in der Fabel; mit den Wölfen heulen; aus den Wolken fallen; das letzte Wort haben; der Zahn der Zeit; zwischen den Zeilen; Zeitungsente (c'est un canard).
Ich habe unter diese Stichproben sehr viele Redensarten aufgenommen, weil es mir scheinen will, als ob Redensarten sehr häufig abgekürzte Sprichwörter wären. Man schämt sich etwa, sehr bekannte Sprichwörter oder besonders Fabeln vollständig herzusagen, und erinnert an die Weisheit durch ein Schlagwort, das dann durch diese Gewohnheit prägnant wird. So gewinnt schon bei den Griechen (onos lyras) der Esel die Bedeutung eines amusischen Menschen, der Fuchs international die Bedeutung eines Schlaukopfs; »die Brücke kommt« heißt soviel wie: du lügst. Redensarten sind oft abgekürzte Sprichwörter, Sprichwörter oft abgekürzte Fabeln.
Die Männer, die am Ausgang des 15. und am Anfang des 16. Jahrh. Sprichwörter sammelten, verfolgten, wie gesagt, philologische Absichten, altphilologische. Was aus dem Altertum an Spruchweisheit mundartliche Form angenommen hatte, sollte den Gelehrten und den Schülern wieder in mustergültigem Latein, in anständiger Sprache also, zur Verfügung gestellt werden. Ein solches Schulbuch waren die zu Ende des 15. Jahrh. oft aufgelegten Proverbia Communia, aus denen Heinrich Bebel schöpfte, als er 1509 die Proverbia Germanica rein-lateinisch herausgab. Aus Bebels Buche (Ausgb. von Suringar) will ich nun einige Proben geben, ohne die Herkunft weiter zurückzuverfolgen; gründliche Belehrung findet man ja leicht ins Wanders großem deutschen Sprichwörter-Lexikon.
Mir ist es hier besonders darum zu tun, auf die individuell-künstlerische oder auch nur künstliche Form hinzuweisen, in welcher ein und dasselbe Sprichwort da und dort erscheint. Die Wortform in den französischen und deutschen Zitaten habe ich oft modernisiert, weil es mir auf die Orthographie[59] nicht ankommt. Die niederländische Gestalt, die in unserer Ausgabe fast niemals fehlt, werde ich nur selten abschreiben.
(2.) Wer viel redt, der lügt viel. Dyon. Cato: exigua bis tribuenda fides, qui multa loquuntur. Beda: in multiloquio non deerit peccatum. Brant: viel schwätzen ist selten ohn' Sünd'. Ferner: die Zunge, die man schwatzhaft fand, oft auch in Lügen ist gewandt usw.
(12.) Jedem Narren gefällt seine Kappe; cuilibet fatuo placet sua clava; Boner: die bischaft sî geseit dem Toren, der sin Kolben treit, der im ist lieber denn ein Rîch; Brant: kein Gut dem Narren in der Welt baß denn sein Kolb und Pfiff gefällt; Locherus: nil magis usque placet fatuo, nil dulce videtur quam baculus crispus, quam rustica fistula stulto.
(16.) Wenn der Schimpf (Spaß) am besten ist, soll man, aufhören; il fait bon laisser le jeu quand il est beau; wann am besten gehet das Spiel, ist aufzuhören das rechte Ziel; wann das Spiel am lustigsten ist, alsdann ist aufzuhören das best; ebenso vielfach mit wechelnden Reimen niederländisch.
(19.) Man soll das Eisen schmieden, solange es heiß ist; dum ferrum ignitum, cudendum est; Boner: dieweil das Eisen Hitz ist voll, vielbald man es dann schmieden soll; Reinardus: tundatur ferrum, dum novus ignis inest; ferner: wenn heiß das Eisen, muß man es schweißen; quand le fer est chaud on le doit battre; wann das Eisen gluhet sehr, so bringt der Schmied den Hammer her; ebenso oft niederdeutsch und niederländisch.
(27.) Der Krug geht so lange zum Brunnen bis er bricht; hydria tam diu ad fontem portatur, donec vel tandem frangatur; haurit aquas olla, sed frangit denique colla; zu Wasser ging so lang der Krug, bis daß er sich den Kopf zerschlug; tant va le pot à l'eau, qu'il brise; so lange gaet te water die cruuc dat si breect ende valt aen sticken (niederl. Reinaert des Vos); der Krug als lang zum Wasser geht, bis er zerbricht und nicht mehr steht usw.
(36.) International die Sprichwörter, nach denen lange Leute selten weise, rothaarige nicht ehrlich sind; der durch Volksweisheit festgehaltene, durch die bildende Kunst (Judas)[60] gepflegte Aberglaube von der Schlechtigkeit der Rothaarigen wurde meines Wissens erst durch die rothaarige Heldin eines Romans von Sue vernichtet; rotes Haar wurde Trumpf.
(44.) Ein schlechter Vogel, der das eigene Nest beschmutzt; Werdea: Nemo suae patriae confingat scandala, nidum defoedans proprium, pessima fertur avis; welcher sein eigen Nest bescheißt, billig ein böser Vogel heißt; Klosterspiegel: es ist ein böser Vogel, der in sein Nest hofiert, und doch tragen's die Mönche nicht aus dem Kloster.
(51.) Sage mir, mit wem du umgehst, und ich will dir sagen, wer du bist; Reimar: wir haben gehört viellange wohl, daß man den Mann bei seinen Gesellen dicke erkennen soll; kannst du einen nicht erraten, schau auf seinen Kameraden; willst du wissen, wer sei ein Mann, so siehe nur seine Gesellschaft an; dites-moi avec qui vous hantez, et je saurai comme vous vivez; niederl.: Seght ons met wie dat gy verkeert, So heb ik uwen aert geleert; Noscitur ex socio qui non cognoscitur ex se.
(55.) Besser einen Sperling in der Hand als eine Taube auf dem Dache; Reinardus: Una avis in laqueo plus valet octo vagis; Est avis in dextra melior quam quatuor extra; besser ein Vöglein in der Hand, als vier die fliegen über Land; usw.
(66.) Man soll den Dreck ungerührt lassen; je mehr man den Dreck rührt, je fester er stinkt; qui plus remue la merde plus puit; Stercus olet foetidum, quo plus vertendo movetur; ein Dreck je mehr er wird gerührt, je mehr er eim die Nasen rührt; und so häufig niederländisch.
(71.) Fällt der Himmel ein, so bleibt nirgends kein Topf ganz; die Redensart »wenn der Himmel einfällt« uralt; neu: wenn der Himmel einfällt, kriegen wir alle blaue Nachtmützen.
(82.) Alter schützt vor Torheit nicht; Menander: Oach hai triches poiousin hai leukai phronein; Alter hilft für Torheit nicht; die alten Toren die besten als man spricht.
(85.) Das Gras wachsen hören; surgentem auscultare avenam; écouter les aveines lever; ita sapiens quod gramina audit crescere; er hört das Gras wachsen, den Klee besonders.[61]
(91.) Des Herrn Auge macht das Pferd fett (feist); Werdea: Aristoteles fragt nicht ohne Sache (chose-cause), was ein Pferd sehr oder mehr fett mache. Er spricht: das Aug des Herrn, darumb seh der Herr selbst zu saim Pferde; Aristot. Oecon. L. I. c. 6: Kai to tou Persou apophthegma eu an ekoi ho men gar erôtêtheis ti malista hippon piainei, Ho tou despotou ophthalmos. ephê, ex visu domini fit pulchritudo caballi; Ein Herr seh selber auf sein Pferd, Will er daß es wol gefüttert werd; später aufs Rindvieh übertragen.
(133.) Das Alter ist auch eine Krankheit; findet sich bei Menander, Apollodoros, Terentius; schon bei Seneca sprichwörtlich: senectus insanabilis morbus est; Werdea: Pluribus ac variis morbis subjecta senectus cernitur, ac per se morbus et ipsa manet; Mancherlei und viel Krankheit dem Alter ist bereit, auch wird es nicht ohn Sach selber für ein Krankheit geacht; auch niederländisch.
(140.) Wer' s Glück hat, führt die Braut heim; bei Luther und Melanchthon; Cui fortuna favet, sponsa petita manet; Cui sors arridet, sponsae concumbit amicae; Dempt gelucke gunt, de geyt myt des bruyt to bedde.
(146.) Es ist bös, einem Hunde sein Bett zu machen (weil er sich, sagte die Magd, vor dem Niederlegen einigemal umdreht und man nicht weiß, wo der Kopf und wo der Schwanz liegen wird); Difficile est cani lectum sternere; Il est difficile de faire le lit d'un chien.
(194.) Macht geht vor Recht; bei Menander: hopou bia parestin, ouden ischyei nomos (oder ähnlich); Werdea: Juri ac justitiae praefertur saepe potestas; Gewalt geht oft für Recht; Gewalt geht vor Recht, das klagt manch armer Knecht.
(200.) Langes Haar, kurzer Sinn; die Frauen haben langes Haar und kurz Gemüte, das ist wahr; Renner: Kurzen Mut und langes Haar haben die Maide sonderbar; Werdea: Vestibus oblongis et sensibus abbreviatis Uti pro libitu femina quaeque solet; Kurze Sinn und lange Kleide tragen die Frauen und die Maide; Ist auch lang der Weiber Schurz, ist doch ihr Sinn und Treiben kurz.[62]
(202.) Hunger ist der beste Koch; Werdea: Esuries stomachi fertur cocus optimus esse; der Hunger ist der beste Koch geacht, dann von ihm wird kein Speis voracht; auch öfter niederländisch.
(206.) Armut sucht neue Wege; schon oft bei Griechen und Römern; Petronius: Mirabile quidem paupertatis ingenium, singularumque rerum quasdam artes fames edocuit; Neu Fünd kommen von armen Leuten; De tout s'avise à qui pain faut; Noid maect nauwe listen, usw.
(222.) Wenn man den Bogen zu hoch (straff) spannt, so bricht er; schon sprichwörtlich bei Lukianos und Phaidros; Durch Spannen allzu verwegen sprengt man den besten Bogen; Redditur invalidus, nimium si tenditur, arcus; Spannst du den Bogen zu straff, wird er allmählich ganz schlaff; L'arc toujours tendu se gâte.
(226.) Unter Blinden ist der Einäugige König; Borgne est roy entre aveugles; Strabus regnat inter coecos; schon: 'En tois topois tôn typhlôn ho lamôn basileuei (233.) Durch Schaden wird man klug; Werdea: Darnna solent homines data reddere providiores; Quae nocent docent; Aprés dommage chacun est sage; öfter niederländisch.
(241.) Stolpert doch ein Pferd mit vier Füßen; Wenn stolpert ein Vierbein mitunter, ist Fallen von Zweibein kein Wunder; Quadrupes in piano quandoque cadit pede sano; Un cheval a quatre pieds et si chet bien.
(252.) Wer gern tanzt, mag man leicht pfeifen; Sat facit indoctus fidicen saltare volenti; Ce qu'on faict de bon coeur, ne grève pas à l'heure; auch niederländisch.
(274.) Es kommt selten was Besseres nach; sehr alt; Tout va pis que devant.
(275.) Mit den Wölfen heulen; Franck: Wer bei den Wolfen sein will, der muß mit ihnen heulen; Consonus esto lupis, cum quibus esse cupis; Qui est avec les loups, il fault hurler; Willst du bei den Wölfen sein, stimm' in ihr Geheul mit ein.
(282.) Den Mantel nach dem Winde hängen; seit Plautus[63] bis auf die Gegenwart überall sehr häufig variiert; eine niederträchtige Weisheit.
(286.) Das Hemd ist näher als der Rock; La chemise est plus près que le pourpoinct; auch niederländisch.
(296.) Es flog ein Gans über den Rhein und kam als Gänserich wieder heim; die Tierspezies und Geographie wechseln; Bos bos dicetur, terris ubicunque videtur; Man treibt ein Farren gen Mompelier, kommt doch herwieder nur ein Stier; Führ noch so weit den Ochs herum, immer bleibt er Ochs und dumm; altfranzösisch: Qui chael vet à Rome, chin se revint; It catulus versus Romarn, canis inde reversus; Parisios stolidum si quis transmittit asellum; si fuit hie asimus, non ibi fiet equus; Ein Esel schick wohin du wilt, kein Hengst wird draus, der etwas gilt; Schick den Esel nach Oxford, nimmer wird ein Pferd er dort; Gaet sent een esel naer Parijs, Gy krijgt hem weder even wijs.
(302.) Sich selbst eine Rute binden; Reinardus: Saepe sui dorsum caesoris virga cecidit; Mancher bindet selbs ein Rut, die seinem Ars bald schaden tut; Viele binden von euch, lieben Kindern, selber sich die Rute auf den Hintern; Saepe suis manibus virgam puer ipse paravit, postea quae natibus sit toleranda suis; Franck: Die Rut hat er ihm selbs auf sein Ars gemacht.
(308.) Wer zu viel auf einmal will, erhält gar nichts (gewöhnlich französisch zitiert: Qui trop embrasse mal étreint); Qui tot concite tot pert; Amittit totum qui mittit ad omnia votum; Wer alles will gewinnen, dem alles wird entrinnen; auch niederländisch.
(312.) Jeder Hund auf seinem Mist für ander drei geherzer ist; sehr alt, erst vom Hahn, dann vom Hunde; Dessus son furnier se tient le chien fier; In terra domini furit acrior ira catelli; auch dänisch und niederländisch.
(317.) Gelegenheit macht Diebe; schon auf Menander zurückzuführen; Freidank: State machet manegen diep; Boner: Stund und Statt viel Diebe macht; altfranzösisch: Grant bandon[64] (Gestaltung) fait grant larron; Zeit, Ort und Gelegenheit Diebstahl fördern allezeit.
(323.) Ein Narr macht viel Narren; sehr verbreitet.
(324.) Es ist nicht alles Gold, was glänzt (früher: was da gleißt); Alanus ab Jns: Non teneas aurum totum, quod splendet ut aurum; Pf. Konrad: iz enist nicht alles gold, das da glizzit; Ce n'est pas or quant que reluit; Gar im Leben du erkennst, es ist nicht alles Gold, was glänzt; auch dänisch und niederländisch.
(333.) Es weiß keiner, wo den andern der Schuh drückt; Franck; Ein jeder weiß, wo ihn der Schuh druckt; schon bei Hieronymus, nach Plutarchos: Et hic soccus quem videtis, videtur vobis novus et elegans, sed nemo scit praeter me ubi me premat; auch bei Luther; Quanam parte premat me calceus, indue, disces; Wer den Schuh trägt, der weiß sein Tuck, wo er ihn am ärgsten druck; Wo mich zwickt und zwackt der Schuh, selber ich doch wissen tu.
(341.) Wer bauet an die Straßen, muß die Leute reden lassen; bei Luther und sonst sehr häufig: Wer an der Gassen bauet, der hat viel Meister; schon Sachsenspiegel: ich zimmere, so man säget, bei dem Wege, des muß ich manegen Meister han; Qui édifie en grand place, faict maison trop haute ou trop basse; Frischlin: Wenn einer an ein Straß bauen will, hat er der Widersacher viel; De Brune: Die aen den weghe bouwt of sticht, die wert van yder een bericht.
(347.) Wer Pech angreift, der besudelt sich (Jes. Sir. 13, I); Franck: Wer mit Pech oder Kohlen umgeht, der bescheißt sich leicht die Hand; Pix dum palpatur, palpando manus maculatur; Wer in dem Peche gern umprudelt, klag nicht, so er die Hand besudelt; Cats: Handelt gy't peck, Gy krijght een vieck; Van het peck, blijft een vieck.
(348.) Wem nicht zu raten ist, dem ist auch nicht zu helfen; schon bei Cicero, aber noch nicht sprichwörtlich; Melanchthon: Wem nicht stehet zu sagen, dem stehet nicht zu helfen; Ein Mann, dem nicht zu raten ist, wird geholfen zu keiner Frist.[65]
(360.) Die Natur zieht stärker denn sieben Ochsen (sprach der Abt, als er mit der Ursel allein war); Plus tire nature que cent chevaux: niederl.: Natuyr treckt meer dan seven paerden.
(363.) Wie gewonnen, so zerronnen; Plautus: Male partum, male disperit; bei Cicero schon sprichwörtlich: Male parta, male dilabuntur; Übel gewunnen, übel verschlungen; Quod male lucratur, male perditur et nihilatur; Merke das und fasse es zu Ohren, übel gewonnen, übel verloren; Conquest à gripes et à grapes s'en va à bafes et à bafes; oft niederl.
(367.) Unkraut vergeht nicht; ähnlich Erasmus: Malum vas non frangitur (nach: kakon angos ou klatai); Unkraut siehst du selten verderben, da sonst viel guter Krauter ersterben; Oncruyt en vergaet niet lichtelick; Mauvaise herbe croist soudain; Freidank: Unkraut wächst ohne Saat.
(373.) Ein Unglück kommt selten allein; schon Syrus: Fortuna obesse nulli contenta est semel: Burkhardt Waldis und Luther: Ein Unglück will nicht allein sein; Nulla calamitas sola; Un mal ne vient pas seul; Aprés perdre, on perd bien; De Brune: Gheen ongheluck en komt alleen, het wilt gezelschap, groot of kleen.
(380.) Soviel Köpfe, soviel Sinne; Franck: Wieviel Köpf, soviel Kröpf; bei Terentius, Persius, Quintilianus: Quot homines, tot sententiae; Tant de gens, tant des sens; De Brune: Zoo veel hoofden, zoo veel zinnen, ist niet buyten, 't is van binnen.
(382.) Qui cito dat, bis dat; wird bei uns immer lateinisch zitiert, wenn auch Kirchhofer anführt: Wer bald gibt, gibt doppelt; bei den Römern schon sprichwörtlich: Gratia quae tarda est, ingrata est, gratia namque quum fieri properat gratia grata magis (Ausonius); nach dem Epigramm: 'Ôkeiai charites glykerôterai ên de bradynê, pasa charis keneê, mêde legoito charis Freidank: Die Gabe ist zweier Gaben wert, der schiere gibt, eh man ihr gehrt; Qui tost donne, deux fois donne.
(390.) Eine Krähe hackt der andern kein Auge aus; bei Horatius, Seneca, Juvenalis als Gemeinplatz, noch nicht als Sprichwort; das Tier wechselt, früher häufig der Wolf: Quod lupus est lupulum, numquam prius est mihi visuni; Es ist nie[66] kommen in mein Wissen, daß ein Wolf den andern het gebissen; Daß ein Wolf das Wölflein frißt, nie gesehen worden ist; Kein Wolf vor einem Wolf erschrickt, kein Kräh der andern Aug auspickt; schwäbisch: Fürwahr ein seltsam Zeitung ist, wann ein Wolf den andern frißt.
(395.) Aus den Augen, aus dem Sinn, uralter Erfahrungssatz: Non sunt amici, amici qui degunt procul; genau nach: Têlou philoi naiontes ouk eisin philoi (Athen.); Longue demeurée fait changer amy.
(428.) Die kleinen Diebe hängt man, die großen läßt man laufen; uralter Erfahrungssatz, sonst noch schärfer gefaßt; schon bei Valer. Max. der Vergleich (nicht Sprichwort) der Gesetze mit einem Spinnennetz: die kleinen Tiere werden gefangen, die starken hindurchgelassen; geht auf Anacharsis zurück; auch bei Juvenalis und Seneca; Brant: Man henkt die kleinen Dieb allein, ein Brems nit in dem Spinnweb klebt, die kleinen Mücklein es behebt; Ce que truye forfaict, les pourceaux le comparent; Gros larron faict le petit prendre (pendre?); Kleine Diebe henkt man, vor großen zieht man den Hut ab! sagte der Bauer, als er vor dem Prälat das Kreuz machte.
(453.) Eigner Herd ist Goldes wert: schon bei den Griechen die Redensart: oikos philos, oikos aristos; Privata domus valet aurum.
(458.) Es fällt kein Baum auf den ersten Streich; früher: Beim ersten Streiche fällt keine Eiche; aber »Eiche« steht schon, ohne Reimnot, in der ältesten griechischen Fassung: Pollaisi plêgais drys stera damazetai; Au premier coup ne chiet pas l'arbre; On n' abat pas un chesne tout du premier coup; De Eyck, die vast ghewortelt Staat, de erste slagh niet neer en slaet.
(463.) Rom war nicht in einem Tage gebaut; Sancta die sola non ipsa Colonia facta; Rome ne fut pas faicte en un jour; Rom ward in einem Jahre nicht erbauet.
(475.) Ende gut, Alles gut; Freidank: Ich schelte nicht, was jemand tut, und machet er das Ende gut; La fin fait tout; Finis paimam habet; Si finis bonus est, totum laudabile tunc[67] est; Totum, si finis laude beatur; La tin loue l'oeuvre; überall häufig.
(480.) Es jagen nicht alle Hasen, die Hörner blasen; von Erasmus auf Varro und direkt auf Seneca zurückgeführt, der sagt, noch nicht sprichwörtlich: Personam malle quam faciem; Non est venator, quivis per cornua flator; Wer das Jagdhorn blasen kann, ist drum noch kein Jägersmann.
(485.) Gleich und gleich gesellt sich gern; so schon bei Franck; altgriech. Sprichwort: Jesus Sir. 13, 19: Cicero: Pares cum paribus veteri proverbio facillime congregantur; Macrobius: Similibus similia gaudent; Es ist nichts so gering und klein, es will bei seines gleichen sein; Gleich und gleich gesellt sich gern, sprach der Teufel zum Benediktiner.
(491.) Ein gut Wort findet eine gute Statt; Pred. Salom. 15, I; 25, 15; Bonne parole, bon lieu tient; Beda: Responsio mollis frangit iram; auch niederl. und skandinavisch; Gratum qui dat Ave, responsum ferto suave; Comme saluerez, resalué serez.
(515.) Geschenktem Gaul (Franck: Roß, Pferd) schau' nicht ins Maul; A cheval donné, ne faut point regarder en la gueule.
(540.) Viel Hunde sind des Hasen Tod; Burkh. Waldis: Zwen Hund sein stets des Hasen Tod.
(543.) Den Stall zumachen, wenn die Kuh heraus ist; Juvenalis 13, 129; Quandoquidem accepto claudenda est janua damno; Atart est luis clos, quant li chival en ist hors; Fermer l'estable quand les chevaux sont sortis; Wenn schon gestohlen ist das Roß, flickt man zu spät am Stall das Schloß.
(551.) Messer (Scheere, Gabel, Licht) sollen Kinder haben nicht; schon bei den Griechen die Redensart: Mê paidi tên machairan, Ne puero gladium; Werdea: E manibus pueri cultrum sapiens pater aufert; A l'enfant, au fol, au vilain oste le cousteau de la main.
(552.) Im Wein ist Wahrheit; schon griechisch: ton oinon ouk echein pêdalia; sodann häufig: en oinô alêtheia oder ähnlich; In vino veritas; Trunkener Mund redt aus Herzensgrund.[68]
(566.) Verbrennt Kind fürchtet das Feuer; Laesus ab igne puer timet illum postea semper; Immer scheut das Feuer die Katze, hat sie sich einst verbrannt die Tatze.
(580.) Die Gänse gehen überall barfuß; Brant: Wer sorget ob die Gans gehn blos, der hat kein Fried, Ruh, überall zu viel Sorg; Il est bien fol, qui veut les oyes ferrer; de Brune: Die zich met alle dingh wilt moeyen, die mach de gansen wel goen schoeyen.
(587.) Zwischen zwei Stühlen niedersitzen; dänisch: Mellom two Sthoolae faller Artz paa Jordhe; Entre deux selles le cul à terre; Saepe inter geminas podex petit ima cathedras; niederl.: Tusschen twee stoelen in d'asschen.
Ich brauche nicht noch einmal zu versichern, daß ich diese Liste, wollte ich Wanders »Deutsches Sprichwörter-Lexikon« zugrunde legen, ohne weitere Mühe verhundertfachen könnte.
Auch Anekdoten, Sentenzen, historische Scherzworte wandern von Volk zu Volk, von Jahrhundert zu Jahrhundert; man könnte fast von Seelenwanderung sprechen. Dem bekannten Buche von Hertslet (»Treppenwitz der Weltgeschichte«, 7. Aufl.) entnehme ich einige Beispiele.
Die Sage von Romulus, die schon Plutarchos verdächtig vorkam, weil sie sich so gut für die Bühne eigne, ist der von Kyros nachgebildet; daß Heroen von Tieren gesäugt worden sind, wird oft erzählt. Der Bericht von den drei Horatiern und Curiatiern ist ganz und gar einer griechischen Legende nacherzählt. (Die Fabel des Menenius Agrippa, die vom Magen und den Gliedern, ist wie so viele Fabeln altindisch, gehört also nicht in die historische Gruppe.) Die Geschichte von Curtius, den die Erde verschlang, stammt aus Phrygien. Die Kuhhaut der Königin Dido ist da und dort zu finden. Ebenso die Hirschkuh oder der Hirsch, der eine berühmte Quelle oder Furt gewiesen hat; man vergleiche die Gründung von Frankfurt a. M. durch Karl den Großen. Die Weiber von Weinsberg, das Rosenwunder der h. Elisabeth, der Graf von Gleichen, der Hund des Ritters Aubry de Montdidier, – lauter Wandersagen. Man erzählt von Heinrich IV., er habe zu einem Manne, der ihm zum[69] Verwechseln ähnlich sah, boshaft bemerkt: »Eh, compère, votre mère est-elle donc allée dans le Béarn?« (Wo Heinrichs Vater zuhause war.) Der Mann habe geantwortet: »Non, Sire, c'est mon père qui y demeura.« Die überaus witzige Antwort wurde lange vorher (nach Macrobius) dem Kaiser Augustus schon gegeben; und lange nachher wieder dem Herzog Karl August. Ebenso wird die sarkastische Bemerkung von Talleyrands Ende (»Je souffre comme un damné!« worauf einer erwidert »Déjà?«) von verschiedenen Kardinalen erzählt.
Der Scherz vom Ei des Kolumbus wurde vorher dem Baumeister Brunellesco nacherzählt. Der Eroberer, der beim Betreten des Landes strauchelt und es so deutet, daß er den Boden ergriffen habe (Cäsar: »Teneo te, Africa!«), wandert durch die Jahrhunderte der Geschichte; durch die Jahrhunderte der Kunstgeschichte: der Maler oder Bildhauer, der einen Mord begeht, um ein Modell für den Gekreuzigten zu erhalten. Endlich ist sogar das kühne Pamphlet, das von Moses, Christus und Mohamed als de tribus impostoribus redet, ein Wanderschlagwort, das vielleicht von Averrhoes herstammt.
Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten, Anekdoten, Fabeln und Legenden sind kleine Kunstformen der Sprache, deren Summe auch in unsern Kulturländern den einzigen geistigen Besitz der meisten Menschen ausmacht. Und diese kleinen Kunstformen wandern in ungleich großem Mengen, als diese wenigen Stichproben erkennen lassen, seit Urzeiten von Volk zu Volk. Gibt es doch sogar Ammenlieder, deren Wortlaut sich in hohes Altertum und in alte Sprachen zurückverfolgen läßt. Dabei habe ich die Hauptquelle der Redensarten, die den abendländischen Völkern durch Übersetzung gemeinsam ist und die für Religion und schlagfertige Weisheit eine gemeinsame Seelensituation hergestellt hat, gar nicht erwähnt oder doch nur ganz wenige Proben mitschlüpfen lassen: die Bibel. Wie die christliche Religion, so ist auch die Spruchweisheit der Bibel das ungeheuerste Beispiel einer Wanderung von Wortfolgen durch Lehnübersetzung. Dabei ist das Ansehen der Bibel so groß, ihre Wortfolgen werden so allgemein gleich dem Sonnenlicht für[70] Gemeingut gehalten, daß gerade in diesem Falle die Entlehnung dem Gläubigen gar nicht zum Bewußtsein kommt; Gottes Wort war ja nach Gottes Absicht auch für ihn bestimmt gewesen. Die Evangelisten hätten von ihren Übersetzern niemals eine Tantieme verlangt.
Die berufsethische Frage, in welchem Maße Kunstprodukte der Sprache, geformte Wortfolgen entlehnt werden dürfen, bekümmert uns hier auch ganz und gar nicht; auch in dieser Frage haben die Moden gewechselt, die wieder Nachahmungen waren wie alle Moden. Neuerdings herrscht die Sucht, Plagiate aufzuspüren, wieder sehr stark, was mit der Übertreibung des Begriffs vom geistigen Eigentum zusammenhängt. Frühere Zeiten dachten so unbefangen wie Moliere: »Je prends mon bien où je le trouve«; der weise Goethe, der niemals zu schüchtern zum Entlehnen war, ließ an die Spitze einiger von ihm selbst noch herausgegebenen Maximen den Satz stellen: »Alles Gescheite ist schon gedacht worden; man muß nur versuchen, es noch einmal zu denken.« Und sogar dieser, schon erwähnte Satz ist nur eine Verfeinerung eines Zitates aus Terentius: »Nullum est jam dictum, quod non dictum sit prius«. Goethe lehnt darum (Sprüche in Prosa Nr. 538) das alte Räuberwort des schlechten Gewissens ab: »Pereant, qui ante nos nostra dixerunt«; er fügt hinzu: »So wunderlich könnte nur derjenige sprechen, der sich einbildete, ein Autochthon zu sein.«
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