|
[124] So viel über die Prinzipien, die bei der Wortgeschichte überhaupt und besonders bei der Geschichte philosophischer Begriffe eingehalten werden müssen. Wäre die Geschichte eines philosophischen Begriffs in jeder seiner Anwendungen, im Sprachgebrauch jedes philosophischen Schriftstellers, genau zu übersehen, von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, so wäre die Kritik des gegenwärtigen Wortinhalts in der Geschichte des Begriffs schon mitenthalten. Eine solche vollständige Wortgeschichte müßte natürlich außer den sichtbaren Erscheinungen des Laut- und Bedeutungswandels auch bei jedem Schriftsteller den bewußten Willen im Gebrauche des Wortes buchen können. Wir werden aber (vgl. Artikel Geschichte)[124] erfahren, daß die Ergebnisse der Disziplin, welche sich Geschichtswissenschaft nennt, um so unsicherer, ja unwahrscheinlicher werden, je mehr sich der Bericht von einer bloßen Chronik äußerer Veränderungen entfernt, je mehr der Bericht sich einem Verständnisse der Helden der Geschichte, einem Eindringen in ihren psychologischen Willen zu nähern sucht; selbst wenn Eroberer oder Staatslenker ihre Motive einmal ausdrücklich ausgesprochen haben, ist dieser Äußerung nicht zu trauen, weil Lüge oder Fälschung gar wohl zu ihren Motiven oder Handlungen gehören konnte. Bei den Helden der Philosophiegeschichte läge die Sache an sich günstiger, weil Lüge oder Fälschung wohl der Beherrschung der Menschen dienen kann, niemals aber dem eigenen Fortschreiten in der Erkenntnis. Der psychologische Wille beim Wortgebrauch der großen Philosophen ist also in den Fällen mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erschließen, wo der Schriftsteller den Gebrauch eines bestimmten Wortes mit Bewußtsein geändert und seine Motive klar und bestimmt angegeben hat. Diese Fälle sind aber seltener, als man zu glauben geneigt ist. Ein scharfsinniger Universalkopf wie Leibniz konnte die Begriffe vieler Wissenschaften untersuchen, weil seine wertvolle Lebensarbeit gerade in der hohem Kritik der Vorstellungen und Begriffe bestand, die zu seiner Zeit Geltung hatten; der Begründer aller Sprachkritik, Locke, konnte grundsätzlich die Grenzen der Wortmacht aufzeigen, weil er als Engländer vom Nominalismus herkam und die Psychologie der Sprache zum Mittelpunkte seiner Lebensarbeit gemacht hatte. Horne Tooke, der Tapfere, dem von einigen sogar die Autorschaft der Junius-Briefe zugeschrieben wurde, hat nicht mit Unrecht gesagt, Locke hätte seinen Essay on human Understanding besser nennen können: A Grammatical Essay or a Treatise on Words, on Language. Aber die eigentlichen großen Philosophen, die den Menschen ein neues Weltbild schenkten, indem sie ihre ganze Geisteskraft einer besondern Gruppe von Erscheinungen oder Begriffen zuwandten, ihr ganzes inneres Licht in diesem einen Brennpunkte sammelten, – diese außerordentlichen Männer hatten[125] gar keine Zeit, den Stall des Augias zu reinigen, den gesamten Wortvorrat der Sprache, in der sie schrieben, vorher auf seine Brauchbarkeit zu prüfen. Sie nahmen das Erbteil ihres Volkes und der Menschheit, die Sprache, einfach cum beneficio inventarii an und bestritten die Kosten ihres Denkens von diesem Erbe, ohne sich viel um die Herkunft und um die Prägung und um die Schönheit der Wortmünzen zu bekümmern. Spinoza, Hume, Kant waren keine Historiker der Sprache; keine menschliche Geisteskraft ist groß genug, um zugleich die Architektur eines neuen Weltsystems zu schaffen und daneben die Kleinarbeit der Wortkritik zu leisten. Erwin von Steinbach hat die Steine für sein Münster nicht selbst bebauen können. Ich weiß, was man mir entgegenhalten kann.
So haben uns gerade die stärksten Philosophen, die Helden der Gedankengeschichte, der Mühe nicht enthoben, die Begriffe zu untersuchen, die sie unbesehen in ihren Sprachgebrauch aufgenommen und dem gegenwärtigen Sprachgebrauch überliefert haben. Die Arbeit muß immer wieder aufgenommen werden: zwischen brauchbaren Begriffen und Scheinbegriffen zu unterscheiden.
Was ist das: ein Scheinbegriff? Dieses Wörterbuch wird viele Begriffe, die in allgemeinem Ansehen stehen, als Scheinbegriffe denunzieren. An Beispielen fehlt es mir also nicht. Dennoch ist es nicht leicht, allgemein auszusprechen, wodurch sich ein brauchbarer Begriff von einem Scheinbegriffe, ein richtiger Begriff von einem falschen, ein lebendiger Begriff von einem toten unterscheide. Mit diesen Gegensatzpaaren habe ich schon einige Gründe der Schwierigkeit genannt. Der bloße Schein der Brauchbarkeit ist eben nicht immer aus der gleichen Ursache zu erklären. Und auch die Falschheit oder der Tod eines Begriffs ist nicht jedesmal so einfach festzustellen. Die Falschheit kann dem Begriffe von Anfang an angehaftet haben, kann aber auch im Verlaufe der Wortgeschichte entstanden sein, braucht nicht erst von einem wissenschaftlich und kritisch fortgeschrittenen Geschlechte erkannt worden sein; ein Begriff kann tot gewesen sein von Anfang, der Tod kann aber[126] auch nach kürzerem oder längerem Leben des Wortes eingetreten sein, unbemerkt für den Sprachgebrauch. Ganz scharf sind die Grenzen nicht zu ziehen, weil alle diese Begriffe relativ sind. Die Begriffe absolut und Phlogiston waren von Anfang falsch, weil eine genaue Aufmerksamkeit den Widerspruch mit den Tatsachen der Erfahrung von jeher hätte aufdecken können. Der Begriff Hexe wurde erst falsch, als der Begriff Teufel gestorben war; mit dem Scheinbegriff Teufel konnte das gottlose Weib keine fleischliche Verbindung mehr eingehen. Der Begriff Teufel wiederum war lange genug lebendig und starb erst, als die menschliche Erkenntnis sich überzeugt hatte, daß weder ein Teufel noch irgendwelche seiner Wirkungen in der Wirklichkeitswelt zu beobachten wären. Dem Tode verfallen sind aber noch ganz andere Begriffe als so ein Fabelwesen mit Hörnern und Klauen; die obersten Begriffe der Physik sind gezeichnet wie Bäume im Wald, die dem Beile des Holzhauers verfallen sind. Ein totgeborener Begriff scheint mir der der Imponderabilien gewesen zu sein.
Man hüte sich davor, Abstraktionen, besonders die dünnen Abstraktionen, im Verdachte zu haben, daß sie Scheinbegriffe seien. Dieser Versuchung unterliegen nicht nur Banausen; selbst Leibniz hat in der nominalistischen Stimmung, in der er die berühmte Vorrede zu einem Nizolius schrieb, allzu schnell scholastische und abstrakte Worte zugleich verurteilt. »Ein Philosoph nehme selten andere Dinge wahr als die übrigen Menschen; man solle beim genauen Philosophieren lieber konkrete Wörter gebrauchen als abstrakte; nur im exoterischen Vortrage haben abstrakte Wörter ihren Nutzen. Metaphysische Kunstwörter muß man wie Schlangen und Ottern fliehen. Lieber Populär- als Kunstworte! Sie sind wie das Rotwelsch.« Ich glaube, daß Leibniz wohl nur die bildkräftige Sprache empfehlen und vor den verblaßten Metaphern der philosophischen Kunstsprache warnen wollte. Der verblaßteste und leerste aller philosophischen Begriffe, der Begriff des Seins, ist darum noch lange kein Scheinbegriff. Ich muß nun aber den Hinweis etwas korrigieren, der besonders[127] tote und falsche Begriffe für Scheinbegriffe erklärte. Es bedarf keines Wortes, um klar zu machen, daß der Tod oder das Sterben von Begriffen ein bildlicher Ausdruck sei, hergenommen von der Vorstellung, die Sprache sei ein Organismus; es ist eigentlich ein schlechtes Bild, ganz schlecht die Anwendung auf die philosophischen Begriffe; auch darum schlecht, weil Begriffe (wie Teufel) für die Wissenschaft und für die gebildeten Kreise schon tot sein können, die in der Sprache weiter Volkskreise, die in der Gemeinsprache noch lustig fortleben; Begriffe gar wie Stoff und Ursache leben noch in der Sprache der Wissenschaft fort und tragen das Zeichen des Todes erst für kleine Denkergruppen. Und was nun die falschen Begriffe anbelangt, so werden wir lernen (vgl. Art. falsch), daß die Sprache mit feiner Unterscheidung nur Urteile gern falsch nennt, Begriffe also nur darum falsch nennen kann, weil in allen Begriffen Urteile versteckt sind; daß die Sprache dagegen das Wort Schein am liebsten auf täuschende Sinnesempfindungen anwendet. Deshalb hatte Herbart ganz recht, da er einmal sagte: »Dieser Schein, als Schein, hat Wahrheit; das Scheinen ist wahr. Nun liegt es im Begriff des Scheins, daß er nicht in Wahrheit das sei, was er scheint.« Man muß sich schon bewußt werden, daß auch Wörter und Worte nur Zeichen sein sollen, die Sinnesempfindungen Zeichen von etwas Seiendem sind, um jetzt zu verstehen, daß Begriffe nur falsch genannt werden, insofern sie ein unrichtiges Urteil mitenthalten, daß aber diese Begriffe Scheinbegriffe sind, falsche Vorstellungen erwecken, aber bei alledem doch sind.
Wenn nun der Ausdruck tote Begriffe bildlich ist und die Unbrauchbarkeit solcher Wörter im sogenannten Organismus der Sprache bedeutet, wenn also alle toten Begriffe im Grunde falsche Begriffe sind, wenn man den Ausdruck Schein gut nur auf Sinnesempfindungen anwendet, wenn die adjektivische Welt die Welt der ehrlichen, d.h. nur normal täuschenden Sinneseindrücke ist, wenn wir diese normalen Täuschungen (wie das Wahrnehmen von Tönen und Farben) niemals einen bloßen Schein zu nennen berechtigt sind: so gelangen wir auf diesem[128] Gedankenwege zu einer neuen Auffassung der Scheinbegriffe. Wir werden erfahren und es oft einprägen müssen, in immer neuer Form, daß unsere allezeit materialistische Sprache nur eine adjektivische Welt kennt, daß die substantivische Welt der Dinge eigentlich ganz und gar auf Hypothesen aufgebaut ist. Wir können diese dinglichen Hypothesen vorläufig, solange wir unsere Sprache sprechen, gar nicht entbehren; wir nennen die Realbegriffe, deren Individuen uns mit ihren adjektivischen Wirkungen umgeben, deren Individuen unsere Sinne wahrzunehmen scheinen, niemals Scheinbegriffe. Der Artbegriff Pferd läßt sich so wenig verifizieren wie der Artbegriff oder der Individualbegriff Teufel; doch die Wirkungen des angenommenen Dings Pferd, ja sogar die Wirkungen des Artbegriffs Pferd lassen sich verifizieren. Und so gehen auch von den hohem Begriffen, die darum keine Scheinbegriffe sind (Säugetier, Tier, Organismus, Körper), Wirkungen auf die unsrer Sprache allein zugängliche adjektivische Welt aus. Scheinbegriffe sind also substantivische Begriffe, von denen irgendwelche adjektivische Wirkungen nicht ausgehen.
Unsere Begriffskritik wird nachzuweisen haben, daß viele unserer philosophischen Begriffe solche Scheinbegriffe sind, substantivische Begriffe also, denen in der Wirklichkeit nichts entspricht (um es richtiger auszudrücken): wovon adjektivische Wirkungen nicht ausgehen; denn das ist ja eben die Gefahr der Scheinbegriffe, daß sie von keiner Realität abstrahiert sind, und dennoch sind, in der Sprache oder im Denken der Menschen sind, als Vorstellungen, und so, als Vorstellungen, Motive des Handelns werden können, sehr häufig zu Mord und Totschlag geführt haben (Religionskriege, Hexenverbrennungen), mitunter auch zu erfreulichen und nützlichen Handlungen. Die Zerstörung von Scheinbegriffen, die Aufdeckung ihrer Falschheit ist also nicht nur ein theoretisches Bedürfnis für die menschliche Erkenntnis, sondern in sehr vielen Fällen auch ein praktischer Vorteil, weshalb der Sprachkritiker es sich gefallen lassen muß und mag, zu den Aufklärern gerechnet zu werden. Bei seinem großen Geschäfte, das die Erlösung von dem Glauben[129] an die Sprache heißen kann, ist die Befreiung vom Aberglauben an die Scheinbegriffe immerhin ein guter Nebenerfolg.
Schopenhauer hat den Begriff der Scholastik auf die ganze Zeit von Augustinus bei Kant ausgedehnt wissen wollen (W. a. W. u. V. I. S. 500); wobei er freilich die antischolastischen Engländer rein vergessen hat. Seine Ausdehnung der scholastischen Zeit ist aber sonst nicht unberechtigt, wenn man alle Philosophie, die sich zur Theologie in das Verhältnis einer Magd stellt, Scholastik nennen will. Sieht man jedoch das Wesen der Scholastik in ihrer Knechtschaft unter den Worten des Aristoteles, in ihrem Wortaberglauben, der allen Scharfsinn ihrer besten Männer zu einer unfruchtbaren Begriffsspalterei verurteilte, der zwischen den höchsten Ideen, den abstraktesten Begriffen und Scheinbegriffen keinen eigentlichen Wertunterschied wahrnehmen ließ, – dann gibt es heute noch, auch unter den materialistischen Naturforschern und unter ihren energetischen Gegnern, lebendige Scholastiker, dann gibt es heute noch scholastische Begriffe (Stoff, Atom, Energie, Kraft, Form, Ursache usw.); und die Sprachkritik darf nicht müde werden, immer wieder die neuesten Scheinbegriffe zu bekämpfen, denen in der Wirklichkeitswelt nichts entspricht, von denen adjektivische Wirkungen nicht ausgehen, die aber trotzdem auf die psychologische Wirklichkeit des Denkens Einfluß haben. Die Sprachkritik darf nicht ermüden, trotzdem sie erkannt hat, daß die psychologische Macht der Scheinbegriffe nicht nur möglich, sondern notwendig ist durch das Wesen der Sprache: daß die Begriffe der Philosophie – weil die Philosophie dort anfängt, wo das Erfahrungswissen aufhört – in den höchsten Regionen oft schwanken müssen zwischen der Gefahr des Scheins und der Gefahr der alten Mystik.[130]
Buchempfehlung
Nach einem schmalen Band, den die Droste 1838 mit mäßigem Erfolg herausgab, erscheint 1844 bei Cotta ihre zweite und weit bedeutendere Lyrikausgabe. Die Ausgabe enthält ihre Heidebilder mit dem berühmten »Knaben im Moor«, die Balladen, darunter »Die Vergeltung« und neben vielen anderen die Gedichte »Am Turme« und »Das Spiegelbild«. Von dem Honorar für diese Ausgabe erwarb die Autorin ein idyllisches Weinbergshaus in Meersburg am Bodensee, wo sie vier Jahre später verstarb.
220 Seiten, 11.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro