24.

Unter den kleineren Kirchenstücken erwähne ich zunächst das Regina coeli. In zwei Compositionen desselben aus den Jahren 1771 und 1772 (28. 29) finden wir eine ganz übereinstimmende [514] Anlage und Behandlung. Die erste Zeile ist zu einem lebhaften Chorsatz verwendet, welchem der Refrain des überall eingeschalteten Alleluja Abwechslung giebt; die zweite ist in einem Satz von mäßiger Bewegung dargestellt, in welchem ein Sopransolo mit dem Chor abwechselt. Das ora pro nobis ist ein Adagio für den Solosopran, der in dem rasch bewegten Schlußsatz mit dem Chor das Alleluja anstimmt. Der Charakter des Ganzen ist, wie es die Textesworte an die Hand geben, lebhaft und heiter, fast fröhlich. Der Ausdruck einer solchen Stimmung neigte sich bei der damals herrschenden Richtung fast regelmäßig dem Glänzenden und Rauschenden zu und entlehnte seine Färbung von der Oper. Dies tritt vor Allem in der Behandlung der Solostimmen hervor, die sowohl in dem lebhaften als in dem langsamen Satz auf Virtuosität berechnet ist, allerdings auch in manchen Wendungen und Figuren opernhaft wird, obgleich die bestimmt ausgebildeten Formen der Oper hier keine Anwendung finden konnten. Auch brachte schon die Anwendung des Chors größere Freiheit und Reichhaltigkeit mit sich, und grade in den Chorstellen spricht sich auch die Natur des Componisten unbefangener und sicherer aus. Die frühere Composition in C-dur hat noch mehr von dem specifischen Charakter der Opera seria – der erste Chor ist in dieser Beziehung dem aus der großenB-dur Litanei verwandt –; die spätere in B-dur ist freier, namentlich sind die Stimmen, wenn gleich eigentlich contrapunktische Durchführung nirgend beabsichtigt wird, durchgängig selbständiger und lebendiger geführt, was auch von der Begleitung gilt. Uebrigens ist es erklärlich, daß die lebendige Heiterkeit, welche man hier verstattete, dem jugendlichen Sinn besonders zusagte, so daß namentlich die letzten Sätze recht frisch und belebt sind.

Weniger ausführlich angelegt ist ein drittes Regina Coeli [515] in C-dur (30) das für Chor allein gesetzt ist. Die oben bezeichneten Abschnitte sind auch hier kenntlich; allein da die Gliederung des Satzes nach den musikalischen Motiven fünftheilig ist, indem die beiden ersten Perioden nach der dritten wiederholt werden, so reicht der viertheilige Text nicht aus; es ist daher das sonst nur als Refrain auftretende Alleluja auch da als Text benutzt, wo die erste Periode wiederholt werden mußte1. Das Charakteristische erhält diese Composition durch die rauschende Sextolenfigur, welche in einer fast unausgesetzten Bewegung unter die Saiteninstrumente vertheilt ist; dabei sind die drei verschiedenen Motive besonders in den Singstimmen, die selbständig ihren Gang gehen, bestimmt charakterisirt. Die Leichtigkeit und Sicherheit, mit welcher der Satz hingeschrieben ist, läßt auf eine nicht zu frühe Entstehungszeit desselben schließen.

Der Unterschied in der Behandlungsweise, jenachdem eine Composition für eine Solostimme oder für den Chor bestimmt ist, zeigt sich auch in anderen für die Kirche bestimmten Sätzen. So ist die im Januar 1773 in Mailand für einen Solosopran componirte Motette Exultate, jubilate, o vos animae beatae (39) nach Art einer großen dramatischen Scene angelegt und in diesem Stil gehalten. Sie beginnt mit einem lang ausgeführten Allegro im Charakter einer seriosen Bravurarie mit Passagen, Trillern, Cadenz und allem Zubehör. Auf dieses folgt ein kurzes Recitativ und dann ein langsamer Satz im Dreivierteltact, der ungewöhnlich lang, im Ganzen aber einfach gehalten ist. Statt der Wiederholung des ersten Satzes tritt mit dem Alleluja ein [516] lebhafter Satz (2/4) ein, der glänzend und heiter seinem Charakter nach den Schlußsätzen desRegina Coeli zu vergleichen ist2.

Die kleineren Sätze für Chor sind bald einfach harmonisch bald freier oder strenger contrapunktisch gearbeitet. Zu jenen gehört das De Profundis, in welchem die Worte des Psalms 129 [l30] und der angehängten Dorologie grade durchcomponirt sind, mit wenig mehr rhythmischer Bewegung als die Declamation der Textesworte verlangt, und in sehr einfachen Harmonienfolgen, so daß man fast erstaunt, daß mit so geringfügigen Mitteln ein ganz bestimmt gegliedertes Kunstwerk hergestellt ist, das zwar nicht von tief ergreifender Wirkung ist, aber eine still ernste Stimmung auf ansprechende Weise ausdrückt3.

Lebhafter und bewegter ihrem Ausdruck nach und durch die freiere Stimmführung sind die beiden, der Handschrift nach in sehr frühe Zeit gehörigen SätzeBenedictus sit Deus und Jubilate Deo in C-dur (38)4. Eine eigentlich thematische Verarbeitung findet zwar nicht Statt, aber die Stimmen bewegen sich frei und selbständig und geben den Sätzen eine frische Lebendigkeit. Der zweite Satz hat dadurch einen [517] eigenthümlichen Charakter, daß als zweites Motiv ein Choralton (der achte Psalmton) eingeführt wird


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welchen die vier Chorstimmen einzeln nach einander zu einer figurirten Begleitung des Orchesters vortragen, worauf der volle Chor jedesmal mit einem lebhaften jubilate antwortet5.

Ungleich bedeutender in Anlage und Ausführung und zugleich durch die unlängst bekannt gewordene Entstehungsgeschichte von eigenthümlichem Interesse ist das Offertorium zum Feste Johannis des Täufers (41). Prof. Schafhäutl berichtet nach der Erzählung des Hofkapellorganisten Max Keller in Altötting, daß Mozart als Knabe in dem Benedictinerkloster Seeon häufig zum Besuch gewesen6 und einem Herrn von Haasy, im Kloster Pater Johannes genannt, sehr zugethan gewesen sei. Sobald er ins Kloster kam, sprang er auf seinen Freund zu, kletterte an ihm empor, streichelte ihm die Wangen und sang dazu


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[518] Diese Scene erregte große Heiterkeit und er wurde damit und mit seiner Melodie weidlich geneckt. Als das Namensfest des Paters Johannes herannahete, schickte ihm Mozart das Offertorium als Angebinde. Dasselbe beginnt in freudiger Regsamkeit mit den Worten7 inter natos mulierum non surrexit maior, dann tritt mit den Worten Ioanne Baptista die obige Melodie ein. Aber auch abgesehen von diesem liebenswürdigen Zuge eines kindlichen Gemüthes ist das Offertorium ein schönes Musikstück. Den mit natürlich freier Bewegung der Stimmen lebhaft ausgeführten Satz, durch welchen die schmeichelnde Melodie sich hindurchzieht, unterbricht zweimal mit den Worten ecce Agnus Dei qui tollit peccata mundi8 eine einfache, ernst und ruhig gehaltene Stelle, die sich aufs Schönste heraushebt. Durch das Alleluja, womit der Satz endigt, klingt auch zum Schluß wieder der freundliche Gruß hindurch.

Verwandt durch die Einfachheit in der Anlage und Behandlung, aber im Ausdruck ruhiger und milder sind die beiden Sätze Sancta Maria mater Dei (45), im September 1777 componirt, und Alma redemptoris mater (44), das nach der Reise, welche sich darin offenbart, wahrscheinlich nicht viel früher zu setzen ist. In beiden ist eine ernste, etwas weiche Stimmung sehr schön ausgesprochen und festgehalten; die leisen Nuancen und Schattirungen, welche dieselbe beleben, verrathen den Meister welcher auch durch leise Schwingungen das Gemüth in eine harmonische Bewegung [519] zu setzen und im Genuß des Schönen volle Befriedigung zu verleihen weiß. Nicht minder zeigt die Einfachheit der Mittel, welche er anwendet, die Sicherheit, mit welcher am rechten Fleck das Richtige geschieht, den bewußten Künstler; und manche harmonische Wendungen, kleine reizende Motive in der Begleitung würden genügen um Mozarts Individualität mit Sicherheit erkennen zu lassen.

Das Te Deum (33) ist in seinen ersten Sätzen manchen der kurzen Messen ähnlich; der Text ist grade durchcomponirt, ohne ein Thema durchzuführen und ohne bestimmte Figuren festzuhalten. Der wesentliche Charakter ist modulatorisch, der Zusammenhang beruht auf der Führung der Harmonie und der Verbindung harmonischer Gruppen, die Singstimmen sind ohne eine hervortretend melodiöse Eigenthümlichkeit mehr als die Träger der Harmonien behandelt. Nur der Schluß tritt aus dieser Weise heraus, indem die Worte in te Domine speravi, non confundar in aeternum zu einer regelmäßigen, aber nicht allzulangen Fuge verarbeitet sind, welche in einen kräftigen, harmonisch wirksamen Schluß ausgeht.

Durchaus contrapunktisch gearbeitet ist die Motette Misericordias Domini (43), die sicherlich eben dieselbe ist, welche von Mozart in München im Jahr 1775 als ein Probestück dieser Kunst componirt wurde9, und vom Padre Martini das Zeugniß erhielt, daß er in ihr Alles finde was die moderne Musik verlange, gute Harmonie, reiche Modulation, mäßige Bewegung in den Violinen, natürliche und gute Stimmführung (Beil. VI, 3). Mozart hat den Satz misericordias Domini cantabo in aeternum10 getheilt. Die ersten Worte [520] misericordias Domini werden in langsamen Noten vorgetragen, die zweite Hälfte in einem bewegten fugirten Satz, ohne daß das Tempo (Moderato), wechselt. Beide treten abwechselnd ein und werden eigenthümlich ausgeführt, der erste Satz besonders, indem er in langgehaltenen Noten der Singstimmen als Orgelpunkt auftritt gegen eine Figur der Geigen, was zu sehr frappanten harmonischen Wendungen und Uebergängen führt. Die contrapunktische Bearbeitung des zweiten Theiles ist kunstvoll und reich; außer dem Hauptthema des fugirten Satzes treten zwei andere aus demselben abgeleitete auf, die theils selbständig, theils mit dem Hauptthema und untereinander, auch in der Umkehrung, combinirt, verarbeitet werden; auch die Zwischensätze sind streng contrapunktisch gehalten. Ueber die Tüchtigkeit der contrapunktischen Arbeit ist das Urtheil wohl einig11; wenn Oulibicheff12 den künstlerischen Werth der ganzen Composition [521] vielleicht überschätzt, so ist dagegen Thibauts eben so sehr gegen Mozart als den in den Vordergrund geschobenen deutschen Text gerichtete Kritik in ihrem wesentlichen Punkt ungerecht13. Zugestanden wird ohne Bedenken daß die Zerlegung der grammatisch und logisch eng verbundenen Worte in zwei musikalisch scharf geschiedene und durch die Weise der Verarbeitung einander noch bestimmter gegenüber gestellte Perioden nicht mit den Gesetzen übereinstimmt, nach welchen der Gedanke durch die Sprache ausgedrückt wild. Allein da durch die musikalische Behandlung des in Worte gefaßten [522] Gedankens ein Neues hinzutritt, so ist soviel ohne Weiteres klar, daß für diese noch andere Normen in Betracht kommen als für die sprachliche Darstellung14. Die Frage, wieweit es dem Musiker zustehe die Gesetze seiner Kunst auf die Textesworte anzuwenden, und um den geistigen Inhalt derselben musikalisch auszudrücken die sprachliche Form wesentlich nur als den Ausgangspunkt zu betrachten um zur künstlerisch-musikalischen Form zu gelangen – die Frage nach dem Verhältniß des Textes und der Musik zu einander ist zu schwierig und zu weitgreifend um sie hier im Vorbeigehen abzuthun. Man fasse aber die Freiheit des Componisten weiter oder enger, so dürfen, da Sprache und Musik denselben Inhalt, nur von verschiedenen Seiten gefaßt, mit verschiedenen Mitteln und in verschiedenen Formen auszudrücken haben, beide einander nicht widersprechen. Da das gesprochene Wort durch die bestimmte verstandesmäßige Vorstellung für die Grundauffassung maßgebend ist, so ist es das Gebiet der Empfindungen, welche mit dieser Vorstellung in nothwendigem Zusammenhang stehen, in welchem der Musiker mit voller Freiheit [523] schaltet. Diese nach ihrer ganzen Tiefe und nach ihrem vollen Reichthum in den Formen auszudrücken, welche aus der Natur seiner Kunst hervorgehen, ist dem Componisten nicht allein unverwehrt, sondern es ist seine eigentliche Aufgabe. Daß er da durch mit dem was das Wort enthält nicht in Widerspruch trete ist nicht sowohl eine Schranke als vielmehr die Grundbedingung für seine schöpferische Thätigkeit. Ein Widerspruch aber entsteht nicht allein durch verfehlte Grundauffassung, sondern durch einseitiges Hervorheben einzelner Momente, welche dadurch aus dem Zusammenhang gerissen werden und dann das Verhältniß des Ganzen stören. Dies wäre hier der Fall, wenn die Vorstellungen von der Barmherzigkeit Gottes und von dem dieselbe preisenden Gesange in ihrem musikalischen Ausdruck als absolute Gegensätze gefaßt wären und mechanisch mit einander abwechselten, wie Thibaut dies andeutet. Dem ist aber nicht so. Von Jubel kann hier bei der Darstellung der Worte cantabo in aeternum gar nicht die Rede sein; die Motive wie die Art ihrer Verarbeitung drücken nur einen festen Entschluß und energischen Willen denselben zu bethätigen lebendig aus, die Stimmung aber, welche sich darin ausspricht, ist von Jubel, ja von Freudigkeit weit entfernt, sondern vielmehr ein Aufraffen aus einer gedrückten Empfindung und wir blicken in den Seelenzustand eines Menschen, der auch unter schweren Schicksalen und trüben Erfahrungen die Barmherzigkeit des Herrn zu preisen nicht ermüdet. Ganz wie Thibaut es verlangt ist also der Ausdruck des cantabo dadurch bestimmt, daß es die misericordias Domini zum Gegenstand hat; und diese Stimmung ist im Ganzen wie in den einzelnen Sätzen so übereinstimmend ausgesprochen und so consequent festgehalten, als die verschiedenen contrastirenden Motive musikalisch zu einem in sich einigen Kunstwerk gegliedert sind. Das [524] ist der Hauptpunkt, auf welchen es hier ankam. Ob derselbe Text steh nicht noch anders musikalisch darstellen lasse und zwar ohne eine solche Zweitheilung, ob dadurch noch eine freiere und großartigere Auffassung und Bewegung erreichbar sei: das sind Fragen, die in verschiedenem Sinn beantwortet werden können, jedenfalls über die Würdigung des vorliegenden Kunstwerks hinausgehen15.

Diese detaillirte Aufzählung der Mozartschen Kirchencompositionen aus dieser Periode, der zur Vollständigkeit freilich [525] noch Vieles fehlt, kann wenigstens hinreichen um einen Begriff zu geben, mit welchem Fleiß Mozart sich auf diesem Gebiet der verschiedenen Formen musikalischer Darstellung zu bemächtigen bestrebt war, und in welchem Grade die Leichtigkeit und Fruchtbarkeit seiner Production, die Sicherheit seines künstlerischen Tactes sich auch hier bewährte. Vergegenwärtigt man sich nun daneben seine Thätigkeit für die Oper, so wächst freilich das Erstaunen über den Reichthum vielseitiger und ihrer künstlerischen Bedeutung nach stetig sich steigernder Leistungen; auf der anderen Seite aber begreift man auch, wie bei so unausgesetzter Uebung aller musikalischen Kräfte jene merkwürdige Sicherheit in allem Technischen und Formellen erreicht werden konnte, die in so jungen Jahren selbst bei großem Genie überrascht; namentlich erklärt die fortwährende Beschäftigung mit der Kirchenmusik die Leichtigkeit, mit welcher die freieren Formen der Oper behandelt werden. Daß in beiden Zweigen der Composition die Entwickelung ziemlich gleichen Schritt hält läßt sich an sich schon annehmen, und auf manche bezeichnende Züge die dieses bestätigen ist hie und da hingewiesen worden. Eine genauere Vergleichung der einzelnen gleichzeitigen Compositionen auf verschiedenen Gebieten würde Belege für den gleichmäßigen Fortschritt dieser geistigen und technischen Entwickelung in hinreichender Anzahl liefern.

Hier mögen noch ein Paar allgemeine Bemerkungen in Betreff der Kirchenmusik eine Stelle finden. Die äußeren Verhältnisse, unter welchen sie entstanden, übten nicht allein auf die geistige Auffassung und die allgemeine Behandlung der Formen einen maßgebenden, zu verschiedenen Zeiten verschiedenen Einfluß aus, sondern sie bestimmten auch die materiellen Mittel der Ausführung. Mozart deutet in einem schon früher erwähnten Brief (4. Nov. 1777), indem er erklärt [526] in Manheim keine seiner Messen aufführen zu können, weil der Chor dort zu schlecht sei und man hauptsächlich für das Orchester schreiben müsse, darauf hin, daß in Salzburg bei der Kirchenmusik hauptsächlich auf den Chor gerechnet worden sei. Dies bestätigen auch die Compositionen selbst, deren eigentlichen Kern die Chorpartien bilden; soll diesen ihr Recht widerfahren und die beabsichtigte Wirkung des Ganzen zur Geltung kommen, so ist ein wohlbesetzter und wohlgeschulter Chor erforderlich. Dieser stand Mozart zu Gebot, da wie wir sahen die angestellten Kirchensänger und die Kapellknaben mit Sorgfalt für die kunstmäßige Uebung des Gesangs ausgebildet waren und in beständiger Uebung gehalten wurden und daher auch bei geringerer Zahl eine ungleich größere Wirkung erreichten als ein viel zahlreicherer aus ungeschulten Sängern gebildeter Chor. Mozart hatte selbst eine tüchtige Gesangsschule durchgemacht. Schon als Knabe überraschte er bei seiner zarten Stimme durch gute Methode und richtigen Vortrag16; später verlor er während des Aufenthalts in Italien zwar beim Mutiren seine Stimme17, allein der fortwährende Verkehr mit kunstgemäß gebildeten [527] Sängern ließ ihn diesen Mangel nicht empfinden, so weit es auf genaue Kenntniß der Stimme und ihrer Behandlung, als die nothwendige Grundlage der wahren durch Gesang zu erzielenden Wirkung, ankam. In allen Kirchencompositionen, auch wo Anlage und Behandlung sehr einfach ist, finden wir in den Chorpartien nicht allein fließende und sangbare Stimmführung im Allgemeinen, sondern Sinn und Geschick für das charakteristisch Wirksame der verschiedenen Stimmen nach den verschiedenen Tonlagen, und bei einiger Aufmerksamkeit wird man überall wahrnehmen, wie auf die einfachste Weise durch einsichtige Benutzung der Stimmlage bedeutsame Momente hervorgehoben und überhaupt Licht und Schatten vertheilt ist. Weit entfernt ohne Noth dem Sänger Schwierigkeit zu machen ist Mozart überall darauf bedacht, jede Stimme für die Ausführung leicht und bequem zu setzen, in der richtigen Erwägung daß hierauf wesentlich der sichere Erfolg beruhe; nichts desto weniger ist überall wohl zu erkennen, daß er auf kunstmäßig gebildete Sänger rechnete. Wo die künstlerische Intention es erfordert, muthet er auch den Choristen im Treffen der Intervalle, in der Reinheit des Intonirens bei schwierigen Harmonienführungen – in chromatischen Gängen, enharmonischen Verwechslungen –, in Kehlfertigkeit und Volubilität nicht Geringes zu, und verlangt vor Allem den verständigen Vortrag eines Sängers, der sich bewußt ist worauf es ankommt. Bei genauerer Prüfung aber wird man auch hier wahrnehmen, daß das richtige Verhältniß zwischen Mittel und Zweck stets beobachtet ist und man wird inne werden, wie bewunderungswürdig Mozart[528] auch bei der Behandlung der Singstimmen die genaueste Kenntniß des Materiellen mit dem lebendigsten Gefühl für die idealen Forderungen der Kunst zur Darstellung des Schönen zu vereinigen wußte.

Die Behandlung der Solostimmen, wo sie virtuosen, hast verwendet werden, ist von der damals allgemein üblichen, durch die Oper ausgebildeten, nicht verschieden. Wir sehen daß Frau Haydn und Meißner, die wir als Solisten hauptsächlich kennen lernen18, eine nicht verächtliche virtuosenmäßige Bildung besaßen, allein es waren nicht durch Stimme und Gesangskunst so außerordentliche Erscheinungen, daß sie neue und eigenthümliche Schöpfungen hervorgerufen hätten. Wo die Solostimmen aber nicht virtuosenmäßig behandelt sind, treten sie vor den Chorpartien nicht wesentlich hervor, sondern sind im Ganzen in derselben Weise wie diese gehalten.

Bestimmter stellen steh die Beschränkungen des Orchesters heraus. Die Orgel, als das eigentliche Instrument der Kirche, begleitete unausgesetzt den Gesang; in allen Kirchencompositionen ist daher die Baßstimme sorgfältig beziffert – was mitunter von der Hand des Vaters geschehen ist –; obligat ist sie nur selten angewendet, und dann in Sätzen von mehr weichem Charakter – wie Benedictus (13), Agnus Dei (17), Laudate Dominum (25) – demgemäß auch zwar nicht klaviermäßig passagenhaft, aber in freierem leichten Stil behandelt. Der Orgel zur Seite stehen die Posaunen, welche wesentlich zur Unterstützung des Chors dienen. Nach einer alten Ueberlieferung blasen drei Posaunen [529] in den Tuttisätzen durchgehends mit den drei unteren Stimmen des Chors im Einklang; dies ist so bestimmte Regel, daß in der Partitur meistens die Posaunen gar nicht angemerkt werden, sondern nur an einzelnen Stellen, die dadurch hervorgehoben werden sollen daß die Posaunen schweigen, ist dieses und also auch nachher angegeben, wann sie wieder eintreten sollen. Die läßliche Art, wie mit diesen Angaben in den Partituren verfahren wird, weist darauf hin, daß eine feste Praxis ein genaueres Verfahren unnöthig machte. Für uns ist das Vorherrschen der Blechinstrumente in dieser Weise – denn die moderne Instrumentation sucht uns an eine ganz andere Art von Ueberfluß derselben zu gewöhnen – um so befremdlicher, als in dem Chor der drei Posaunen die Sopranstimme unvertreten bleibt19, also eine große Ungleichheit entsteht; man war aber an diesen Charakter der Tonwirkung gewöhnt und mochte ihn in der Kirche nicht missen. Selbständig, ohne daß sie mit den Singstimmen gehen, finden wir die Posaunen von Mozart nur sehr selten und in der einfachsten Weise benutzt20.

Als das selbständige Orchester galten hauptsächlich nur die Saiteninstrumente, und zwar meistens nur zwei [530] Violinen und Baß; die Bratschen verstärkten in der Regel den Baß (wo sie denn in der Partitur gar nicht geschrieben werden), und dieser war mit seltenen Ausnahmen mit dem Orgelbaß gleichlautend. Die instrumentale Wirkung beruhte also darauf daß die Geigen sich in eigenthümlicher Weise geltend machen konnten. Um gegen den Chor mit Posaunen und Orgel in einem für den Klang der Saiteninstrumente ungünstigen Raum durchzudringen wurden sie so stark als möglich besetzt; die Bläser der Kapelle, welche als solche nicht gebraucht wurden, traten, da sie alle auch ein Saiteninstrument spielen mußten, dann bei diesen ein. Diesen Umständen ist auch die Behandlung der Saiteninstrumente angepaßt. Wo die Geigen nicht mit den Singstimmen gehen, wird dafür gesorgt durch die Art und Lage der Figuren, daß sie sich gehörig geltend machen können; nicht selten läßt man sie, um eine Figur recht herauszuheben, im Einklang spielen. Daraus erklärt es steh, wie die Vorliebe für laufende, rauschende Geigenfiguren, die oft an steh wenig Bedeutung haben, aber dem Chor gegenüber durchdringen und einen Schein von Fülle hervorbringen, herrschend werden konnte. Als eine höhere künstlerische Aufgabe ergab es sich, wenn die Geigen in dieser Art dem Chor gegenüberstanden, ihnen einen wirklich selbständigen Charakter zu verleihen und sie ihre eigenen Motive durchführen zu lassen, entweder einstimmig nur im Gegensatz zum Chor, oder kunstreicher so daß die beiden Stimmen in selbständiger Haltung die ihnen zugewiesenen Motive verarbeiten. In fast allen Mozartschen Messen findet sich wenigstens in einzelnen Stellen das Bestreben die Saiteninstrumente auch in diesem beschränkten Rahmen selbständig zu behandeln; am consequentesten und schönsten ist es in der F-dur Messe (8) durchgeführt. Wo der Bratsche eine eigene Stimme gegeben ist, machen auch die Bedingungen des vierstimmigen [531] Satzes, sowohl beim Anschluß an die Chorstimmen, als auch wo die Begleitung selbständig ist, sich geltend; die Behandlung der Saiteninstrumente pflegt daher in diesen Fällen angemessen modificirt zu werden. Daß überhaupt bei wachsender Reise des Künstlers auch die Saiteninstrumente freier, bedeutender und mit sorgfältigerer Erwägung der eigenthümlichen Klangwirkungen angewendet werden, ist im Vorigen nicht unbemerkt geblieben. Um die letzteren zu variiren, werden mitunter Dämpfer angebracht, seltener dasPizzicato.

Neben den Saiteninstrumenten wurden fast regelmäßig Trompeten und Pauken gebraucht, deren man bei einem feierlichen Hochamt nicht gern entbehrte. Zum Theil war dieser häufige Gebrauch der Trompeten, wie der Posaunen, wohl in einer Anwendung biblischer Stellen begründet, welche vom Gebrauch solcher Instrumente beim jüdischen Gottes dienst reden, zum Theil lag er in der Stellung, welche die sorgfältig gepflegte und reich besetzte Trompetenmusik damals bei allen Hoffestlichkeiten einnahm, so daß man, was der anerkannte Ausdruck des festlichen Glanzes war, auch bei den kirchlichen Festen nicht missen wollte. In Salzburg wurden zwei Trompeterchöre gehalten, jedes aus 6 Trompetern und einem Pauker bestehend; sie wurden in der Kirche auf den beiden Seitenorgeln (S. 447) aufgestellt. In zwei Messen (6. 7) hat Mozart außer den beiden üblichen Trompeten, die mit dem Namen Clarini bezeichnet sind, noch Trombe angewendet. Diese haben nur die beiden Töne c und g zu blasen und verstärken meistens schmetternd die Pauken; es sind eigentliche Feld- und Militärtrompeten.

Von anderen Blasinstrumenten wurden der oben erwähnten Nachricht21 zufolge »die Oboe und Querflöte selten, das [532] Waldhorn aber niemals in der Domkirche gehört.« Von dieser Strenge wurde freilich in späteren Jahren nachgelassen, allein bis zuletzt bleibt es die Oboe, welche entweder allein oder doch als das vorherrschende Blasinstrument angewendet wird, meistens nur um die Singstimme zu unterstützen oder die Harmonie zu verstärken; erst später und ausnahmsweise tritt die Oboe in selbständiger Weise ihrer instrumentalen Eigenthümlichkeit gemäß hervor. Dies konnte auch erst dann wirksam geschehen, seit dem sie unter mehreren zusammenwirkenden Blasinstrumenten verschiedener Art ihren Platz erhielt. Die Flöten wurden nur als Stellvertreter der Oboen, und auch nur selten, in sanften Sätzen gebraucht; Clarinetten hatte man in Salzburg gar nicht. Fagotts waren zwar im Gebrauch, allein sie dienten in der Regel nur zur Verstärkung des Basses; meistens werden sie daher auch gar nicht in die Partitur aufgenommen, sondern nur an einzelnen Stellen, wo sie, ähnlich wie die Violoncelli, eine selbständige Bewegung in beschränktem Maaß erhalten, wird dies angedeutet. Dann findet man sie auch mit den Bratschen vereinigt, welche in der älteren Behandlung des Orchesters nicht selten mit den Blasinstrumenten zusammengestellt werden, um die Harmonie zu vervollständigen; hierin werden sie von den Fagotts unterstützt, welche sich allmählich von ihnen ablösen und anfangen diese Stellung bei den Blasinstrumenten selbständig einzunehmen. Von dem vielseitigen Gebrauch, welchen Mozart nachher in seinem Orchester vom Fagott machte, zeigen sich hier erst spät namentlich in der Litanei in Es dur (23) die Spuren. Hörner werden von Mozart mehrfach angewendet; anfangs halten sie sich meistens nahe zu den Trompeten, verstärken sie oder wechseln mit ihnen ab, allmählich zeigt sich auch in ihrer Behandlung mehr Selbständigkeit und zuerst namentlich in der wirkungsreichen Anwendung der gehaltenen [533] Töne Aufmerksamkeit auf die eigenthümlichen Klangeffecte dieses Instruments. Die freiere Behandlung und Gruppirung der Blasinstrumente den Saiteninstrumenten gegenüber, worauf der Bau des modernen Orchesters gegründet ist, kam in der Kirche erst durch den Einfluß der Oper zur Geltung. Es ist daher vorauszusetzen, daß diejenigen Stücke, welche überhaupt freier behandelt wurden als die Messe und der Oper näher standen, auch in dieser Hinsicht die Bahn brachen. So ist es auch; die beiden letzten Litaneien stehen rücksichtlich der Behandlung des Orchesters, sowohl was die sorgfältige Ausarbeitung überhaupt als die reifere und freiere Ausstattung mit Blasinstrumenten anlangt, den gleichzeitigen Opern keineswegs nach, und die letzte verwendet nicht allein, wie diese, obligate Soloinstrumente, sondern in mehreren Abschnitten derselben ist die Behandlung des Orchesters durch die Vereinigung mehrerer Blasinstrumente von verschiedenen Klangfarben zu einem Chor und die Combinationen derselben unter sich und mit den Saiteninstrumenten schon ganz auf den Standpunkt der modernen Instrumentation gebracht.

Wenn sich bei dieser Betrachtung der Jugendarbeiten Mozarts die Frage aufdrängt, welche Meister er vorzüglich studirt habe, so kann man dieselbe leider nur sehr ungenügend beantworten. Was gewöhnlich so im Allgemeinen von einem fleißigen Studium Bachs, Händels und der italiänischen Meister gesagt wird, gründet sich weder auf Ueberlieferungen noch Gründe und ist nicht einmal wahrscheinlich, wenn man es von einem umfassenden und eingehenden Studium versteht, das auf seine Arbeiten von nachhaltigem Einfluß gewesen wäre22. Es war in Salzburg schwerlich viel Gelegenheit [534] derartige Studien zu machen. Vergegenwärtigt man sich nur die Thätigkeit und Fruchtbarkeit der Salzburger Componisten, so ist es schon nicht wahrscheinlich, daß außer ihren Compositionen so gar viele fremde aufgeführt worden sind, und bei den Schwierigkeiten, welchen damals die Verbreitung der Musikalien unterlag, die ja fast nur in Abschriften circulirten, ist kaum anzunehmen, daß man das, was für das praktische Bedürfniß und für das Studium etwa noch gebraucht wurde, weit hergeholt habe. Daß Mozart die tüchtigen Componisten Salzburgs Eberlin, Mich. Haydn, Adlgasser hoch schätzte und sie ernsthaft studirte, ist uns bereits bekannt geworden, und wahrscheinlich sind sie und vielleicht noch einige andere damals besonders in Ansehen stehende Meister diejenigen, an welchen Mozart unter der Anleitung seines Vaters seine Studien machte. Daß er von Sebast. Bach23 etwas anderes gekannt habe, als Klavier und Orgelcompositionen [535] ist gar nicht anzunehmen; gedruckt war wenig von ihm und sein Einfluß beschränkte sich hauptsächlich auf Norddeutschland. Seine Kirchencompositionen waren selbst im engeren Kreis der Schule nur zum geringen Theil verbreitet; es ist bekannt, daß Mozart Bachs achtstimmige Motetten erst 1789 in Leipzig kennen lernte und überrascht durch die ihm bis dahin unbekannte Größe des Mannes wurde24. Eine Composition Händels, welche er in Manheim aufführen hörte, erwähnt er in einer Weise, die nicht eben ein sehr lebhaftes Interesse für ihn verräth25, wenn er auch manche seiner kleineren Werke kennen mochte26; auch ist in seinen Compositionen dieser Zeit kein Einfluß Händels bemerkbar, während dieser in der Zeit seines Wiener Aufenthaltes, wo er durch van Swieten wie wir wissen Händel kennen lernte, unverkennbar hervortritt27. Bedeutender mag wohl der Einfluß italiänischer Meister gewesen sein. Zwar daß in [536] Salzburg die Musik älterer italiänischer Componisten viel aufgeführt worden sei, läßt steh mit Grund bezweifeln; Leop. Mozart berichtet einmal von der Aufführung eines Werks von Lotti, das ihm unbekannt war und so, daß man sieht, so etwas war dort eine seltene Erscheinung28. Allein schon der wiederholte Aufenthalt in Italien mußte zu einer näheren Bekanntschaft mit italiänischen Meistern führen; es läßt sich erwarten daß Leop. Mozart jede für die künstlerische Ausbildung seines Sohnes günstige Gelegenheit benutzte – und ein Jüngling von Mozarts Genie lernte rasch und wußte auch im Fluge zu erkennen und zu erfassen was ihm frommen konnte –, und daß er manches zu künftigem Gebrauch aus Italien mit nach Hause brachte, wie wir dies von Compositionen des Padre Martini wissen29. Aber nach welcher Richtung hin solche Studien gingen30, wie weit sie sich erstreckten, darüber sind wir nicht unterrichtet. Man muß sich indeß erinnern daß künstlerische Studien im historischen Sinn angestellt nicht im Geist jener Zeit lagen; man suchte meist nur Belehrung für das nächste praktische Bedürfniß und suchte diese in der unmittelbaren Nähe. Die Vermuthung, welche sich daraus im Allgemeinen ziehen läßt, wird auch durch Mozarts Compositionen dieser Jahre bestätigt, daß ein tiefer gehendes, vielseitiges Studium namentlich älterer Meister zur Ausbildung des eigenen Stils nicht wahrscheinlich sei, sondern die Beschäftigung mit anderen Componisten hauptsächlich wohl darauf gerichtet war, im Technischen eine sichere [537] Praxis zu gewinnen, wie die vorliegenden Aufgaben sie erforderten.

Fußnoten

1 Nach einer Notiz von Al. Fuchs wäre diese Composition ursprünglich auf einen anderen Text gemacht gewesen; etwas Bestimmteres habe ich nicht ausfindig gemacht.


2 Auch die beiden Motetten Introibo (40) und Quaere superna (40a), sind Arien in Cavatinenform, also in einem Satz von mäßiger Bewegung, in gehaltener Stimmung, aber auch mit Passagen verziert. Der Erfindung nach sind diese Stücke alle nicht bedeutend, aber gewandt gearbeitet.


3 Nach den in Andrés handschriftlichem Catalog mitgetheilten Anfangstacten eines Iustum deduxit Dominus (34) und Adoramus (35) für vier Singstimmen und Orgel möchte man schließen daß sie in ähnlicher, einfacher Weise gehalten seien.


4 Sie sind beide selbständig und abgeschlossen und es ist nicht deutlich zu erkennen, ob sie bestimmt waren zusammen oder einzeln aufgeführt zu werden.


5 Als Mozart 1777 auf der Reise war, schrieb ihm sein Vater (4. Oct. 1777): »Ich schließe hier die Choraltöne bey, die dir vielleicht da oder dort nützlich und vielleicht gar nothwendig seyn können; man muß Alles wissen.«


6 Schafhäutl berichtet auch, daß als Mozart aus Paris zurückgekehrt war, eine zufällige Bemerkung des Prälaten über Tisch, daß es an Offertorien für das Benedictusfest fehle, den Knaben veranlaßte im ersten freien Augenblick aus dem Speisesaal zu treten und – auf die noch vorhandene Fensterbrüstung zur rechten Hand, der Thüre gegenüber gelehnt – mit Bleistift das Offertorium in C-dur mit Arie und Chor auf das Fest des heil. Benedictus zu feiern; welches mir leider unbekannt geblieben ist. Dies Offertorium ist, wie ich durch die gütige Mittheilung Hrn. Prof. Schafhäutls belehrt bin, das S. 685, 43 angeführte.


7 Evang. Matth. 11, 11.


8 Evang. Joh. 1, 29.


9 Das Offertorium in Contrapunkt in D minor, welches Mozart in einem Brief (20. Nov. 1777) erwähnt, ist gewiß eben dieses.


10 Psalm 88 [89], 1.


11 Das Thema ist nach Stadlers Angabe (Vertheidigung der Echtheit des Mozartschen Requiem S. 10) von Eberlin entlehnt und von Mozart in eigenthümlicher Weise bearbeitet. Eine Analyse ist A. M. Z. X S. 43ff. gegeben. Aus der meisterhaften Technik und dem ernsten Ausdruck tiefen Gefühls wird dort gefolgert daß es eine Arbeit aus Mozarts spätester, bester Zeit sei. Allein wir haben gesehen daß in Kirchencompositionen der Zeit, welcher ich dies Werk zuschreibe (Beil. VIII, 43), dieselbe Richtung sich offenbart und diese innere Uebereinstimmung entscheidet nicht zum Wenigsten für die Zeitbestimmung. Wenn in einer späteren Anzeige (A. M. Z. XIII S. 315) dieser großartige Chor, ebenso wie Davide penitente, eine der wichtigsten Vorarbeiten und tiefen Studien des Componisten des Requiem für den erhabensten und reinsten Kirchenstil genannt und auch nachher als ein Studium bezeichnet wird; so ist dies natürlich nicht in dem Sinne einer mit Bewußtsein für einen bestimmten Zweck unternommenen Vorarbeit zu verstehen.


12 Oulibicheff II p. 333 (II S. 409 d. Ueb.): Pour rompre la monotonie que des paroles tant de fois répétées, sur le même sujet devaient introduire dans un morceau de 160 mesures, d'un mouvement grave, le compositeur avait les ressources inépuisables de la modulation et de l'analyse contrapontique. Il les employa avec la science de Bach, avec la gravité onctueuse des maîtres catholiques du XVIIme siècle, avec le sentiment profond et le goût qui n'appartenaient qu'à Mozart.


13 Thibaut über Reinheit der Tonkunst S. 109f.: »Der ärgste Possen ist Mozart bei seinem, nach einer gewissen Regel sehr methodisch gesetzten Misericordias Domini gespielt. Der Text besteht, wenn man so will, aus zwei kurzen Sätzen: misericordias Domini (die Barmherzigkeit des Herrn) cantabo in aeternum (will ich singen in Ewigkeit), im Grunde aber nur aus einem Satz. Denn entweder nimmt man das misericordias Domini als den Grundgedanken, oder dascantabo in aeternum. Ist jenes, so muß auch das cantabo sich mit beugen; ist aber dieß, so muß der Begeisterte auch die Barmherzigkeit mit in den Jubel aufnehmen. Würde man das Lachen unterdrücken können, wenn ein Prediger ganz leise anfinge: die Barmherzigkeit des Herrn«, und dann gleich jubelnd fortführe: »singe ich in Ewigkeit«? Der beliebten Malerei wegen, der auch Händel manches Opfer brachte, hat es indeß Mozart so gemacht, daß das misericordias Domini leise, das cantabo in aeternum aber stark und in einem frischen Fugensatz gesungen werden soll. Ist die letzte Spindel abgewickelt, so kommt wieder das Grave und dann wieder die Fuge. In der gangbaren gedruckten Ausgabe sind nun liebe deutsche Worte gegeben. Man soll nämlich da, wo misericordias Domini steht, singen: »ewig erschalle mein Lob dem Herrn« u.s.w. »Damit fällt denn der Jubel in die Kniebeugung und die Demuth in den Jubel.«


14 Der Vergleich mit dem Vortrag des Predigers hinkt so unbillig, daß er dadurch recht geeignet wird zu zeigen, daß die Gesetze verschiedener künstlerischer Darstellungsweisen nicht ohne Weiteres auf einander angewendet werden können. Was sollte aus der musikalischen Darstellung werden, wenn die Normen des declamirenden Vortrags schlechthin maßgebend für dieselbe wären? Um beim Prediger stehen zu bleiben, so hat die Weise wie derselbe einen Bibelspruch im Ganzen und in seine einzelnen Theile zerlegt betrachtet um den inneren Gehalt desselben nach verschiedenen Richtungen zu erschöpfen eine unläugbare Verwandtschaft mit der Kunst des Musikers, der auf seine Art eine Grundempfindung in den mannigfaltigsten Aeußerungen auszusprechen und herauszuarbeiten bestrebt ist. Wenn aber der Prediger mit vollem Recht sich verbitten wird die Disposition seiner Predigt nach den Regeln des Contrapunktes zu kritisiren, so darf auch der Musiker die gleiche Freiheit für sich in Anspruch nehmen.


15 Zelter war mit Thibauts Urtheil auch nicht zufrieden; er schreibt an Goethe (IV S. 37): »Unser Heidelberger gefällt sich manchmal (astronomisch zu reden) wie einer der nur einen Pol kennt. Mozarten meint er sei der ärgste Possen geschehen mit den Worten: Misericordias Domini cantabo in aeternum, indem er die ersten Worte anbetend und die letzten jubelnd componirt habe. Das Stück scheint zu sein und ist ein Uebungsstück im Contrapunkt, zwei Gegensatze mit einander zu verbinden, wozu man die ersten Worte nahm, welche dem Schreiber einfielen. Das mag freilich auch nicht recht sein, aber es ist so und will mit dem iure civili nicht gerieben sein.« Man sieht, hier spricht ein Mann, der sein Handwerk kennt; obwohl man in diesem Fall wohl Recht hat, über dasselbe hinauszugehen. Viel schlimmer ist es freilich, wenn Rochlitz (A. M. Z. XXVII S. 461) dem Urtheil Thibauts beistimmend zur Milderung (!) hinzusetzt »daß dieses Stück von dem Meister gar nicht für die Aufführung geschrieben, viel weniger herausgegeben wurde, sondern bloß eine musikalische Uebung seiner selbst im Kirchenstil war und sein sollte, wozu er nach den ersten den besten Worten, gleichsam wie bei Solfeggien nach bloßen Vocalen, griff. Freilich wäre es besser gewesen, es waren ihm für diese seine Musik bessere Worte eingefallen. Das bloß als Musik so treffliche Stück wurde Mozart durch Abschreiber entwendet und so in die Welt gebracht.« Denn das angeblich Factische dieser Milderung ist, wie aus dem vorher Mitgetheilten klar hervorgeht, nur aus jener Aeußerung Mozarts herausgesponnen, die das nicht besagt, wie Rochlitz häufig seine Combinationen unvermerkt für Facta halt. So hat der wohlwollende Mann anstatt dem dreisten Angriff, der ihn schmerzte, kühn entgegenzugehen, ihm eine halbwahre Entschuldigung angehängt, welche die Ehre des Künstlers nicht viel weniger antastet und die Sache nicht aufklärt.


16 Vgl. S. 60. 154. 157.


17 Anfangs sang er noch selbst in den von ihm gegebenen Concerten (S. 184. 188) und noch von Rom aus meldet der Vater (2. Mai 1770), Wolfgang singe noch, aber nur allzeit, wenn man ihm einige Worte vorlege. Allein von Bologna aus schrieb er (25. Aug. 1770): »Stimme zum Singen hat er jetzt gar keine. Diese ist völlig weg, er hat weder Tiefe noch Höhe und nicht fünf reine Töne. Dieß verdrießt ihn sehr, denn er kann seine eigenen Sachen nicht singen, die er doch manchmal singen möchte.« Später sang er freilich bei van Swieten die Altstimme – während dieser selbst Sopran, Starzer Tenor und Teyber Baß sang – und half auch sonst mit aus, aber er hatte nur was man jetzt eine deutsche Componistenstimme nennen möchte. Hasse und Graun waren berühmte Tenoristen, Jos. und Mich. Haydn begannen ihre musikalische Laufbahn als Chorknaben und Solisten. Daß der Gesang heutzutage nicht mehr der Ausgangspunkt der musikalisch-künstlerischen Bildung zu sein pflegt, ist schwerlich als ein günstiger Umstand anzusehen.


18 Für Sopran- und Altsolos wurden der mehrfach angeführten Nachricht (Marpurg krit. Beitr. III S. 192) zufolge gewöhnlich mehrere durch Meißner dazu ausgebildete Kapellknaben verwendet.


19 An anderen Orten bediente man sich der Zinken zur Unterstützung des Sopran, in Salzburg waren diese nicht üblich; die eben erwähnte Nachricht (Marpurg krit. Beitr. III S. 195) führt als zum Chor gehörig nur drei Posaunisten auf »die Alt-Tenor- und Baßtrombone zu blasen, welche der Stadtthürmermeister mit zweenen seiner Untergebenen gegen einen gewissen jährlichen Gehalt versehen muß.«


20 Die Anwendung der Posaunen im Requiem, soweit man darin noch Mozarts Arbeit erkennen kann, beruht wesentlich auf dieser Tradition; allerdings verräth aber dort der mäßigere und auf die bewußte Erreichung bestimmter Wirkungen gerichtete Gebrauch derselben auch eine größere künstlerische Freiheit.


21 Marpurg krit. Beitr. III S. 195.


22 Oulibicheff I p. 62 (I S. 70): Dès ce moment [1771] l'éducation scolaire de notre héros était terminée. Les oeuvres des vieux contrapontistes italiens, de Bach et de Händel l'avaient profondément initié aux mystères de la science; l'Italie contemporaine lui avait fait connaître tout ce que l'art de la composition vocale possédait d' enchantemens.


23 Rochlitz sagt in seiner Parallele Raphaels und Mozarts (A. M. Z. II S. 641f.): »Raphael lernte M. Angelos, Mozart Bachs Werke kennen und beide wurden von ihnen so hingerissen, daß ersterer seine bisherige Art zu malen, letzterer seine bisherige Art zu schreiben ganz veränderte. Das Düstere doch sehr Besonnene des Ganges jener beiden großen Lehrer konnte sich aber mit dem schnell auflodernden Feuer der Jugend nicht vereinbaren; beide junge Künstler versuchten die Vereinbarung dennoch, wurden aber darüber (besonders Mozart) rauh, abentheuerlich, bizarr, verworren. Beide unternahmen gar manches in dieser Manier, ohne ihm Vollendung zu geben – ja meistens auch, ohne es nur fertig zu machen. Noch jetzt haben sich Werke beider von dieser Art erhalten, wie z.B. Raphaels Altargemälde in der heil. Geistkirche zu Siena, und einige Concerte, auch manches in den Messen Mozarts, noch in Salzburg oder bald darauf geschrieben.« Die aus Mozarts Werken gezogenen Folgerungen halte ich für falsch und ein Beweis für das Factum ist nicht gegeben.


24 A. M. Z. I S. 116f.


25 »Das Oratorium welches man probirt hat ist vom Händl, ich bin aber nicht blieben, dann man hat vor her einen Psalm Magnificat probirt, vom hiesigen Vice-Kapellmeister Vogler, und der hat schier eine Stund gedauert« (4. Nov. 1777).


26 Er schreibt seinem Vater (Wien 10. April 1782): »Schicken Sie mir auch die sechs Fugen von Händel. – – Ich mache mir eben eine Collection von den Bachschen Fugen, sowohl von Sebastian, als Emanuel und Friedemann Bach; – dann auch von den Händelschen und da gehen mir diese sechs Fugen ab.«


27 Eine Aeußerung Mozarts, welche auf eine Bekanntschaft mit norddeutschen Musikern in früherer Zeit hinweist, findet sich in einem Brief an seinen Vater (12. Nov. 1778): »Sie wissen, daß Benda unter den lutherischen Kapellmeistern immer mein Liebling war.« Daß er auf Hasse und Graun weniger zu halten schien als sie verdienten, berichtet Rochlitz (A. M. Z. I S. 116); aber das war ein Urtheil späterer Jahre und bezog sich vielleicht mehr auf ihre Opern als Kirchencompositionen.


28 »Das Graduale, so mir so wohl gefallen, war vom berühmten langst verstorbenen Lotti« (13. Nov. 1777).


29 Beil. VI, 1.


30 Rochlitz (a.a.O. S. 643) hebt Leonardo Leo hervor; ich fürchte, wegen des Parallelismus mit Leonardo da Vinci.


Quelle:
Jahn, Otto: W.A. Mozart. Band 1, Leipzig: Breitkopf und Härtel, 1856, S. 1.
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