Vier Jahre sind vergangen, seit ich den ersten Teil meiner Brahms-Biographie veröffentlichte. Damals glaubte ich, den zweiten bald nachfolgen lassen und das Werk mit ihm abschließen zu können. Diese Hoffnung erwies sich in jeder Hinsicht als trügerisch. Erst nach vielfältigen Unterbrechungen konnte ich zu meiner großen Aufgabe zurückkehren.
Der vorliegende Halbband des zweiten Teiles erscheint gleichzeitig mit der zweiten Auflage des jetzt ebenfalls in Halbbände zerlegten ersten Teiles.
Wer einen Blick auf die dort aufgestellte Liste meiner »stillen Mitarbeiter« werfen mag, wird sehen, daß deren Zahl sich beinahe um das Doppelte vermehrt hat. Aus ihren dankenswerten Mitteilungen und anderen Bereicherungen der Brahms-Literatur – die von der »Deutschen Brahms-Gesellschaft« begonnenen Publikationen stehen obenan – strömte dem Biographen eine solche unverhoffte Fülle neuen Materials zu, daß die anfangs projektierten zwei Bände nicht ausreichen werden, um das Wesentliche an rechter Stelle einzuordnen und vor der Vergessenheit zu bewahren.
Was aber ist das Wesentliche? Wenn wir uns daran erinnern, mit welcher Begierde heute nach jedem noch so geringfügigen Detail gegriffen wird, das sich auf das Leben und Schaffen unserer geistigen Heroen bezieht, so wollen wir lieber den Vorwurf der Umständlichkeit als den der Achtlosigkeit ertragen, wo der Genius eines Brahms dabei in Frage kommt.
Mit dem gewaltigen Aufschwunge, den der Kultus der allmählich ins Volk dringenden Brahmsschen Musik gerade in den letzten Jahren genommen hat, steigerte sich naturgemäß auch das Interesse für die Persönlichkeit des Meisters, und diese tritt, je mehr wir von ihr erfahren, immer herrlicher hervor in den hohen Tugenden seines lauteren, untadeligen Mannescharakters. Die Kunst lehrt uns ihren Menschen, der Mensch seine Kunst immer besser verstehen, immer inniger verehren und lieben. Beide sind voneinander nicht zu trennen und verschmelzen zu der edelsten vorbildlichen Gestalt, die eine ewig fortwirkende ethische Macht bedeutet.
Wien, im Oktober 1907.
Max Kalbeck.