[71] Redensarten und Sprichwörter, Anekdoten und selbst historische Lebensläufe, Fabeln und Legenden, Volkslieder und Novellen, Religionen und Wissenschaften, unser gesamtes geistiges Eigentum ist nicht autochthon, ist nicht national, wandert durch die Jahrhunderte und die Jahrtausende von Volk zu Volk. Nur die Sprache eines Volkes, die doch nichts weiter ist als die Vorratskammer der wandernden Erbweisheit, soll national, soll autochthon sein. Ausnahmsweise, wenn Entlehnung oder Lehnübersetzung gar nicht zu übersehen ist, wird die Tatsache zugegeben;[71] sonst aber redet die Wissenschaft, blind und taub, von einer Verwandtschaft, wo nur immer eine Ähnlichkeit vorliegt oder vorzuliegen scheint. Und doch würden in allen Wörtern einer Sprache, wenn man sie nur weit genug zurückverfolgen könnte, Niederschläge von Redensarten und Sprichwörtern, von Fabeln und Anekdoten nachzuweisen sein, und wo das nicht der Fall wäre, zum mindesten Rückstände von alten Kenntnissen und alten Religionen, von altem Glauben also. Und doch ist eine Sprache in der psychologischen Wirklichkeit des allein sprechenden Individuums nichts weiter als das bereite Gedächtnis für die zugewanderten Erfahrungen der Menschheit.
Wie wandernde Menschen entweder ihr heimatliches Kleid in der Fremde beibehalten oder das fremde Kleid anlegen, so geht es auch den wandernden Worten; sie kommen in großen Scharen bald als Entlehnungen, bald als Lehnübersetzungen von einem Volke zum andern1. Die Entlehnungen lassen sich in drei Klassen einteilen; die erste Klasse umfaßt die Wörter, die zu der Wirtsprache ganz und gar übergegangen sind, so daß nur gelehrte Forschung die Herkunft noch erraten kann, übrigens, wie gesagt, lieber von Verwandtschaft redet als Entlehnung zugibt; als Lehnwörter anerkannt sind bei uns aus dieser Klasse z.B.: Kirsche, Pech, Ziegel. Der zweiten Klasse gehören die Worte an, die ganz volkstümlich geworden sind, aber irgendwie die ausländische Herkunft erkennen lassen, wie z.B.: Form, [72] Chaussee, Sauce. Der dritten Klasse gehört die stattliche Zahl der technischen Ausdrücke an, die aus den Sprachen der Wissenschaften und Künste noch nicht in die Gemeinsprache übergegangen sind; die meisten philosophischen Lehnwörter gehören hierher. Überall gibt es Übergänge zwischen diesen drei Klassen; auch die Begriffe Fremdwort und Lehnwort sind nicht scharf zu unterscheiden. Wäre es mir um klassifikatorische Arbeit zu tun, so könnte ich auch unter den Lehnübersetzungen viele Gruppen unterscheiden, je nachdem das Modellwort Silbe für Silbe übersetzt worden ist oder mit geringerer, mit größerer Freiheit; es wäre nicht schwer, die Lehnübersetzungen der Philosophie zu solchen Gruppen zu ordnen.
Mir aber handelt es sich darum, im bewußten Gegensatze zu der gegenwärtigen Sprachwissenschaft, die ungeheure Menge des Lehngutes vor Augen zu führen, und darum will ich jetzt daran gehen, eine kleine und beinahe flüchtige Sammlung von Lehnübersetzungen aus den beiden Kultursprachen vorzuführen, mit denen wir es in den Wortgeschichten der Philosophie zumeist zu tun haben werden: aus dem Lateinischen und aus dem Deutschen. Eine Aufzählung von Fremd- und Lehnwörtern beider Sprachen ist ja wohl nicht nötig; für die deutsche Sprache geben die Fremdwörterbücher eine genügende Vorstellung von der Masse des Lehngutes; und für die lateinische Sprache hat nach den Vorarbeiten von Curtius, Corssen und[73] Saalfeld der fleißige Weise (in seiner Preisschrift »Die griechischen Wörter im Latein«) Fremd- und Lehnwörter gesammelt. Zu den Entlehnungen gehören aber auch die Lehnübersetzungen, und von diesen ist viel zu wenig die Rede; auch von ihnen Jedoch gilt das Wort Hehns: »Viel entlehnt, viel gelernt«. Meine eigenen beiden kleinen Sammlungen sollen natürlich nur anregen, die Untersuchung weiter zu führen.
Für das Latein soll auch hier der Satz des Horatius nicht fehlen, der immer zitiert wird, wenn von Entlehnungen die Rede ist: Graecia capta ferum victorem cepit et artes intulit agresti Latio. Weise hat, trotzdem auch er natürlich sehr viele Ähnlichkeiten aus Urverwandtschaft erklärt, gegen 4000 griechische Fremd- und Lehnwörter im Latein gefunden. Von der erstaunlichen Menge der Lehnübersetzungen wird man sich nun eine Vorstellung machen können, wenn ich mich nur auf den Buchstaben A beschränke, um von der Menge der Lehnübersetzungen aus dem Griechischen eine Probe zu geben; die methodische Arbeit eines Fachmannes würde kaum weniger als 4000 Lehnübersetzungen aus dem Griechischen nachweisen können. Bei einigen Beispielen habe ich gleich angedeutet, daß das entsprechend.; deutsche Wort wieder eine Lehnübersetzung aus dem Lateinischen ist. Hier meine Probe:
Zu den ungefähr 8000 Lehnwörtern und Lehnübersetzungen rechne man noch die Wörter, deren Entlehnung in altrömische Zeit zurückreicht und deren Herkunft darum nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden kann; dann wird man ein Bild haben von dem ziffernmäßigen Verhältnisse des Lehngutes in der lateinischen Sprache; wird sich ein Bild machen können von der Entlehnung der Dinge und der Gedankendinge, die den Römern aus Griechenland gekommen waren; kein Gebiet der Kultur und der Sprache ist ohne diese Entlehnungen: Familienleben, Staatswesen, Religion und Kriegskunst, Kenntnis des Tier-, Pflanzen- und Mineralreichs, Wohnung, Kleidung und Nahrung, Handel und Verkehr, Wissenschaften und Künste, Spiele und Schulbetrieb, – die Bedeutung der Entlehnungen an Sachen und Worten ist immer unterschätzt worden, ist nicht zu überschätzen. Nicht ganz so eindeutig ist die innere Beziehung der lateinisch redenden Menschen zu der griechischen Sprache zu bestimmen. Eine kümmerliche Sprachwissenschaft und eine lächerliche Etymologie verhinderten auch nur eine klare Fragestellung; doch gab es schon im alten Rom zwei Parteien, von denen die eine die lateinische Sprache beinahe für eine griechische Mundart erklärte, von denen die andere wie mit modernem Nationalstolz alte Entlehnungen leugnete, neue Entlehnungen bekämpfte. Aus dieser zweiten Partei gingen die lateinischen Puristen hervor, deren bewußter Arbeit wir die meisten Lehnübersetzungen aus dem Griechischen verdanken.
Diese puristischen Neigungen sind nicht zu allen Zeiten der Römer gleich stark gewesen. Wir werden gut daran tun, wenn wir die innere Beziehung des Römers zu der griechischen Gastsprache deuten wollen, uns nicht an eine einzige Parallele aus der neuem Zeit zu halten. Das Verhältnis des Latein[78] zum Griechischen erinnert bald an die feindliche Invasion französischer Wörter in die deutsche und holländische Sprache, besonders im 17. Jahrhundert, bald doch wieder an die friedlichere, organischere Art, in der die englische Sprache (ihrem Wortschatze nach) halb französiert wurde. Ja sogar an das Verhältnis der altfranzösischen Sprache zum Vulgärlatein und dann wieder an das Verhältnis der neufranzösischen Sprache zum Gelehrten-Latein müßte erinnert werden.
Diese psychologischen Beziehungen der Menschen, welche eine bestimmte Muttersprache reden, zu der Sprache eines andern Volkes, aus der sie Sachen und Wörter entlehnen, sind den gegenwärtigen Sprachforschern ebenso bekannt wie mir, vielfach besser als mir, wo es sich gar z.B. um Entlehnungen des Neupersischen und Spanischen aus dem Arabischen, des Russischen aus dem Türkischen handelt. Aber niemand hat bisher aus diesen Beziehungen die Lehre gezogen, die grundstürzend wirken müßte auf unsere Auffassung vom Leben und von der Geschichte der Sprache. Man hat die Sprache einen Organismus genannt, und bildlich wenigstens hält man an dem Vergleiche mit einem Organismus fest; überall da, wo man immer noch von einer Verwandtschaft der Sprachen fabelt. Es gibt keine Verwandtschaft von Sprachen. Die Sprache ist kein Organismus. Wenn man vom Leben der Sprache spricht, soll man das Bewußtsein von der Kühnheit dieser Metapher nicht verlieren. Sprache ist eine Bewegung, die zum Zwecke der Mitteilung Zeichen hervorbringt. Die Teile der Sprache, die Wörter, gehören nur der psychologischen Wirklichkeit an, nicht der körperlichen. Nur bildlich darf man sagen, daß Wörter sich verbinden, daß ein Wort das andere erzeuge. Alle Wörter sind Bewegungen; man ahmt nur die Bewegungen der Volksgenossen lieber und leichter nach, als die Bewegungen der Fremden. Wörter sind keine Körper; weil aber die Wörter Zeichen für Sachen oder Sinneseindrücke sein sollen, darum sind die Menschen trotz ihres Widerwillens gegen die fremden Bewegungen, der sich Purismus nennt, immer wieder gezwungen gewesen, ihre Sprache durch Entlehnungen zu bereichern. Wie die Sprache nur [79] zwischen den Menschen entstanden ist und besteht, so sind die Sprachen zwischen den Völkern entstanden. Es gibt keine autochthonen Sprachen.
Die schöne Freude an dem blühenden Leben der eigenen Muttersprache, die nationale Selbsttäuschung hat seit alter Zeit zu den puristischen Bestrebungen geführt, die die eigene Sprache liebevoll wie ein Kind oder wie eine Blume vor schädlichen Einflüssen schützen wollen. In Rom gab es Puristen (Cäsar, Cicero) wie in dem Deutschland des Dreißigjährigen Krieges. Die Puristen kämpften mitunter, wenn sie Politiker waren, auch gegen die Entlehnung fremder Sachen und fremder Sitten; zumeist aber wandte sich ihr Zorn gegen die fremden Wörter, und sie mühten sich ab, die fremden Sprachen und Sitten und Gedanken wenigstens mit den Zeichen der Muttersprache auszudrücken. So entstanden zu allen Zeiten die Lehnübersetzungen, deren Bedeutung für die Wortgeschichte uns hier beschäftigt. Wer die Sprache ernstlich und wörtlich für einen Organismus hält, der mag bei den Lehnübersetzungen (alle Übersetzungen sind am letzten Ende Lehnübersetzungen) vielleicht gar an die Erscheinung des mimicry denken oder an den altern Aberglauben, daß schwangere Frauen sich an fremden Männern versehen können.
1 | Bei den Wanderungen der Völker ist es offenbarer als bei denen der Sprichwörter, der Lieder usw., daß der Wille einzelner Persönlichkeiten mittätig ist, insoweit von einem freien Willen überhaupt oder gar bei solchen Massenbewegungen und Moden die Rede sein kann. Auch bei den Lehnübersetzungen sollte man niemals ganz vergessen, daß nicht die abstrakten Sprachen, sondern lebendige Sprachschöpfer die Arbeit leisten. Es wäre einer Untersuchung wert, wie stark Campe bei seinen reinigenden Bemühungen. Lehnübersetzungen verwandt habe. Da scheint es mir nun sehr bemerkenswert, daß Goethe zwar nicht den von mir geformten Ausdruck gekannt hat, wohl aber die Sache; daß er mit klarem Bewußtsein Lehnübersetzungen benützt hat, wo Ersatz eines Fremdwortes ihm besser gefiel als eine weitläufige Umschreibung. Bekanntlich verfluchte Goethe den negativen Purismus; der produktive Purismus sollte eben davon ausgehen, ein entscheidendes Wort des Nachbars »heraus zu etymologisieren und zu formieren«. (»Maximen und Reflexionen« Nr. 980; dazu die handschriftliche Notiz, abgedruckt in der Ausgabe der Goethegesellschaft S. 373.) Die Franzosen haben von perche (Stange) das Verbum percher gebildet (sich auf die Stange setzen, unser »aufbäumen« scheint Goethe nicht gekannt zu haben), und Goethe bildet ebenso von Stange das Wort stängeln (aber Campe hatte schon »sich stengeln« als landschaftlichen Ausdruck gebucht). Und Goethe hat schon den vollkommenen Begriff der Lehnübersetzung, wenn er dazu (am 30. Juni 1813) an Riemer schreibt: »Eine fremde Sprache ist hauptsächlich dann zu beneiden, wenn sie mit einem Worte ausdrücken kann, was die andere umschreiben muß... Mir kömmt vor, man könne gar manches Wort auf diesem Wege gewinnen, wenn man nachsieht, woher es in jener Sprache stammt, und alsdann versucht, ob man aus denselben etymologischen Gründen durch ähnliche Ableitung zu demselben Worte gelangen könnte.« |
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