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[94] Die äusseren Umstände, denen die Oper »Genoveva« ihre Entstehung verdankt, sind schon berührt worden. Die Handlung ist in kurzen Umrissen folgende:
Pfalzgraf Siegfried, den das Gebot Karl Martells in den Kampf gegen die Mauren nach Spanien ruft, lässt seine junge Gattin Genoveva unter der Hut seines Günstlings Golo zurück. Dieser, der schon vorher eine sträfliche Neigung zu seiner Gebieterin im Herzen trägt, wird von seiner Amme, der Zauberin Margarethe, noch weiter in seinen verbrecherischen Absichten bestärkt; er gesteht der ahnungslosen Herrin eines Abends seine Leidenschaft, wird aber alsbald mit Empörung zurückgewiesen. Auf Rache sinnend, weiss er schlau die gutgemeinten Absichten des treuen Dieners Drago auszunützen, der seiner Herrin die Kunde von dem beim Gesinde über ihre vermeintliche Untreue mit dem Kaplan verbreiteten Gerücht überbringt und sich, um das angebliche Stelldichein zu belauschen, im Schlafzimmer der Gräfin verbirgt. Die übermüthig gewordene Dienerschaar dringt in die Gemächer der Gräfin ein und tötet den entdeckten Drago, während Genoveva als Ehebrecherin in den Thurm geworfen wird.
Margarethe eilt dem heimkehrenden Grafen entgegen, Golo folgt ihr mit der Kunde von dem Geschehenen. Siegfried, dem Margarethens Zauberspiegel die ganze Begebenheit im Bilde vorgeführt hat, beauftragt Golo mit der Vollstreckung der Rache. Allein Margarethe muss, vom Geiste des ermordeten Drago angetrieben, ihr eigenes Werk zu nichte machen. Ihr Geständnis und das Eingreifen eines treuen Knechts verhindern im letzten Augenblick die Vollziehung des Urtheils. Siegfried eilt herbei und führt die Gattin im Triumph auf das Schloss zurück.
Die bei näherer Betrachtung sofort ins Auge springenden handgreiflichen Mängel des Textbuches, die ungenügende dramatische Motivirung der eigentlichen Höhepunkte, die sich nicht über das Niveau des Opernmässigen im landläufigen Sinn erhebende Charakterisirung der Hauptpersonen sind von Anfang an von der Kritik mit Recht erkannt worden.136 Schumann gedachte mit einem[95] der Romantik entnommenen Stoff sein Glück zu machen, aber gerade den Zug der Legende, dem sie auch in heutiger Zeit noch ihre poetische Wirkung verdankt, das siebenjährige Martyrium Genovevas mit dem kleinen Schmerzensreich und der Hirschkuh, musste er nothgedrungen fallen lassen. Was übrig blieb, war nicht viel mehr als eine Rittergeschichte mit dem verbrauchten Motiv der verfolgten und endlich doch siegreichen Unschuld. Der Stoff der Legende, der sich weit mehr zu epischer Behandlung geeignet hätte, war damit in den engen Rahmen eines Opernabends eingespannt. Die natürliche Folge davon war, dass die Charakteristik der Hauptpersonen empfindlich litt, eine Lücke, die auch die Musik Schumanns keineswegs auszufüllen vermochte. Am besten gelang dem Komponisten von »Frauenliebe und Leben« noch die musikalische Zeichnung seiner Heldin. Allein so innig auch alle ihre Gesänge empfunden sind, so sehr sie unser Mitleid wachzurufen im Stande wären, der Gedanke an Graf Siegfried, Golo und Margarethe, die drei Personen, denen Genoveva ihr Schicksal verdankt, raubt uns sofort jede Gefühlsillusion. Schon in der Dichtung mit einer sehr zweifelhaften Charakteristik bedacht, treten sie uns auch in der Komposition keineswegs glaubwürdiger entgegen. War aus Siegfried der ganzen Anlage des Buches gemäss auch in musikalischer Hinsicht nicht viel zu machen, so hätte ein geborener Dramatiker doch in den beiden Intriganten Golo und Margarethe Figuren schaffen können, die dem ganzen, rein musikalisch so hoch stehenden Werk ein längeres Leben hätten sichern können. Allein hier versagte Schumanns Genius. Margarethe weist zwar immerhin noch einige Züge geungener musikalischer Charakteristik auf, Golo dagegen, die treibende Kraft des Ganzen, bleibt musikalisch vollständig hinter dieser seiner Aufgabe zurück. Die beiden in seiner Brust sich bekämpfenden Gefühle, die verzehrende Leidenschaft und die Empfindung seiner Ritterehre, sind in der Musik auf denselben mittleren Ton herabgestimmt, der nur sehr selten etwas von der hinreissenden Gewalt der Leidenschaft auf den Hörer überträgt. Was an der ganzen Oper, und vollends bei Schumann, am meisten befremdet, ist der Mangel an rhythmischer Abwechslung. Er erweckt den Eindruck, als ob der Komponist sich auf einem ungewohnten Boden befände und darum vorsichtig mit der ihm sonst geläufigen Schreibweise zurückhielte. Denn die »Genoveva« auf Rechnung einer schon damals vorhandenen geistigen Abspannung Schumanns zu setzen, verbietet seine zu jener Zeit noch ungeschwächte schöpferische Thätigkeit, die der Welt im selben Jahre die Komposition des »Manfred« schenkte.
Sieht man von den dramatischen Unzulänglichkeiten ab, so bietet die Oper, rein musikalisch genommen, eine Reihe hervorragender Schönheiten. Auch sie ist eine reine Kunstschöpfung, wie alle Werke Schumanns, der die Wahrheit seines künstlerischen Empfindens nie durch die Rücksicht auf äussere Wirkung trüben lässt. Wenn er jeden Takt in diesem Werke »dramatisch« fand, so ist das ein Beweis dafür, wie gewissenhaft er seiner neuen Aufgabe gerecht zu werden suchte. Dass seiner Muse auf der Opernbühne keine Heimathstätte beschieden war, dass insbesondere gerade zur nämlichen Zeit Richard Wagner die Zügel der Herrschaft auf dem Gebiete des musikalischen Dramas an sich riss – alles das war nicht Schumanns Schuld. Von der »Peri« aus trat er an die »Genoveva« heran, und mehr als einmal fühlt man sich in der Oper an jenes schöne Werk erinnert. Insbesondere sind es die dort in der Erzählung verwandten Recitative ariosen Charakters, welche in der Oper durchweg die Stelle des eigentlichen Recitativs vertreten und den handelnden Personen damit[96] jenen verhängnissvollen epischen Zug verleihen, der der wirklich dramatischen Entfaltung ihrer Charaktere hindernd im Wege steht. Hand in Hand mit dieser Art von musikalischer Deklamation geht die selbständige Behandlung des Orchesters, das dem Prinzip nach durchaus in den von Wagner eröffneten Geleisen sich bewegt, ohne freilich Wagners virtuose Instrumentationskunst zu erreichen. Auch hier mangelt der belebende Gegensatz von Licht und Schatten. Dagegen ist die Ouvertüre ein durchaus werthvolles, die mittelalterliche Romantik aufs Glücklichste zum Ausdruck bringendes Tonstück.[97]
Weit näher als »Genoveva« steht unserem musikalisch-dramatischen Ideal die Manfred-Musik. Da Schumann hier mit Ausnahme der in knappstem Rahmen sich bewegenden Gesänge der Geister die melodramatische Form festhält, so bewegt er sich durchweg auf dem ihm vertrauten instrumentalen Boden. Er hat sich hier zu einer Höhe aufgeschwungen, die er vorher nur selten, später überhaupt nicht mehr erreicht hat. Die Ouvertüre ist sein bedeutendstes Orchesterwerk, sowohl was die Tiefe ihrer Gedanken, als auch ihre Verarbeitung und die äussere orchestrale Einkleidung anlangt; sie ist zugleich Schumanns »modernstes« Tonstück, denn sie vertritt in harmonischer wie in rhythmischer Hinsicht unter allen seinen Werken den am meisten fortgeschrittenen Standpunkt.137
Es ist nicht zu leugnen, dass die ganze geistige Sphäre, der die Dichtung entstammt, der musikalischen Komposition ein überaus günstiges Feld bietet. Die feinen psychologischen Fäden der Handlung, das zauberisch-romantische Beiwerk mussten gerade eine so durch und durch innerliche Natur wie Schumann mächtig anziehen. Er hat seine Aufgabe in einer für ihn überaus charakteristischen Weise gelöst. Er führt uns nicht wirkliche dramatisch belebte Bilder vor, sondern seine Musikstücke, vor Allem die melodramatischen, geben uns Kunde von dem inneren Eindruck, den er selbst von dem Gang des Gedichtes empfangen. Das Dichterwort selbst geht nur begleitend und ergänzend neben den Instrumentalstücken her. Es war dieselbe stark der Programm-Musik zuneigende Weise, der er auch in seinen Jugendwerken gehuldigt hatte. War damals ein jedes Klavierstück das Ergebniss einer bestimmten äusseren Herzensgeschichte gewesen, so kommentirt er hier nach seiner Art die psychologische Entwicklung des Byronschen Dramas. Dort war die Beziehung auf das äussere Erlebniss durch irgend[98] welche kabbalistische Spielerei oder durch die Hinzufügung einer »inneren Stimme« gegeben – hier ist diese Stimme diejenige des den Text sprechenden Schauspielers. Derjenige Hörer, der ihr gleichsam aus der Ferne lauscht und in dieser Verfassung die Musikstücke auf sich wirken lässt, wird von dem Werke den reinsten Genuss haben. Das in allen diesen Stücken auffallend reich und sorgfältig bedachte Orchester führt durchweg, auch den Chören gegenüber, den Vorrang.
War die Manfred-Musik in einem Zuge geschrieben, so dehnte sich die Komposition der »Scenen aus Goethe's Faust« über einen Zeitraum von nahezu 10 Jahren aus (1844–1853). Das Schicksal der Dichtung wiederholte sich somit im Kleinen bei der Komposition: unmerklich stellen sich im Verlaufe einer solch langen Spanne Zeit andere Anschauungen, andere Stimmungen in der Seele des Künstlers ein und vereiteln die Wiederaufnahme des Fadens da, wo er ihn fallen gelassen. Eine bunte Bilderreihe zieht an uns vorüber, im Einzelnen blendend, als Ganzes Stückwerk, worin überall die Fugen deutlich erkennbar sind. Zudem fällt die Komposition der spätesten Stücke, vor allem der Ouvertüre, bereits in eine Periode der Abspannung (1853), während die Schluss-Scene schon 1844, also unmittelbar nach der »Peri«, geschrieben ist.
Schumann hat im Ganzen 7 Scenen des Faust komponirt: einen Theil der ersten Gartenscene, die Scene Gretchens vor dem Bild der mater dolorosa, ihre Scene im Dom; ferner die erste Scene des II. Theils, die Scene der 4 grauen Weiber und Faust's Tod (letztere Scene abgekürzt). Den Schluss bildet die in sieben Abschnitte getheilte Komposition der letzten Scene des fünften Aktes (»Faust's Verklärung«). Die Auswahl ist sehr bezeichnend; der Hang zur mittelalterlichen Mystik und Romantik war auch hier ausschlaggebend. Die eigentlich dramatischen Motive der Handlung, Fausts unbefriedigter Wissensdrang und vollends das Eingreifen Mephistos bleiben durchweg im Hintergrund, das Hauptgewicht liegt auf den Stücken rein psychologischen bezw. romantisch-symbolischen Charakters. Schumann selbst bezeichnete überhaupt den Charakter der ganzen Komposition als einen »ruhigen, tief friedlichen«; der Wechsel der Tempi sollte überall ein »leise vorübergehender« sein.138 Die Faustscenen bilden somit zu der ihnen inhaltlich so nahe stehenden Manfred-Musik einen merkwürdigen Kontrast: dort grelle dramatische Accente und ausgesprochenes Streben nach seelischer Vertiefung und individualisirender Charakteristik, hier, mit Ausnahme der Szene der grauen Weiber und der Lemuren, ein sanftes, lyrisch-romantisches Dämmerlicht – der Reiz und die Schwäche zugleich des Ganzen. Sympathisch wirkt vor Allem die bis zur Selbstverleugnung gehende Pietät gegen Goethes Dichtung. Ihr verdanken wir den herrlichen Schlusstheil, in dem es Schumann wie Keinem gelungen ist, den mystischen Inhalt der Dichterworte nachzuempfinden und – mit Ausnahme des allerletzten Chores, dessen Komposition Schumann selbst als Schmerzenskind empfand, musikalisch wiederzugeben.139
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