[Biographie]

Nicht die Musen allein, auch die Schicksalsgöttinnen haben ihre Lieblinge, und wen diese Einen mit ihrer Gunst beglücken, den fliehen jene Anderen zumeist. Nur selten begegnen wir hienieden den Auserwählten, über deren Haupte sich beide Mächte freundlich die Hand reichen und deren Dasein sie vereint die Bedingungen zu harmonischer Gestaltung verleihen. Solch' gesegneter Naturen eine war Felix Mendelssohn-Bartholdy. Was man im Leben ein Sonntagskind nennt, das war er in Wahrheit. Auf lichten Höhen wandelte er sorglos dahin, unangefochten von Nöthen und Bedrängnissen des gemeinen Lebens, frei von Zwiespalt und Kampf, wie sie die Künstlerseele so häufig beschweren. Nicht mit Schmerzen hat er seinem Genius die Blüten abgerungen, niemals hat er sein Brod mit Thränen gegessen, und ungestraft, wie selten einer, durfte er unter Palmen wandeln. In reine Harmonie floß sein künstlerisches und menschliches Dasein zusammen, und wie sein Schaffen Wohllaut gewesen, so war es sein Leben auch. So ist es gekommen, daß er noch im Tode als jene Lichtgestalt weiter lebt, als die ihn einst unser Auge geschaut. Vielleicht ist keiner unserer großen Tonmeister inniger geliebt, dankbarer verehrt worden als er, und dennoch gab es Größere[143] noch als ihn. Anmuthsvoller aber und liebenswürdiger, reiner und edler war keiner als er. Ein Heldencharakter freilich wird nicht im Sonnenlichte gezeitigt, er bedarf der Schatten und Kämpfe und großen Schmerzen. So ist auch Mendelssohn kein Heldencharakter geworden, nicht das, was man einen Heros der Töne nennt. Ihm fehlte die genialische Ueberfülle, die himmelanstürmende Kraft, die jenen macht. Nicht in die nächtigen Tiefen innerlichen Ringens und Kämpfens ist er hinabgestiegen, eine Welt still in sich befriedigter Schönheit und wolkenloser Klarheit ist es, darin seine Muse zu verweilen liebt. Kein Sturm der Leidenschaft zittert in jenen Tönen, denen eine fast jungfräulich empfindende Seele das Leben gab. Allenthalben ist Maß und Beschränkung, nirgends ein Zuviel, niemals die Schönheitslinie überschritten. Ja, ein so auserlesenes Formgefühl wohnt ihm inne, daß einer unserer besten zeitgenössischen Künstler – Hans von Bülow – ihm sogar »das höchste Formgenie nach Mozart, das freilich nur der wirklich Gereifte zu erkennen vermag«, zusprechen konnte. Zartheit und Keuschheit der Empfindung, Feinheit und Noblesse des Ausdrucks sind die hervorstechenden Eigenthümlichkeiten seiner Schaffensweise. Mag jene Zartheit auch immerhin zur Empfindsamkeit, jene Keuschheit bisweilen zum Puritanismus gesteigert, jene Noblesse zu einer gewissen eleganten Manier geworden scheinen, die die Hand ihres Schöpfers auch dem flüchtigen Blick verräth: die Vornehmheit seiner Natur spricht sich in allen seinen Werken aus, mögen dieselben auch den verschiedensten Genres angehören. Mendelssohn's eigentliches Genre ist das Liebliche, Schmeichelnde, das Süße, Träumerische. Am größten ist er, wenn er mit der ätherischen Sprache der Geister, mit den lockenden Stimmen der Natur zu uns redet, wenn er uns aus Licht und Duft gewobene Traumbilder vor[144] die Seele zaubert. Aber er ist groß auch auf einem anderen erhabeneren Gebiet seiner Kunst; da, wo es der Verherrlichung seines Glaubens gilt, enthüllt sich uns die ganze Religiosität und Wärme seines Empfindens. War es dort vor allem Carl Maria von Weber, dessen wahlverwandter Genius ihm in mehr als einer Beziehung zum Leitstern diente, so griff er auf dem Gebiet des Oratoriums vielmehr zurück zu den Meisterwerken des vergangenen Jahrhunderts und suchte sich in Händel und Bach die Vorbilder für sein Schaffen. Den von ihnen betretenen Weg verfolgend und gleichzeitig an die Errungenschaften eines Haydn, Mozart und Beethoven anknüpfend, gelang es ihm, einen neuen Ausdruck zu finden für das moderne religiös-musikalische Bedürfniß insbesondere, und den Geist der Vergangenheit zu verschmelzen mit dem Geiste der Gegenwart.

Hierin namentlich liegt der Antheil begründet, den Felix Mendelssohn an der von ihm durchlebten Periode der Tonkunst genommen. »Mendelssohn ist der Mozart des 19. Jahrhunderts, der hellste Musiker, der die Widersprüche der Zeit am klarsten durchschaut und zuerst versöhnt«, lautet ein Ausspruch Schumann's. Es ist Mozart auch in der That, der in Gemeinschaft mit Weber weittragenden Einfluß auf die künstlerische Entwickelung des Meisters gewonnen und der, gleich diesem, Spuren innerer Verwandtschaft mit ihm zeigt. Sogar an der Popularität jener Beiden, in denen das deutsche Volk seine bevorzugtesten Lieblinge feiert, hat Mendelssohn eine Zeitlang Theil genommen. Das seltene Glück ist ihm zu Theil geworden, sich von seinem ersten Auftreten bis an seinen Tod der wärmsten Sympathien, der günstigsten Erfolge, der reichsten Anerkennung seiner Bestrebungen zu erfreuen. Die verschiedensten Kunstrichtungen haben neidlos seine Verdienste gewürdigt und die historische und romantische Schule haben sich[145] gegenseitig das Vorrecht mißgönnt, ihn ihr eigen zu nennen. Freilich hat, so viel Nachahmung er hervorgerufen, sein Einfluß auf die Weiterentwickelung der Tonkunst sein Leben nicht gar lange überdauert, und gerade an Felix Mendelssohn's bevorzugter Erscheinung bewahrheitete sich am Ende die natürliche Ordnung, daß eine schnell gewonnene Popularität dem Raub der Zeiten früher verfällt als eine spät und mühsam errungene.

Das Leben der glücklichsten Menschen ist ereignißlos, pflegen wir zu sagen. Auch das Leben des Meisters, dessen Vorname schon ihn als den Glücklichen bezeichnet, floß um so harmonischer dahin, je weniger es durch außerordentliche Ereignisse unterbrochen scheint. Ein Enkel des großen Philosophen Moses Mendelssohn, ward Felix am 3. Februar 1809 zu Hamburg geboren. Sein Vater Abraham Mendelssohn war der Chef eines angesehenen Banquierhauses daselbst, verlegte dasselbe jedoch einige Jahre später nach Berlin. Die ihm eigene tiefe Bildung, im Verein mit dem seinen Kunstsinn seiner Frau, der Schwester des Berliner Kunstmäcens Bartholdy, machten sein Haus zu einer Pflegestätte der Kunst und Wissenschaft und zu einem vielbesuchten Versammlungsort für deren hervorragendste Vertreter. So erwiesen sich die Verhältnisse im Vaterhause der künstlerischen Entwickelung des Sohnes als überaus günstig. Talent und Vorliebe für Musik waren auch den übrigen drei Geschwistern, und besonders der älteren Schwester Fanny, von den Eltern vererbt worden, in eminenter Weise aber kamen sie bei Felix zur Erscheinung. Die Mutter, welche die musikalischen Studien ihrer Kinder im Beginn persönlich geleitet hatte, sah sich in Folge dessen veranlaßt, sich durch entsprechendere Lehrkräfte ersetzen zu lassen, und den ersten Meistern Berlins ward nun die künstlerische[146] Bildung des Knaben übergeben. Ludwig Berger, der Schüler Clemen ti's und Freund Field's, übernahm es, ihn im Clavierspiel, Friedrich Zelter, ihn im Contrapunkt zu unterweisen. Von so außerordentlichen Resultaten wurden dabei ihre Bemühungen belohnt, daß Felix in seinem neunten Jahre bereits mit Dussek's »Concert militaire« öffentlich zu debütiren vermochte, in seinem elften Jahre schon mehrere Symphonien und Operetten geschrieben hatte, in seinem dreizehnten, vierzehnten und fünfzehnten aber einige Arbeiten producirte, die sich an Reise selbst den Jugendwerken Mozart's gleichstellen lassen. Die straffe academische Zucht, in der er emporwuchs, legte seiner Phantasie frühzeitig Zügel an. In bewundernswerther Weise tritt denn auch in den Erstlingsgaben des Knaben: den Quartetten op. 1, 2, 3, bereits jene Sicherheit und Leichtigkeit der Formbeherrschung zu Tage, die Mendelssohn, dem Meister, in so vollendetem Maße eignet; während in einzelnen derselben, wie im H-moll-Quartett op. 3, selbst eine künstlerische Individualität, wenn auch erst leise, sich zu äußern anhebt. Mischt sich, wie schon erwähnt, in seine späteren Werke ein ihn charakterisirendes weiches sentimentales Element, so kommt in diesen frühen Kundgebungen seines Genius die lauterste Schaffensfreudigkeit, eine naive, ungetrübte Luft am Dasein und an der Kunst zum Ausdruck. Erst in dem Grade, als der Jüngling hinaus in's Leben tritt, nehmen seine Schöpfungen eine bestimmte Physiognomie an, füllen sich die gefälligen Formen mit einem ihm specifisch eigenthümlichen Inhalt. Schon frühzeitig aber gewann der Knabe inmitten des anregenden Kunsttreibens seiner Vaterstadt Theilnahme am öffentlichen Leben und sah sich den bedeutendsten Erscheinungen seiner Zeit gegenübergestellt. So ward er, elf Jahre alt, von Zelter bei Goethe eingeführt und erwarb sich die warme[147] Zuneigung des Dichters, dem er die Werke Bach's, Beethoven's und Mozart's vorspielte und damit einen Einblick in die herrlichsten Schöpfungen der Tonkunst erschloß. Auch zu den hervorragendsten seiner Kunstgenossen trat er in Beziehung, dank den regelmäßigen Musikaufführungen im Vaterhause, die zugleich eine praktische Vorschule für ihn selber wurden. Dauernden Einfluß auf ihn übte zumal das Erscheinen Carl Maria von Weber's und seines »Freischütz« in Berlin. Die neue romantische Richtung, die in diesem ihren frischen Lebenstrieb äußerte, gestaltete sich zu einem Grundzug seines eigenen Wesens. Als einige Jahre später (1824) Ignaz Moscheles, der berühmte Meister des Pianofortespiels, in der preußischen Hauptstadt concertirte, erkannte auch er nachdrücklich die seltene Begabung des Knaben. Er unterrichtete Felix während seines dortigen Aufenthalts und knüpfte, obwohl an Jahren ihm weit voraus, mit ihm ein Freundschaftsband, das beide Künstler bis zum frühen Tode des einen treu verbunden hielt.

An der vielfältigen und bewundernden Anerkennung, deren das Talent seines Sohnes sich erfreute, ließ Abraham Mendelssohn sich jedoch nicht genügen. Ihn verlangte es, das Urtheil einer europäischen Autorität einzuholen, bevor er in die Wahl der Künstlerlaufbahn, als den zukünftigen Beruf seines Sohnes, willigte, und so reiste er 1825 mit Felix nach Paris, um ihn der Prüfung Cherubini's zu unterwerfen. Die Entscheidung des großen Meisters lautete günstig, und nachdem der Knabe sein H-moll-Quartett vor ihm gespielt und ein Kyrie für Chor und Orchester componirt hatte, erklärte er selbst sich zur weiteren Ausbildung desselben bereit. Indessen lehnte der Vater dies Anerbieten ab und kehrte mit dem Sohn nach Berlin zurück.

Von nun an widmete sich Felix ausschließlich seinem Künstlerberuf,[148] ohne darum die schon früher begonnenen umfassenden Studien zu verabsäumen, welche eine universelle Ausbildung seines Geistes bezweckten. Mit besonderer Vorliebe lag er der Beschäftigung mit älteren und neueren Sprachen ob; er übersetzte englische und italienische Dichter und veröffentlichte sogar eine metrische Uebertragung der »Andria« des Terenz (1826). Auch im Zeichnen und Malen erwarb er sich eine nicht gewöhnliche Fertigkeit, während er nicht minder die ritterlichen Künste pflegte. Ausgerüstet mit einer classischen Vorbildung, bezog er im Jahre 1827 die Berliner Universität, um daselbst historische und philosophische Collegien zu hören. Häufiger denn bisher trat er jetzt auch mit seinen künstlerischen Leistungen vor die Oeffentlichkeit, dem Publikum seiner Vaterstadt Gelegenheit gebend, ihn als Virtuosen, Componisten und Dirigenten zu bewundern. So erfolgte im April 1827 die Aufführung seiner im Laufe der Jahre 1824 und 25 entstandenen Oper »Die Hochzeit des Gamacho«, welche jedoch wohl zumeist ihres undramatischen Textes wegen, mit sehr getheiltem Beifall aufgenommen ward. Seine erste große Symphonie op. 11, mehrere Gelegenheitscantaten und geistliche Compositionen wurden öffentlich zu Gehör gebracht; letztere mit Hülfe der von Zelter geleiteten Singacademie, der Felix selbst als Altist angehört hatte. Einer an ihn ergangenen Aufforderung folgend, führte er auch in Stettin mehrere seiner Werke auf: den besonderen Dank der musikalischen Welt aber erwarb er sich, als er im März 1829 die unter fast 100jährigem Staub begrabene Bach'sche Matthäus-Passion wieder an's Tageslicht förderte und in der Singacademie dirigirte. Wenige Wochen später unternahm er nach beendeten Universitätsstudien seinen ersten selbständigen Ausflug in die Welt und traf auf Einladung seines Freundes Moscheles zur Musiksaison in London ein.[149]

Als Schöpfer mehrerer bedeutender Werke konnte Felix Mendelssohn sich den dortigen Musikfreunden vorstellen. Hatte er doch als siebzehnjähriger Jüngling bereits in seiner »Sommernachtstraum«-Ouvertüre ein Zeugniß seines künstlerischen Könnens abgelegt, das ihm eine Stelle unter den besten und feinsinnigsten Meistern seiner Kunst sicherte. Deuteten schon einige der ihr vorangegangenen Werke, wie das Scherzo des H-moll-Quartetts, das Fis-moll-Capriccio op. 5, die Charakterstücke op. 7, und vornehmlich die Claviersonate op. 6, die specifische Richtung des Künstlers an, so erscheint diese hier zu vollendetem Ausdruck gekommen, ein Schönheitsmaß erreichend, das selbst von seinen späteren Schöpfungen nicht überschritten worden ist. So findet der auch hierin vor vielen seiner Kunstgenossen Bevorzugte schon im Beginn seiner Laufbahn mit glücklicher Selbstbeurtheilung das Terrain, für welches er eine so bewundernswerthe Begabung in sich trug, und das durch Carl Maria von Weber der Tonkunst gewonnen, von ihm aber zu hoher Vollkommenheit ausgebildet wurde. Mit lächelnder Gewalt beherrscht sein Zauberstab die phantastische, von Traum- und Naturgeistern belebte Welt, und aus dem duftigen Märchenleben heraus krystallisiren sich die greifbaren Gestalten des Dichters voll Anmuth und Wahrheit. Stellt sich die siebzehn Jahre später entstandene »Musik zu Shakespeare's Sommernachtstraum« als eine meisterhafte musikalische Interpretation jener ewig jungen Dichtung dar, so läßt sich, selbstverständlich in mehr angedeuteter als ausgeführter Weise, schon von der Ouvertüre ein Gleiches rühmen. Die durch den Text gebotenen Schwierigkeiten der Vereinigung dreier verschiedenartigster Elemente – des Sentimentalen, Phantastischen und Komischen – scheinen wie dort, so schon hier leicht überwunden und bei vollendeter Charakteristik des Einzelnen die[150] harmonischste Gesammtstimmung erzielt. In so engem Zusammenhang aber zeigt sich die Ouvertüre mit den übrigen später hinzugefügten Theilen der Musik, daß uns die frühe Reise und Vollendung der künstlerischen Individualität Mendelssohn's hieraus in schlagender Weise kund wird.

Ein bewußteres Streben nach bestimmten Zielen und Ideen macht sich mit dem Entstehen der »Sommernachtstraum«-Ouvertüre im Schaffen des jugendlichen Componisten bemerkbar. Sehen wir ihn bei seiner ersten Symphonie und einigen seiner früheren Clavierwerke trotz aller Formbeherrschung noch von den Einflüssen mehr oder minder großer Vorbilder befangen, so ringt er sich in seinen Compositionen für Kammermusik, dem Octett op. 20, dem Quintett op. 18 und den beiden Quartetten op. 12 und 13 zu größerer Selbständigkeit empor, und seine künstlerische Phantasie beginnt sich mehr und mehr mit den Gestalten seiner eigenen Träume und Erlebnisse zu befruchten. Auch im Liede sucht er die von seinen Lehrern Zelter und Berger eingeschlagenen Bahnen zu erweitern und zeitgemäß auszubilden, sich jedoch, wie auf jeglichem Gebiet so auch hier, sorgsam von jenen genialen »Neuerungsgelüsten« fernhaltend, vor denen der strenge Sinn seines Vaters und seiner künstlerischen Führer ihn zu behüten bestrebt war. Gleich Zelter knüpft auch er an das Volkslied an, läßt aber daneben zugleich den großen Erneuerer des Liedes, Schubert, auf sich einwirken. Eine Reihe als op. 8 und 9 veröffentlichter Gesänge erregt als das Ergebniß dieser Bestrebungen unser Interesse, ohne uns außer der äußerst stimmungsvollen Romanze »Wartend« und dem anmuthigen »Ist es wahr?« – welches Letztere zugleich dem A-moll-Quartett op. 13 zum Thema dient – Hervorragenderes darzubieten. Fühlt sich Mendelssohn mit der wachsenden Vertiefung seines Empfindungslebens mehr[151] und mehr zum Liede gedrängt, so gewinnt er doch gerade auf diesem Gebiet seiner Kunst später als auf einem andern den ihm eigenthümlichen Stil. Jene gewisse Entsagung, die vom Liedercomponisten dem Dichter gegenüber gefordert wird, das Darangeben des eigenen künstlerischen Ichs an ein anderes, ist seiner Weise fremd. Er bleibt, auch nachdem er in seinen späteren Liedern einen bestimmten Stil ausgebildet, immerdar ganz er selbst, mag er uns nun Heine's, Lenau's oder Anderer Verse singen. Ungleich seinen großen Vorgängern im Liede, Beethoven und Schubert, ja selbst dem sonst so subjectiven Robert Schumann, stellt er sich uns mehr als ein feinsinniger Illustrator, denn als ein eigentlicher Interpret des Dichters dar. In sein eigenes Sprachidiom überträgt er die Aeußerung des ihn schöpferisch anregenden Genius, und nur wo dieser dem seinen völlig gleichartig, wo die dichterische Empfindungsweise seiner musikalischen wahrhaft wahlverwandt erscheint, vermählt sich die letztere der ersten und erzeugt statt des subjectiven ein absolut schönes Kunstgebilde, wie beispielsweise: »Die Liebende schreibt«, »Suleika« und besonders das wunderbar ergreifende »Nachtlied.« Anmuthig und elegant in Ausdruck und Form, wie alles, was er uns gab, haben seine weniger poetisch-charakteristischen als sein musikalischen Gesänge sich von jeher zahlreiche Verehrer erworben. Die Schar unserer weiblichen Dilettanten zumal steht ihnen vertrauter gegenüber als denjenigen Schumann's, deren tiefsinnigerer Charakter in Bezug auf Auffassung und Wiedergabe ungleich höhere Anforderungen an den Sänger stellt.

Noch bedeutender als in einem großen Theil seiner Lieder tritt uns Mendelssohn in einem von ihm selbst erst geschaffenen Genre entgegen, dessen ersten Anfängen wir in den während seines englischen Aufenthalts entstandenen »Trois Fantaisies[152] ou Caprices« für Piano op. 16 begegnen, und das im nächsten Jahre (1830) seine ausgebildete Form erhielt: dem Lied ohne Worte. Hier bedarf er nicht der Selbstentäußerung oder doch Beschränkung seiner Individualität; frei und ungebunden darf er seine eigene Welt aus sich herausgestalten, ohne die Lyrik seiner Töne der des Dichters unter- oder mindestens beizuordnen. All die mannigfaltigen Stimmungen seiner Seele, die Bilder und Reflexe seines äußeren und inneren Lebens läßt er darin ausklingen – Dichter und Musiker zu gleicher Zeit. Dichterischer Sinn ist Mendelssohn überhaupt im hohen Grade eigen. Er bezeugt sich in der wortlosen Poesie seiner Töne, in der feinen Wahl des Textes seiner Lieder, in seiner Vorliebe für poetisch werthvolle Stoffe als Grundlage für sein Schaffen. Auch auf das Gebiet der reinen Instrumentalmusik überträgt sich derselbe, und wie ihn äußere und innere Anschauungen und Erlebnisse zu künstlerischer Gestaltung und Befreiung drängen, so fühlt er sich auch durch einzelne Dichtungen angeregt, den durch sie empfangenen Eindruck in Tönen zu verlebendigen. Die 1828 geschriebene Concert-Ouvertüre: »Meeresstille und glückliche Fahrt« ist die erste derartige Erscheinung in der instrumentalen Kunst und als solche schon, abgesehen von ihrem sonstigen Werth, von hoher Bedeutung. Goethe's gleichbenannte Verse gaben dem Componisten die Anregung zu einem seiner farbenprächtigsten Gebilde, das, selbst den Effect realistischer Tonmalerei hier und dort nicht verschmähend, ein noch specielleres Eingehen auf die einzelnen Situationen erkennen läßt, als die Kunst des Dichters es gestattete. Die Darstellungsweise des Tonschöpfers ist auch hier wiederum, wie in der vorausgegangenen »Sommernachtstraum«-Ouvertüre und in allen seinen späteren Werken, eine subjective, echt Mendelssohn'sche. Selbst in dieser Schilderung der äußeren Vorgänge des elementaren Lebens[153] begegnen wir allenthalben dem Bild des Künstlers selber. »Wir sehen, wie sich die Welt in dieser Seele spiegelt«, und mit Goethe dürfen wir weiter sagen: »Es ist ein schönes Schauspiel; sie sieht die Welt wie sie ist und doch durch das Medium der Liebe.«

Wohl vorbereitet auf seine jugendliche Meistererscheinung fand Felix Mendelssohn den Boden der englischen Metropole durch die Fürsorge seines Freundes Moscheles, als er im Mai 1829 zum ersten Mal vor dem aristokratischen Publikum der philharmonischen Concerte in Argyll-Rooms erschien. Er führte sich zunächst mit Weber's Concertstück als Interpret eines ihm verwandten und in England bereits eingebürgerten Genius ein und feierte, trotz der gleichzeitigen gefährlichen Mitwirkung der Sontag und Malibran, glänzende Erfolge, welche letztere sich noch um ein Bedeutendes steigerten, als er einige Wochen später in denselben Räumen seine »Sommernachtstraum«-Ouvertüre dirigirte. Stürmisch wurde dieselbe da capo gefordert und auch bei Gelegenheit eines von Henriette Sontag veranstalteten Wohlthätigkeitsconcertes wiederholt, bei welchem er durch Vortrag eines Concertes für zwei Flügel mit Moscheles gemeinsam neue Triumphe errang. Nach einer Reise nach Irland und Schottland kehrte er nach Berlin zurück, reich an gewonnenen Eindrücken und Anregung zu frischem Schaffen. Die schon erwähnten »Drei Phantasien oder Capricen für Pianoforte« op. 16, die Phantasie über the last rose op. 15, die schottische Sonate oder Phantasie op. 28, das für die silberne Hochzeit seiner Eltern geschriebene reizende Singspiel »Die Heimkehr aus der Fremde«, wie die später entstandenen »Hebriden« und die »schottische Symphonie« sind die künstlerischen Ergebnisse seines Aufenthaltes inmitten eines Volkes, für das er fortan sein ganzes Leben hindurch die wärmsten Sympathien in sich trug und bei dem er eine zweite Heimat fand.[154]

Für längere Zeit schied Felix im Mai 1830 aus dem elterlichen Hause, um auf den Wunsch des Vaters seine künstlerische und allgemeine Ausbildung im Auslande zu vervollständigen. Nach einem längeren Verweilen bei Goethe in Weimar, das ihn dem alten Herrn so nahe brachte, daß dieser in Briefwechsel mit ihm trat, führte ihn die Reise über München, Salzburg, Wien und Preßburg nach Venedig. Tief und gewaltig waren die Eindrücke, die er bei seinem Eintritt in Italien empfing. »Was ich mir als höchste Lebensfreude, seit ich denken kann, gedacht habe, das ist nun angefangen und ich genieße es«, lesen wir in einem der Briefe, die, von seiner Familie veröffentlicht1, uns den edlen liebenswürdigen Menschen Mendelssohn nahe bringen und den poetischen Commentar zu der historisch-kritischen Biographie August Reißmann's2 bilden, die in Vorliegendem vielfach benutzt ward.

Rom vornehmlich, woselbst er nach kurzem Aufenthalt in Florenz, mit Beginn des November eintraf, nahm in noch höherem Grade als das ihn um seiner wunderbaren Naturschönheiten willen entzückende Neapel Sinn und Seele des Jünglings gefangen. »Es ist mir, als hätte ich mich verändert, seit ich hier bin«, schreibt er. »Ich fühle mich glücklich und gesund, wie seit langem nicht.«

Voll empfänglichen Gemüths dem Genuß der Natur und dem Studium der Künste hingegeben, pflegte er gleichzeitig den Verkehr mit einer Reihe hervorragender Künstler und Gelehrten, die zu jener Zeit in Rom verweilten. Im Hause des preußischen Ministerresidenten Bunsen war er ein häufig[155] und gern gesehener Gast; dort auch vermittelte sich ihm die Bekanntschaft mit vielen seiner berühmten Zeitgenossen. So trat er zu den deutschen Malern Bendemann, Hübner, Lessing, Sohn, Hildebrandt, Schirmer, Schadow, Overbeck und Cornelius in nahe Verbindung, und auch an Horace Vernet und Thorwaldsen schloß er sich mit Innigkeit an; ja der Letztere liebte es, sich während seiner Arbeit häufig vom Spiel seines jungen Freundes begleiten zu lassen. Ein interessanter Umgang bot sich ihm in der Person Baini's, des Capellmeisters der Sixtinischen Capelle, und des Abbate Santini dar, dessen reichhaltige Bibliothek für alte italienische Musik eine wahre Fundgrube für Mendelssohn bildete. Im Uebrigen jedoch entbehrte er – eine kurze Episode mit Berlioz abgerechnet – alles tonkünstlerischen Verkehrs, und die musikalischen Zustände des modernen Italien enthüllten sich seinem klaren Auge in ihrer ganzen Verkommenheit. Nichtsdestoweniger fühlte er sich unablässig zu neuem Schaffen angeregt. »Ich verdanke dem, was nicht die eigentliche Musik ist: den Ruinen, den Bildern, der Heiterkeit der Natur am meisten Musik«, schreibt er an Zelter. So entsteht eine Anzahl vortrefflicher Werke, die von seiner glücklichen Stimmung Zeugniß geben: das erste Heft seiner Lieder ohne Worte op. 19, die unter der gleichen Opuszahl erschienenen einstimmigen Gesänge, der 115. Psalm für Chor und Orchester und einige geistliche Lieder Luther's, sowie »drei Motetten für weibliche Stimmen«, die für die Nonnen auf. Trinità de' monti in Rom geschrieben wurden. Die Ouvertüre zu den »Hebriden« oder der »Fingalshöhle«, dies nordische Stimmungsbild voll tonmalerischer Romantik, wurde vollendet, die »schottische Symphonie« weiter gefördert und eine »italienische« in Angriff genommen, zu deren Scherzo »Lili's Park« von Goethe die ersten Ideen gab. Auch desselben[156] Dichters »erste Walpurgisnacht« erhielt noch vor Mendelssohn's Scheiden aus Italien ihre erste, späterhin umgeschaffene Gestalt. Er entwarf dieselbe zum Theil während seiner Rückreise, die er nach einem längeren Ausflug nach Neapel, im Juni 1831 von Rom aus antrat. Ueber Florenz, Genua, Mailand, die Borromeischen Inseln und die Schweiz begab er sich im September zunächst nach München, woselbst er mit vielem Beifall bei Hofe spielte und in einem eigenen Concert sein neuvollendetes Clavierconcert in G-moll zur Aufführung brachte. Der ihm von der Intendanz des dortigen Theaters ertheilte Auftrag, für letzteres eine Oper zu schreiben, veranlaßte ihn weiterhin zu einer Rheinfahrt nach Düsseldorf, wo er in Immermann den Dichter eines geeigneten Textbuches zu finden hoffte. Doch führten die Unterhandlungen mit ihm, der Shakespeare's »Sturm« für jenen Zweck umarbeitete, zu nicht glücklicheren Resultaten als die später mit Holtei, Böttger, Freund Eduard Devrient und Anderen gepflogenen, und Mendelssohn's Verlangen, sich auch auf dramatischem Gebiet zu versuchen, blieb auf Jahre hinaus unbefriedigt, da er sich mit dem Vorschlag seines Vaters, einen französischen Text zu wählen, nicht zu befreunden vermochte. Französisches Wesen überhaupt sagte seinem von Grund aus deutschen Naturell wenig zu, und selbst ein an Genuß und Anregung reicher Aufenthalt zu Paris, vom December 1831 bis in den April des nächstfolgenden Jahres, ließ ihn nicht recht heimisch dort werden, obgleich er mit den ersten musikalischen Celebritäten der Weltstadt in Verbindung trat und als Componist daselbst wachsende Popularität gewann. Während er sich den Parisern öffentlich und privatim als Claviervirtuos vorstellte und in Gegenwart der Königin Beethoven's G-dur-Concert vortrug, spielte man bei Gelegenheit der Todtenfeier Beethoven's in einer Kirche während des Hochamtes sein Octett,[157] und die Conservatoire-Concerte, denen Mendelssohn selbst »die vollkommenste Ausführung« nachrühmt, »die man irgend sonst hört«, brachten seine »Sommernachtstraum«-Ouvertüre und das A-moll-Quartett mit großem Erfolg zur Aufführung. Auch seine D-moll-Symphonie war für dieselben angenommen, nach der Probe jedoch zurückgelegt worden. Ueber den Choral »Eine feste Burg« bereits zu Beginn des Jahres 1830 geschrieben, ward dieselbe unter dem Namen der »Reformations, Symphonie« erst in der Reihe seiner nachgelassenen Werke veröffentlicht, da Mendelssohn selber sie zurückhielt und mit Recht als eine seiner weniger gelungenen Arbeiten betrachtete.

Im Frühling 1832 vertauschte er Paris mit London, seinem »Lieblingsaufenthalt.« Der Verkehr mit den alten Freunden daselbst, namentlich mit Moscheles, dem berühmten Orientalisten Rosen und Klingemann, dem Dichter mehrerer seiner Lieder, war ihm besonders werth; nicht minder wußte er sich beim Publikum seit seinem ersten Auftreten in dauernder Gunst. Die »Hebriden« gelangten hier zum ersten Mal vor die Oeffentlichkeit, und der Vortrag seines G-moll-Concerts errang einen Erfolg, wie ihn Mendelssohn nach seinen eigenen Worten »wohl niemals im Leben« gehabt. »Die Leute waren wie toll und meinten, es sei mein bestes Stück«, berichtet er nach Berlin. Eine seiner besten und liebenswürdigsten Darbietungen war und bleibt dasselbe gewiß, das uns all die ihm innewohnende Grazie, die Schwärmerei und Noblesse seines Wesens vor Augen führt. Webers Concertstück seiner Natur nach verwandt, steht es doch auf modernerem Boden als dieses und übertrifft dasselbe an jener Zartheit des Ausbaus, die den Werken dieses sensitivsten unserer neueren Componisten ausnahmslos zu eigen ist.

Wie alle seine derartigen Erzeugnisse in Rücksicht auf sein[158] eigenes Pianistenthum geschaffen, bot ihm das neue Werk Gelegenheit zur glänzendsten Entfaltung seiner Mittel und wirkte, von ihm selber vorgetragen, unwiderstehlich. »Wenn es auch kühnere Virtuosen geben mag, in so zauberischer Frische vermag gewiß kaum ein Anderer Mendelssohn's Werk wiederzugeben, als er selbst. Ich denke mir oft, Mozart müßte so gespielt haben«, sagt Robert Schumann von ihm, den er »die gebildetste Kunstnatur unserer Tage« nennt.

Ein Rondo brillant op. 29 und das H-moll-Capriccio op. 22 reisten während des Londoner Aufenthalts. Das erste – Moscheles gewidmet – trägt eine ausgeprägt Webersche Färbung; das letztere klingt in noch erhöhterem Maße als das G-moll-Concert in jenes phantastische Reich, jene »Sommernachtstraum«-Sphäre hinein, in der Mendelssohn's Genius so gern verweilte, sich die reale Welt um ihn her in eine ideale Traumwelt verwandelnd.

Aber auch für ihn, den Glücklichen, kamen einmal umwölktere Tage. Als er nach mehr als zweijähriger Abwesenheit im Juni 1832 in die Heimat zurückkehrte, hatte er nicht allein binnen wenig Monaten drei seiner geliebtesten Freunde: Goethe, Zelter und den ihm besonders nahestehenden jungen Geiger Eduard Rietz durch den Tod verloren; zur Trauer um Jene noch gesellte sich der empfindliche Schmerz über eine unverdiente Zurücksetzung, da man ihm, der sich auf Wunsch seiner Familie um die durch Zelter's Tod erledigte Directorstelle der Berliner Singacademie bewarb, Rungenhagen vorzog Entschädigte ihn auch schon das nächste Jahr durch eine andere seinen Wünschen entsprechende Wirksamkeit, die Spuren dieser ersten Täuschung verwischten sich um so langsamer, je unvorbereiteter dieselbe den bisher vom Glück Verwöhnten, fast weiblich Reizbaren getroffen hatte. Ein tieferer Ernst in Stimmung[159] und Lebensanschauung macht sich fortan bei ihm künstlerisch wie persönlich geltend, und mehr denn sonst tritt in seinem Schaffen jener Zug sanfter Melancholie hervor, der, wenn auch nicht von großen Schmerzen, so doch von ernsten Stunden und gedankenvoller Einkehr in sich selber zeugt.

Das Frühjahr und der Sommer 1833 fanden Mendelssohn schon wieder unter den Londoner Freunden. Seine in Berlin vollendete A-dur-Symphonie (die italienische, op. 90) brachte er im philharmonischen Concert zur Aufführung; dann unterbrach er seinen englischen Aufenthalt, um einer Einladung zur Direction des rheinischen Musikfestes nach Düsseldorf zu folgen. Das Resultat derselben war ein so allgemein befriedigendes, daß man ihn an letzterem Orte dauernd zu fesseln wünschte und ihm die eigens für ihn gegründete Stelle eines städtischen Musikdirectors antrug, die er auch für vorläufig drei Jahre annahm. Er siedelte im Herbst nach Düsseldorf über.

Seine amtliche Wirksamkeit daselbst erstreckte sich auf die Direction des Gesangvereins, der Winterconcerte und der Kirchenmusik; auch übernahm er mit Immermann gemeinschaftlich die Leitung einer Reihe von Theateraufführungen, sogenannter »Mustervorstellungen«. Während aber seine gesellschaftliche Stellung durch das erneute Zusammentreffen mit den ihm schon von Italien her befreundeten Meistern der Academie eine in gleichem Maße angenehme war, als die städtischerseits von ihm bekleidete, entsprach seine Thätigkeit am Theater seinen Neigungen und Wünschen in so geringem Grade, daß er sich nach kurzer Zeit von derselben zurückzog. Nur einige wenige der erwähnten Mustervorstellungen dirigirte er; dann überwarf er sich mit Immermann, der das Schauspiel auf Kosten der Oper bevorzugen wollte, und legte seine Stelle als Musikintendant des Düsseldorfer Theaters nieder. Zwar ließ er sich durch die[160] Bitten des Comités bewegen, noch einige weitere Aufführungen zu leiten, sein Verhältniß zu Immermann aber blieb dauernd gestört, und an den ihm lästigen Verwaltungsgeschäften nahm er fernerhin keinen Antheil mehr. Sehr gemißbilligt ward dieser Schritt des jungen Künstlers von seinem Vater, dem, wie er selbst schrieb, die dramatische Carriere seines Sohnes »sehr am Herzen lag.« Ihm wollte es nicht eingehen, daß Felix' Abneigung gegen das Bühnenwesen in seinem Talent und Charakter begründet sein sollte, und das fortgesetzt ergebnißlose Suchen eines Operntextes betrachtete er nur als eine Folge nicht genügenden Eifers in dieser Beziehung. Und dennoch war es sicherlich sein künstlerischer Instinct, der Mendelssohn hierin leitete. Während sich ihm die Behandlung jeder andern Kunstform leicht und ungezwungen ergab, widerstrebte diese eine realistischste von allen dem Vermögen seiner der »rauhen Wirklichkeit abgekehrten« Natur, mochte ihn auch Zeit seines Lebens das Verlangen nach dramatischem Gestalten nicht verlassen. Gerade die Düsseldorfer Episode mit dem in ihr sich deutlich kundgebenden Widerwillen des Meisters gegen den Bühnenmechanismus bezeugt dies zur Genüge, wie es durch einen späteren Versuch des weiteren beglaubigt wird.

Eine seinen Neigungen ungleich angemessenere, dabei äußerst erfolgreiche Thätigkeit war Mendelssohn bei Leitung der Concert- und Kirchenmusik in Düsseldorf beschieden. Seinen Bestrebungen gelang es, das musikalische Leben daselbst, wie in anderen benachbarten rheinischen Städten, auf eine dort bisher noch nicht erlebte Höhe emporzuheben. Zugleich er wies sich seine Stellung für seine eigene künstlerische Entwickelung äußerst förderlich. Nicht allein, daß sein eminentes Directionstalent, wie seine Fähigkeit, auch mit minder bedeutenden Kräften künstlerische Leistungen zu erzielen, hier vorzugsweise ausgebildet wurde,[161] es bot sich ihm zugleich hinlängliche Muße, Neues zu schaffen und die Gelegenheit, das Neugeschaffene zur Aufführung zu bringen. So lud er einmal sämmtliche Orchestermitglieder zu einem Souper ein, um mit ihnen seine neue »Ouvertüre zum Märchen von der schönen Melusine« zu probiren, jene zarteste Naturpoesie athmende Dichtung, die er selbst als »die beste und innerlichste, die er gemacht«, bezeichnete. Von seinen übrigen in Düsseldorf entstandenen Compositionen sind zunächst ein zweites Heft der Lieder ohne Worte op. 30, die Lieder für eine Singstimme, op. 34, und »drei Volkslieder für Chor« (Heine's »Tragödie« op. 41) zu erwähnen. In den letztgenannten betritt er zum ersten Mal ein Gebiet, auf dem ihm bedeutende Erfolge bestimmt waren. Macht sich schon in seinen Liedern in der häufigen Wiederkehr gewisser harmonischer Wendungen und Formeln, dem Vorwalten der Melodik über die Harmonik, der Gesammtstimmung über die Einzelstimmung ein volksthümliches Element geltend, so gelangt dasselbe in seinen vierstimmigen Gesängen – ein so salonfähiges Aeußere dieselben tragen – zu noch entschiednerem Ausdruck. Hier fühlt er sich in der ihm natürlichen Sphäre, seine Eigenart findet sich nirgend gehemmt, nirgend sieht sie Ansprüche an sich gestellt, die nicht in den Grenzen ihrer Begabung und Neigung lägen. Was Mendelssohn's einstimmigen Liedern im Verhältniß zu denjenigen Schubert's und Schumann's eine mindere Bedeutsamkeit giebt, jener schon erwähnte Mangel an Schärfe der Charakteristik und dichterischer Individualisirung im Einzelnen, läßt ihn, insofern es mit einem feingebildeten Sinn für Gesammtstimmung Hand in Hand geht, in seinen Chorgesängen um so größer erscheinen. Und in der That liegt in eben dieser Richtung eine der wesentlichsten Seiten, seiner Bedeutung. Mit diesen Chorliedern gab er der ganzen[162] Gattung eine neue Basis und führte dieselbe, seine an Bach und Händel geschulte Technik des Chorsatzes verwerthend und gleichzeitig seine eigene Individualität, wie den Musikgeist seiner Zeit darin widerspiegelnd, selbst zu hoher Vollendung.

Die ihrem äußeren Umfange wie ihrer inneren Bedeutung nach hervorragendste schöpferische That der Düsseldorfer Epoche: das im Jahr 1833 begonnene Oratorium »Paulus«, war, obwohl schon rüstig vorwärts geschritten, doch noch nicht zum Abschluß gekommen, als Mendelssohn im Juli 1835, nachdem er zuvor noch das in Cöln stattfindende niederrheinische Musikfest geleitet hatte, von Düsseldorf schied, um einem Rufe nach Leipzig als Dirigent der »Gewandhaus-Concerte« Folge zu leisten. Am 4. October erschien er zum ersten Mal vor der Zuhörerschaft derselben. Seine Ouvertüre: »Meeresstille und glückliche Fahrt« eröffnete das Concert und ward lebhaft applaudirt. So begann er, von wärmsten Sympathien begrüßt, eine Thätigkeit, der er eine Reihe von Jahren seine Kräfte widmete, inmitten eines Ortes, dem er hinfort bis an sein frühes Ende mit Liebe angehörte.

Was Mendelssohn dem Musikleben Leipzigs geworden, ist bekannt, und wie dies letztere ihm zunächst seine musikalische Weltberühmtheit dankt. Als einer Pflegestätte der Tonkunst, die es von Alters her gewesen, schuf er es zu einer Metropole derselben um, die lange Zeit hindurch die musikalische Suprematie in Deutschland behauptete. Als Dirigent, als Clavierspieler und Componist, ja später auch als Lehrer gleichzeitig wirkend, war er nicht allein berufen, das seiner Leitung anvertraute alte Kunstinstitut zu ungeahnter Bedeutung emporzuführen: er ward auch der geniale Bildner des großen Publikums, der in höherem Grade als irgend einer der ihm vorangegangenen und nachfolgenden Meister, den künstlerischen Sinn[163] desselben vertiefen und verbreiten, den Geschmack läutern und veredeln half. So ist es gekommen, daß die Zeit, in der Mendelssohn in Leipzig lebte und wirkte, noch heute als »die goldene Zeit« in Aller Herzen lebt, die sich derselben einst erfreuen durften. Es war die musikalische Glanzepoche Leipzigs, und in der That, solch reicher Glanz entströmte ihr, daß die alte Musikstadt noch heute von dem Lichte dieser längst untergegangenen Sonne lebt und von dem Ruhme dessen zehrt, den schon fast vier Jahrzehnte die Erde deckt.

Indessen fand sich der Meister selber so angemuthet von seinem neuen Wirkungskreis, daß er sich im Vergleich zu dem eben verlassenen »im Paradiese glaubte.« Die Liebenswürdigkeit und Heiterkeit seines Wesens, seine seltenen geselligen Talente machten ihn binnen kurzem zum Mittelpunkt der Gesellschaft; ja die Verehrung für ihn steigerte sich bis zu einem wahren Cultus. Auch auf das Orchester wirkte er wahrhaft elektrisirend, und wer ihn jemals dirigiren sah, begreift die zündende Macht, mit der er sich die einzelnen Orchestermitglieder mehr noch durch seine Blicke als durch seinen Tactstock unterwarf und in begeisterter Hingebung zu eigen machte. »Meine Stellung hier«, schreibt er einem Freunde, »ist von der allerangenehmsten Art. Willige Leute, ein gutes Orchester, – das empfänglichste, dankbarste musikalische Publikum, – dabei gerade so viel zu thun, als mir lieb ist, Gelegenheit, meine neuen Sachen sogleich zu hören; auch hübschen Umgang habe ich vollauf, und das wäre wohl alles, was man zum Glück brauchte, wenn das nicht tiefer säße!« Die letzteren Worte beziehen sich auf einen schweren Verlust, den Mendelssohn nur wenige Wochen nach seiner Uebersiedelung nach Leipzig erfahren: den am 19. November 1835 erfolgten Tod seines Vaters. Der glücklichste, harmonischste Familienkreis war damit seines Hauptes[164] beraubt, und der junge Musiker, dem bisher nur selten ein ernsterer Schmerz genaht, ward durch dies plötzliche Ereigniß tief getroffen. »Ich habe an meinem Vater so ganz und gar gehangen«, äußerte er, »daß ich nicht weiß, wie ich mein Leben nun fortsetzen werde, weil ich nicht blos den Vater entbehren muß, sondern auch meinen einzigen ganzen Freund während der letzten Jahre und meinen Lehrer in der Kunst wie im Leben.« Aber er gelobt sich in seinem Sinne weiter zu arbeiten und fortzuschreiten, weil »sein Hauptwunsch das Fortschreiten war.«

Wie treu er an der Bethätigung dieses Vorsatzes festgehalten, weiß die Welt. Der flüchtigste Blick auf seine Leistungen schon bekundet, daß er ein Recht hatte zu sagen: »Ich habe durchaus nicht eine Philosophie, die mir Bequemlichkeit anräth oder doch wenigstens entschuldigt.« So führte er schon in der ersten Zeit seiner Wirksamkeit in Leipzig manche heilsame Neuerung ein. Während nach der auch hier noch üblichen alten Praxis bisher der Concertmeister vom er sten Geigenpult aus die Orchesteraufführungen leitete, übernahm Mendelssohn nun die Direction derselben aus der Partitur. Auch ließ er sich's angelegen sein, die Zuhörerschaft mit den Werken neuerer vie älterer Meister – namentlich mit den unbekannteren Schöpfungen Bach's, Händel's und Beethoven's – bekannt zu machen, und brachte beispielsweise des Letzteren neunte Symphonie schon in den ersten Wochen des Jahres 1836 zu wahrhaft epochemachender Aufführung. Gleichzeitig machte er sich durch den Gewinn junger hevorragender Kräfte, wie in erster Linie des ihm nahe befreundeten Geigenvirtuosen Ferdinand David, verdient, der im Februar 1837 als Concertmeister in das Gewandhausorchester eintrat und mit Mendelssohn gemeinsam die Kammermusikaufführungen zu gleichem Ruf wie die Concerte brachte, inzwischen aber auch (seit 1873) dem Leipziger Kunstleben[165] entrissen worden ist. Von Mendelssohn angezogen, erschienen auch andere Künstler – so bald nach seiner Ankunft Moscheles und Chopin, wie später Hiller, Gade, Berlioz u. A. – als mehr oder minder flüchtige Gäste in Leipzig. Seinen jüngeren Berufsgenossen war er immer ein unermüdlicher Freund; wohlwollend im Urtheil, hüfreich in Rath und That, hat er sich von Jeglichem finden lassen, der ihn suchte.

Einer so ausgedehnten praktischen Thätigkeit gegenüber erscheint die Beschränkung seiner schöpferischen als natürliche Folge, und so ergab sich als künstlerische Ausbeute der Jahre 1835 und 36 denn auch im Wesentlichen nur eine Reihe von »Präludien und Fugen für Pianoforte« op. 35 und die Vollendung des »Paulus.« Gelangt in jenen Ersteren schon das Bestreben Mendelssohn's zum Ausdruck, die alten Formen mit neuem Geist zu erfüllen und an die Stelle kalter Satzkünsteleien das Melodische der Cantilene, ein warmes, individuelles Leben zu setzen, so kommt dasselbe in ähnlicher Weise in letztgenanntem Werke zur Erscheinung. Die Passion Bach's, das Oratorium Händel's zeigen sich verjüngt in dieser aus der Gefühlsatmosphäre des neunzehnten Jahrhunderts herausgewachsenen Schöpfung; auch wenn sie, das Resultat eines von Grazie und Frohmuth erfüllten jugendlichen Geistes, sich nicht zu messen vermag an der unergründlichen Tiefe dieses Einen und der grandiosen Gewalt jenes Andern. Die alte Strenge und Herbheit der Empfindung und Formgebung erscheint gemildert, moderner Gefühlsromantik angepaßt. An die Stelle des jene älteren Tonwerke voll und ganz durchdringenden innersten Glaubenslebens ist eine mehr poetische als religiöse Anschauung des Christenthums und seiner Verlebendigung im Kunstwerk getreten. Der Gang der Handlung, das Auftreten des Chorals, die Theilung des Chors und der Einzelnen in handelnde und betrachtende Massen[166] und Personen hält sich an das Vorbild der Matthäus-Passion. Eine bevorzugte Stellung ist dem Chor eingeräumt, der nach antikem Muster zumeist nur betrachtend oder mitempfindend eintritt, die Erzählung jedoch nicht wie in der Bach'schen Passion (im Evangelisten) personificirt, sondern in verschiedene Stimmen vertheilt. Herrscht im Ganzen das lyrische Element vor, so offenbaren doch einzelne Stellen eine dramatische Wirkung. Leider nur fehlt eine stetig sich entwickelnde, consequente Steigerung. Bereits mit dem ersten Theil erscheint der Höhepunkt erreicht, und nach der verklärten Stimmung der Stephanus-Episode dämpft sich die Wirkung der folgenden Scenen fühlbar ab. Dennoch bleibt der »Paulus« eine der edelsten Thaten kirchlicher Kunst: »ein Werk des Friedens und der Liebe«, wie Robert Schumann ihn bezeichnet.

Die künstlerische Persönlichkeit Felix Mendelssohn's war überhaupt ihrem innersten Wesen nach eine friedliche, nicht die eines kühnen Neuerers. Nicht eigentlich bahnbrechend hat er gewirkt, nicht eine neue Welt ureigenthümlicher Ideen an's Licht gerufen. Wohl ist sein Leben und Streben Fortschritt gewesen; doch jener Fortschritt, der sich seinem künstlerischen Bewußtsein als der ihm allein gemäße ergab: ein Fortschritt aus der Gegenwart durch die Vergangenheit hindurch; ein Fortschritt, der zugleich ein Zurückgreifen in sich faßte, mehr ideeller, als formeller Natur, und darum widerstandslos aufgenommen, während neue Formen sich erst mühsam Bahn gewinnen müssen. Ob auch vielfältig nachgeahmt von kleineren Geistern, hat doch Keiner ihn nur annähernd zu erreichen, Keiner seine Bahnen in Wahrheit weiter zu führen vermocht. Das schöne Werk der Versöhnung alten und neuen Geistes war ihm beschieden und ward von ihm glorreich hinausgeführt; den späteren Meistern dagegen blieb die undankbarere Aufgabe[167] vorbehalten, einen den modernen Empfindungen und Anschauungen entsprechenden Ausdruck, eine aus ihrem Geiste sich herausgestaltende Form erst zu gewinnen.

Am 22. Mai 1836, bei Gelegenheit des von Mendelssohn geleiteten rheinischen Musikfestes, trat der »Paulus« in Düsseldorf zum ersten Mal vor die Oeffentlichkeit. Der Componist fand sein Werk durch Julius Rietz schon auf das sorgfältigste vorbereitet, und »mit Liebe und unglaublichem Feuer«, wie er selbst es rühmt, gaben sich die Mitwirkenden demselben hin. So war der Erfolg ein glänzender. Nur der Künstler selbst fand sich damit noch nicht zufriedengestellt. Die strengste Kritik pflegte er an seinen eigenen Werken zu üben. Bekennt er doch selbst: »Es gelingt mir in manchem, namentlich in Nebensachen, bei so einer größeren Arbeit erst nach und nach, meinem eigentlichen Gedanken nahe zu kommen und ihn recht klar hinzustellen; bei den Hauptsachen und Hauptstücken kann ich freilich nachher nichts mehr ändern, weil sie mir gleich so einfallen; aber um das auch von allem sagen zu können, bin ich noch nicht weit genug.« Darum machte er sich gern die bei der ersten Aufführung gesammelten Erfahrungen für eine letzte Ueberarbeitung zu Nutze. So nahm er denn, kaum in Frankfurt am Main angekommen, woselbst er in Vertretung seines erkrankten Freundes Schelble für mehrere Wochen die Direction des »Cäcilienvereins« übernommen hatte, eine bedeutende Umänderung des »Paulus« vor und verkürzte ihn um nicht weniger als neun Nummern. In dieser Gestalt hielt das Werk dann seinen Triumphzug durch die musikalische Welt und erlebte schon in dem kurzen Zeitraum von anderthalb Jahren mehr denn fünfzig Aufführungen, dem Namen seines Urhebers eine erste Stelle unter seinen musikalischen Zeitgenossen erobernd.[168]

Während dieses Sommeraufenthalts in Frankfurt vollzog sich noch ein Ereigniß von hoher Bedeutung für Felix Mendelssohn: in der holden Gestalt Cécile Jeanrenaud's, der Tochter eines Predigers der reformirten Kirche daselbst, fand er das Ideal seines Herzens und seine Braut. Im Frühling des nächsten Jahres führte er sie, nachdem ihn der Winter wieder in seiner Leipziger Thätigkeit gesehen, als seine Gattin heim und lebte beglückt und beglückend mit ihr im harmonischsten Bunde.

Den Sommer nach seiner Vermählung brachte er in Frankfurt und am Rheine zu. Das Clavier-Concert inD-moll op. 40, der 42. Psalm und das E-moll-Quartett op. 44 sind Früchte jener sonnigen Zeit. Im September dirigirte er beim Birminghamer Musikfest mit außerordentlichem Erfolg seinen »Paulus«; dann kehrte er wieder nach Leipzig zurück, das ihm und seinen Werken immer enthusiastischer ergeben ward. Einer bereits im vorhergegangenen Jahre mit vielem Glück von ihm geleiteten großen Aufführung von Händel's »Israel in Egypten« ließ er nun desselben Meisters »Messias« folgen; weiter veranstaltete er eine Reihe sogenannter »historischer« Concerte, darin er den gesammten Entwickelungsgang der Tonkunst von Bach bis auf die Jetztzeit durch einzelne hervorragende und charakteristische Werke vorführte. Immerdar von dem Grundsatze geleitet: »wenigstens ein Stück auf dem Programm zu haben, wodurch man möglicher Weise einen Fortschritt nachweisen könne«, brachte er, nach einem großentheils in Berlin verlebten Sommer, im nächstfolgenden Winter unter Anderen die von Robert Schumann aufgefundeneC-dur-Symphonie Schubert's zuerst auf's Repertoire, dirigirte er auch 1838 und 39 wieder die rheinischen Musikfeste zu Cöln und Düsseldorf.[169]

Seine schöpferische Thätigkeit blieb nach wie vor eine vielseitige, und erscheinen als erheblichste Producte der Jahre 1838 und 39 der 95. und 114. Psalm für Chor, Solo und Orchester, Serenade und Allegro giojoso op. 43, die Quartette in D- und Es-dur op. 44, das D-moll-Trio op. 49, die Sonate für Clavier und Cello op. 45, eine Orgelsonate op. 65 (Nr. II.), eine große Anzahl ein- und mehrstimmiger Gesänge und die Ouvertüre zu Victor Hugo's Drama »Ruy Blas«. Diese letztere, schnell entworfene Arbeit gehört, trotz ihres äußeren Glanzes, nicht zu den werthvolleren Gaben Mendelssohn's, ob seine Ouvertüren auch im Ganzen, als wirklich neue Erscheinungen ihrer Art, seine Symphonien und Kammercompositionen hinter sich zurücklassen.

Das Jahr 1840 brachte eine größere Composition Felix Mendelssohn's zur Reise: seinen »Lobgesang«. Neben mehreren kleineren Festgesängen, zur Feier des vierhundertjährigen Jubelfestes der Erfindung der Buchdruckerkunst geschrieben, kam derselbe am 25. Juni 1840 in der Thomaskirche zu Leipzig zur Aufführung. Als »Symphoniecantate« hat der Componist sein Werk bezeichnet und dem vocalen Theil drei symphonische Orchestersätze vorausgehen lassen, so daß die Form an Beethoven's neunte Symphonie erinnert, sich aber von dieser wiederum durch unmittelbaren Anschluß der einzelnen Sätze aneinander unterscheidet. Manches darin verblaßte mit der Zeit; doch findet sich daneben auch vieles noch heute Wirksame, Geniale. So der erste Symphoniesatz, der erste Chor, die dramatische Frage des Tenorsolo: »Hüter, ist die Nacht bald hin?« und ihre jubelnde Beantwortung durch den Chor. – Auch als Orgelspieler bewunderte das musikalische Leipzig Mendelssohn, als er zum Besten eines für Sebastian Bach zu errichtenden Denkmals ein Orgelconcert, und zwar, wie er[170] schreibt, »solissimo« veranstaltete. Durch so übermäßige Anstrengungen in seiner Gesundheit erschüttert, erkrankte er kurze Zeit darauf nicht unbedenklich; leitete aber dessen ungeachtet, kaum genesen, im September wieder das Musikfest zu Birmingham, wo, ebenso wie in einem späteren Gewandhaus-Concert, sein »Lobgesang« neue Triumphe feierte. Den vollen Umfang seines ungewöhnlichen Directionslatentes namentlich fand er zu bekunden Gelegenheit, als er im April 1841 Bach's »Matthäus-Passion« zur Aufführung brachte. Mit diesem für Leipzig bedeutungsvollen musikalischen Ereigniß schloß er vorläufig seine erste mehrjährige Wirksamkeit hierselbst ab, um im Juli einem ehrenvollen Ruf nach Berlin zu folgen.

Nur ungern schied Mendelssohn aus einer Stadt, in deren Mitte er sich als Mensch wie als Künstler in gleichem Maße geliebt und heimisch fühlte und deren blühendes Kunstleben zum großen Theil seine eigene Schöpfung war. Es war ein dankbarer Boden, auf dem er hier wirkte, und mannigfache Beweise dessen waren ihm von Anbeginn seiner Thätigkeit zugekommen. So hatte ihn die Universität Leipzig bereits im Jahre 1836 honoris causa zum Doctor philosophiae ernannt, der König von Sachsen ihn fünf Jahre später zu seinem Capellmeister erhoben, während man andererseits seine Verdienste auch dadurch würdigte, daß man seiner Stimme in Fragen der Kunst einen entscheidenden Einfluß gestattete. Ein von ihm gestellter Antrag auf Gehaltserhöhung der sehr bescheiden honorirten Orchestermitglieder fand beispielsweise, gleich einem der Regierung unterbreiteten Vorschlag, eine vorhandene ansehnliche Stiftung (die Hofrath Blümner'sche) zur Gründung einer Musikschule in Leipzig zu verwenden, Genehmigung. Nur des Künstlers Uebersiedelung nach Berlin verzögerte die Ausführung dieses letzteren Planes.[171]

Nicht lange aber war seines Bleibens in der preußischen Hauptstadt. Von dem kunstsinnigen Friedrich Wilhelm IV. als Capellmeister dahin berufen, sah er sich gleichwohl in keinen bestimmten Wirkungskreis gestellt. Im Plane des Königs lag es, die Academie der Künste umzugestalten und auf die vier Classen Malerei, Sculptur, Architectur und Musik zu erweitern, deren vier Dirigenten die Oberleitung über die gesammte Academie wechselnd führen sollten, wobei Mendelssohn als Dirigent der als ein großes Conservatorium gedachten musikalischen Abtheilung ausersehen war. Hindernisse aller Art stellten sich jedoch der Ausführung dieses Projectes entgegen, und von dem musikalischen Leben Berlins ebensowenig als von einer Stellung ohne bestimmte Befugnisse befriedigt, kehrte Mendelssohn schon nach Ablauf eines Jahres nach dem ihm liebgewordenen Leipzig zurück.

Seine öffentliche Thätigkeit hatte sich während seines Berliner Aufenthaltes lediglich auf die Direction einiger Concerte, sowie auf die Aufführung seiner »Antigone« beschränkt, welche er auf Veranlassung des Königs geschrieben. Einer der verbreitetsten Schöpfungen des Meisters treten wir in diesem Werk gegenüber, das schon als der erste Versuch einer Verbindung der antiken Tragödie mit moderner Musik bedeutsam erscheint. Von früher Jugend an von classischem Geiste genährt und seinen Schönheitssinn an Studien der Antike bildend, trug Mendelssohn – mochte ihm auch das eigentlich Großartige, machtvoll Geniale des Wurfes fehlen, wie es antike Gestaltung verlangt – noch immer in höherem Grade als Andere die Befähigung zu einer derartigen, wohl nie in vollkommen befriedigender Weise zu lösenden Aufgabe in sich. Die Wirkung der die Sophokleische Dichtung begleitenden Musik war denn auch eine bedeutende, als Erstere mit Hülfe Tieck's in Scene[172] gesetzt, am 6. November 1841 zum ersten Mal über die Potsdamer Hofbühne ging, und ein noch gesteigerter Eindruck gab sich bei einer Wiederholung in denselben Räumen, sowie bei der öffentlichen Aufführung im Schauspielhause zu Berlin und im Leipziger Stadttheater kund.

Ebenso verdiente sich ein zweites großes Werk, das während des Berliner Aufenthaltes zur Vollendung kam: die A-moll-Symphonie op. 56, die er im Juni 1842 im philharmonischen Concert zu London zur Aufführung brachte, nachdem er zuvor wieder das rheinische Musikfest geleitet hatte, beim ersten Eintritt in die Oeffentlichkeit allseitigen Beifall. Es ist dies die unter dem Namen der »schottischen« bekannt gewordene Symphonie, zu der Mendelssohn, wie bereits erwähnt, während seiner Reise nach Schottland im Jahre 1829 schon die Anregung empfangen und die ihn auch in Italien beschäftigt hatte. Gleich der früher beendeten A-dur-Symphonie trägt auch sie ein volksthümliches Colorit an sich, das ihnen beiden einen gewissen verwandtschaftlichen Zug mit derC-dur-Symphonie Franz Schubert's giebt. Von Pathos, imposanter Tiefe und Beethoven'scher Gewalt ist nichts in ihnen zu spüren; dafür jene Grazie und Zartheit des Baus, jene durchsichtige Klarheit der Empfindung und Darstellung, jene instrumentale Eleganz, die Mendelssohn's Werke mit eigenem Liebreiz umkleiden. Ein eigenthümlich nordisch-romantisches Element durchzieht sie beide; auch die»italienische Symphonie« befreit sich, außer im Saltarello, nicht von einer mehr nordischen als südlichen Färbung, die in der »schottischen Symphonie« zu vollstem Ausdruck gelangt. An innerer Bedeutung erscheint die letztgenannte der ersten überlegen; weist ihr doch Hans von Bülows Urtheil geradezu unter allen Nach-Beethoven'schen Symphonien als abgeschlossenes Kunstwerk den ersten Rang an.[173]

Nachdem Mendelssohn den Rest des Sommers theils in Frankfurt, theils in der Schweiz verbracht, traf er mit Beginn der Saison in Leipzig ein, um die Leitung der Concerte, die während des vergangenen Winters seinem Freund David übertragen worden war, wiederum zu übernehmen. Ein kurzer Aufenthalt in Berlin war nur bestimmt, sein Verhältniß daselbst ganz zu lösen. Er erbat sich in dieser Absicht eine Audienz bei seinem königlichen Gönner. Dennoch wußte dieser den Widerstrebenden durch das Versprechen zu fesseln, nach Berlin zurückzukehren, sobald sich ein geeigneter Wirkungskreis für ihn darböte. Als ein neues Zeichen der Gunst Friedrich Wilhelm's, die sich schon durch Verleihung des Ordens »pour le mérite« kundgegeben, ward er bald darauf mit der »Oberleitung der kirchlichen und geistlichen Musik« in Preußen und dem Titel eines General-Musikdirectors des Königs betraut.

Die amtliche Thätigkeit des Meisters in Leipzig weist als interessanteste Erscheinung dieses Winters die Aufführung seiner Concertballade »Walpurgisnacht« auf, des in Italien geschaffenen, im Jahre 1842 aber durchgreifend umgestalteten Werkes, darin sich alle seiner Individualität charakteristischen Züge in anziehender Weise vereint finden. Eine vom Componisten ungeahnte Neubelebung erfuhr dasselbe 30 Jahre später, indem die Münchener (1870) und Wiener Hofopernbühne (1876), ähnlich wie früher das Leipziger Theater, es zu scenischer Darstellung brachten, welche sich freilich mehr als interessantes Experiment, denn als belangreicher Gewinn erwies.

Mit Mendelssohn's Rückkehr nach Leipzig war auch endlich die Realisirung des Planes gesichert, den er, wie schon erwähnt, in's Leben gerufen und dessen Gedeihen er auf das eifrigste gefördert hatte: die Gründung eines Conservatoriums daselbst.[174] Im Januar 1843 ward bereits das allgemeine Programm der neuen Anstalt ausgegeben und dieselbe unter Protection des Königs von Sachsen am 3. April eröffnet. Mendelssohn selbst übernahm, außer dem mit Robert Schumann gleichzeitig ertheilten Unterricht in der Composition, noch das Instrumental-, Jener das Clavierspiel, Moritz Hauptmann Contrapunkt und Harmonielehre; Ferd. David stand dem Violin-, Becker dem Orgel-, Wenzel und Plaidy gleichfalls dem Pianofortespiel, Böhme und Frau Grabau-Bünau dem Gesange vor. Binnen kurzem nahm das junge Institut den lebhaftesten Aufschwung, und eine große Anzahl begeisterter Kunstjünger scharte sich um ihn, der den eigentlichsten Anziehungspunkt desselben bildete und dessen Richtung sie wiederum dankbar in der Welt verbreiten halfen.

Den Sommer 1843 verlebte Mendelssohn zum größten Theil in Leipzig, einigen ihm vom König van Preußen übertragenen Arbeiten, wie der Beschäftigung mit seinem »Elias« hingegeben – einem Oratorium, das er seit längerer Zeit schon in Angriff genommen hatte, nachdem er seinen früheren Plan, seinem »Paulus« einen »Petrus« zur Seite zu stellen, wieder verworfen. Als in Berlin inzwischen mit dem königlichen Domchor ein Institut in's Leben getreten war, dessen Oberleitung man ihm zu übertragen gedachte, begab er sich zu Beginn des August zur Stelle und dirigirte bereits kurz nach seiner Ankunft die erste kirchliche Aufführung desselben, dessen Hauptaufgabe in Uebernahme der Gesänge beim Gottesdienst in der Domkirche bestand. Da jedoch die von ihm befürwortete Verwendung der Instrumentalmusik zur Begleitung des Gesanges vielfältiger Opposition begegnete, nahm er an den ferneren Aufführungen des Instituts nur noch in einzelnen Fällen Antheil. Dagegen ließ er sich zur Leitung der von der königlichen Capelle[175] gegebenen Symphonie-Concerte bereit finden; auch führte er am 14. October auf der Potsdamer Hofbühne und wenige Tage später im Berliner Schauspielhause ein neues eigenes Erzeugniß vor: die Musik zu Shakespeare's »Sommernachtstraum«.

Wer wüßte nicht, daß jene duftigste Blüte der Mendelssohn'schen Kunst allenthalben Eingang und Anklang gefunden, daß wir die Wiedergeburt des köstlichen Märchens des britischen Dichters auf unserer Bühne ihr allein danken! In glücklicher Gemeinschaft paart sich darin dem literarischen ein musikalisches Meisterwerk. Schon Beethoven war, als er seine Musik zu Goethe's »Egmont« schrieb, mit einer ähnlichen That vorangegangen, ohne jedoch, ebensowenig wie der ihm nachfolgende Weber in seiner »Preciosa«, eine völlige Einigung zwischen der Poesie des Wortes und des Tones zu erzielen. Vollständiger als der große classische Meister geht der romantische, der auch dem Chor Eingang gestattet, hier in seinem Gegenstande auf und gewinnt seiner Kunst einen unmittelbareren Antheil an der des Dichters, dieselbe nicht nur illustrirend, sondern vielmehr ergänzend und verklärend. Freilich erwies sich auch die Stoffwahl des Jüngeren der tonkünstlerischen Behandlung in höherem Grade günstig als diejenige seines Vorgängers, und obendrein zeigt sich der zu gestaltende Gegenstand mit der individuellen Begabung Mendelssohn's auf das glücklichste übereinstimmend.

Ungleich fremder stand sein künstlerisches Naturell Racine's »Athalia« gegenüber, deren Musik er – ebenso wie »Antigone«, »Sommernachtstraum« und den späteren »Oedipus« – auf Wunsch des Königs schuf. Ursprünglich nur für weibliche Stimmen mit Pianofortebegleitung geschrieben, wurden die Chöre 1844 in einem Hofconcert in Berlin zum ersten Mal aufgeführt, im nächsten Jahre aber erst zu ihrer jetzigen Gestalt für gemischten[176] Chor und Orchester umgeformt. Die dazu gehörige Ouvertüre ward 1844 in London hinzucomponirt.

Als weitere wesentlichere Resultate des Jahres 1843 sind mehrere liturgische Gesänge für den Domchor, die Cello-Sonate op. 58, die Concert-Arie für Sopran mit Orchester op. 94, die Alt-Hymne op. 96 und eine Anzahl Lieder mit und ohne Worte zu erwähnen, denen im darauffolgenden Jahre wiederum eine Reihe Psalmen und Lieder, die Orgelsonaten op. 65 und das schöne Violin-Concert in E-moll op. 64 folgten, welches für Ferdinand David geschrieben und ihm gewidmet ward.

Ein ihn nach der rastlosen Thätigkeit der vorhergegangenen Monate (er concertirte im Sommer 1844 wieder in London und leitete das pfälzische Musikfest in Zweibrücken) überkommendes Ruhebedürfniß bestimmte Mendelssohn, sich im Winter 1844–45 nach Frankfurt zurückzuziehen und dort nur der Ausführung einiger begonnenen Arbeiten zu leben. Somit kehrte er, wie er sein Dienstverhältniß in Berlin gelöst hatte, für dies Jahr auch nicht in seinen Leipziger Wirkungskreis zurück. Erst im Frühjahr trat er mit seiner Thätigkeit am Conservatorium in den letzteren wieder ein und übernahm auch von dem kommenden Herbst an bis zu seinem frühen Hinscheiden mit nur vereinzelten Unterbrechungen von neuem die Direction der Gewandhausconcerte, von dem als Mitdirigenten engagirten Niels W. Gade dabei unterstützt.

Das Ergebniß des Frankfurter Stilllebens: sein »Oedipus in Kolonos«, erschien im November 1845 auf der Hofbühne zu Potsdam und Berlin, erzielte jedoch, gleich der im December aufgeführten »Athalia«, einen geringeren Erfolg als seine vorhergegangenen Schöpfungen. Den königlichen Auftrag, auch die Aeschylei'schen »Eumeniden« in Musik zu setzen, hatte er abgelehnt. Sein künstlerisches Gewissen gestattete ihm nicht, sich[177] mit einem Texte zu befassen, zu dem er sich nicht in innerer Beziehung fühlte. »Einen Text, der mich nicht ganz in Feuer setzt,« schreibt er an Devrient, »componire ich nun einmal nicht.« »Aus dem Herzen kommen« mußte ihm seine Musik, – einen anderen Quell schöpferischer Thätigkeit kannte er nicht. Weder um den Preis der Popularität, noch um die Gunst der Großen hat er jemals mit unkünstlerischen Zugeständnissen geworben; freiwillig jedoch warf das Glück ihm, seinem Liebling, diese Gaben in den Schos. Ehren über Ehren häuften sich auf seinem Haupte, auch gelegentlich der Musikfeste in Aachen, Lüttich, Cöln und Birmingham (1846); den großartigsten Erfolg aber trug er an letztgenanntem Orte mit seinem »Elias« davon.

Ueber den Werth dieses Oratoriums im Verhältniß zum »Paulus« ist vielfach gestritten worden, und wechselnd hat man ihm bald eine höhere, bald eine niedrere Stelle als jenem zugewiesen. Als die That eines gereiften Mannes stellt sich der »Elias« im Gegensatz zu »Paulus«, dem Jugendwerk voll Feuer und ursprünglicherer Erfindung, dar. Bot das Leben des Apostels ein abgeschlosseneres Bild als das des alttestamentlichen Propheten, das, in keinem bestimmten Ereigniß gipfelnd, sich in der Darstellung unseres Künstlers nur aus einzelnen Situationen zusammenreiht, ohne stetig sich entwickelnde Handlung und Steigerung, so hatte hinwiederum der alttestamentarische Hintergrund vor der abstracten apostolischen Welt den Vortheil eines lebendigeren Realismus, einer mannigfaltigeren Scenerie und sinnlichen Erscheinungsfülle voraus, die dem tonmalerischen Vermögen reichen Spielraum eröffnete. Den Text stellte Mendelssohn sich selbst, wie früher im »Paulus«, mit Hülfe seines theologischen Freundes Schubring aus Bibelworten zusammen, dabei in höherem Grad als bei dem ersten Oratorium ein Streben nach dramatischer Wirkung verfolgend. So erscheint die Erzählung[178] hier gänzlich ausgeschieden, und die handelnden Personen werden ohne weiteres redend eingeführt. Freilich zerfällt auf diese Weise das Ganze in eine Folge einzelner Bilder und Scenen, die allein durch die Figur des Elias äußerlich mit einander verbunden sind, ohne sich in innerer Nothwendigkeit organisch auseinander herauszugestalten. Nichtsdestoweniger erhebt es sich am Schluß des ersten Theils zu gewaltiger dramatischer Gipfelung, der leider nur im zweiten Theil mit seinen lyrischen Contrasten ein um so unaufhaltsamerer Niedergang folgt.

Der Eindruck, den das Werk bei seiner ersten Aufführung am 25. August 1846 hervorrief, war ein selbst den Componisten überraschender. »Noch niemals,« schreibt er seinem Bruder, »ist ein Stück von mir bei der ersten Aufführung so vortrefflich gegangen und von den Musikern und den Zuhörern so begeistert aufgenommen worden, wie das Oratorium,« und anderwärts: »ich zweifle fast, ob ich dergleichen wieder werde hören können, weil eben so vielerlei Günstiges gerade hier zusammentraf.«

Mit dem Herbst begann Mendelssohn wieder seine Thätigkeit in Leipzig, dessen Conservatorium er in Ignaz Moscheles (†1870) eine neue, ruhmreiche Stütze erworben hatte. Doch eine gewisse Müdigkeit, ein immer sehnsüchtigeres Ruhverlangen, wie es ihn sonst nur vorübergehend überkommen war, macht sich jetzt mehr und mehr bei ihm fühlbar. Die äußerlichen Berufsgeschäfte beginnen ihm lästig zu werden und ernster beschäftigt ihn der Gedanke, jede feste Stellung aufzugeben und als freier Künstler zu leben. »Ich denke jetzt schon täglich daran,« schreibt er seiner Familie, »ob ich nicht den Sommer in schöner Gegend (etwa am Rhein) und den Winter in Berlin zubringen kann, ohne öffentliche Verpflichtung«. Es zieht mich zu den Leuten, mit denen ich Kindheit und Jugend genossen habe und deren Erinnerungen und Freundschaft und Erlebnisse die meinigen sind.[179]

Während aber seine Phantasie solchergestalt bei der Zukunft verweilte, brachte sie auch der Gegenwart ihren Tribut. Noch in seinem letzten Lebensjahr (1847) sehen wir ihn der Ausführung zweier Pläne hingegeben, die er schon längere Zeit mit sich herumgetragen hatte: dem Oratorium »Christus« und der Oper »Loreley«. Mit erstgenanntem Werke gedachte er eine Trilogie abzuschließen, die in Elias, Paulus und Christus die drei Grundpfeiler des Reiches Gottes auf Erden zum Gegenstand haben sollte. Doch nur einige Recitative und Chöre aus dem ersten und zweiten Theil des Werks – der Geburt und dem Leiden Christi – sind fertig auf die Nachwelt gekommen. Sie mögen durch Bach's Passion mannigfach angeregt worden sein, ob sie auch in Stimmung und Empfindung eine viel modernere und freiere Haltung behaupten. Die Chöre zählen zu den besten derartigen Werken des Künstlers, ja sie übertreffen an dramatischer Wirksamkeit und Vollendung der Declamation selbst zum Theil die des »Elias«.

Sein Lebenlang hatte Mendelssohn vergeblich nach einem ihm zusagenden Opernbuch gesucht; als er ein solches nun endlich in Geibel's »Loreley« gefunden, war ihm nur ein kleiner Theil desselben in Musik zu setzen vergönnt: ein Ave Maria für Sopran und weiblichen Chor, ein Marsch mit Chor und das Finale des ersten Actes. Das Vorhandene, von so liebenswürdiger Wirkung sich auch namentlich das Finale im Concertsaal erweist, genügt, um den Beweis zu liefern, daß Mendelssohn's tondichterisches Naturell kein dramatisch veranlagtes war.

Nach dem vorzeitigen Tode Felix Mendelssohn's wurden die Fragmente des »Christus« und der »Loreley« nebst einer Reihe anderer Werke (von op. 73–121) der Oeffentlichkeit übergeben. Sie fanden auch in der von Breitkopf & Härtel veranstalteten, von Rietz revidirten Gesammt-Ausgabe seiner[180] Werke Aufnahme. Außerdem ruhte eine große Anzahl aus den verschiedensten Perioden herrührender und von Mendelssohn selbst nicht des Herausgebens werth erachteter Compositionen, über die ein von Rietz zusammengestelltes Verzeichniß3 einen Ueberblick gewährt, lange Zeit im Familienbesitz verborgen. Erst neuerdings wurde der gesammte Nachlaß von den Erben an die königliche Bibliothek zu Berlin unter der Bedingung abgetreten, daß der Staat alljährlich ein Stipendium von bestimmter Höhe an Studirende der Musik vergebe.

Der Frühling des Jahres 1847 fand Mendelssohn in London, wo der »Elias« dreimal in Exeterhall aufgeführt wurde. Der ersten Aufführung wohnte Prinz Albert bei. Er sandte dem Componisten das von ihm benutzte Textbuch mit der eigenhändigen Widmung: »Dem edlen Künstler, der, umgeben von dem Baalsdienst einer falschen Kunst, durch Genius und Studium vermocht hat, den Dienst der wahren Kunst wie ein anderer Elias treu zu bewahren und unser Ohr aus dem Taumel eines gedankenlosen Tongetändels wieder an den reinen Ton nachahmender Empfindung und gesetzmäßiger Harmonie zu gewöhnen, dem großen Meister, der alles sanfte Gesäusel, wie allen mächtigen Sturm der Elemente an dem ruhigen Faden des Gedankens vor uns aufrollt, zur dankbaren Erinnerung geschrieben von Prinz Albert, Buckingham Palace.« Am 11. Mai leitete der Gefeierte noch im philharmonischen Concert die Aufführung seiner »Sommernachtstraum«-Musik und spielte Beethoven'sG-dur-Concert, um dessen Bekanntwerden in der musikalischen Welt er sich ein Verdienst erwarb. Wenige Tage später ereilte ihn in Frankfurt, wo er mit den Seinen zusammen traf, die erschütternde Kunde vom plötzlichen Tod seiner Lieblingsschwester[181] Fanny. Inmitten ihrer künstlerischen Bestrebungen, eine ihrer Compositionen am Clavier dirigirend, war sie am 14. Mai 1847 vom Leben abgerufen worden.

Auf das tiefste darniedergebeugt fühlte sich Felix Mendelssohn in Folge dieses Ereignisses. Wie kein andres Glied seiner Familie hatte sie ihm von je geistig nahe gestanden. Vergebens waren alle Bemühungen, das umdüsterte Gemüth des sonst so heitern Mannes zu trösten und aufzuhellen: zu schwer und unerwartet hatte ihn dieser Verlust getroffen, zu angestrengt waren seine gesammten Geisteskräfte Jahre hindurch thätig gewesen, als daß sie demselben nun den erforderlichen physischen und psychischen Widerstand entgegenzusetzen vermochten. »Ein großes Capitel ist nun eben aus« – schrieb er, – »und von dem nächsten ist weder die Ueberschrift, noch das erste Wort bis jetzt da. Aber Gott wird es schon recht machen; das paßt an den Anfang und Schluß von allen Capiteln.«

Selbst von einem Wechsel der Scenerie hoffte man vergeblich Wirkung; die Schönheiten der Natur blieben für seine sonst so empfängliche Seele ohne versöhnenden Einfluß. Er verlebte den Juni mit den Seinen in Baden-Baden; dann durchreiste er mit ihnen gemeinsam die Schweiz und ließ sich längere Zeit in Interlaken nieder. Zwar fühlte er sich hier so weit gekräftigt, daß er sich erneuter schöpferischer Thätigkeit überlassen konnte; er arbeitete fleißig an seinem »Christus«-Oratorium und der »Loreley«, und vollendete ein Streichquartett in F-moll op. 80; die rechte Schaffensfreudigkeit aber wollte ihm nicht wieder kommen. Ein häufig sich einstellendes Kopfleiden quälte ihn, und Musik regte ihn oft bis zu Thränen auf. »Es ist mir ganz leer und wüst, wenn ich an Musik denken will,« schreibt er einem Freund. Ja selbst eine Art von Todesahnung mag ihn beschlichen und[182] jenen rastlosen Arbeitsdrang in ihm erzeugt haben, mit dem er »die Frist, die ihm gegeben,« bis zum letzten Augenblick zu nutzen begehrte. »Es wird auch für mich die Zeit der Ruhe kommen,« tröstete er seine Gattin, die ihn sorglich bat, seiner zu schonen; – und sie kam nur zu bald, die Zeit der Ruhe!

Am 17. September kehrte er mit der Familie nach Leipzig zurück. Obwohl fest entschieden, nach Berlin überzusiedeln, nahm er doch vorerst nur einen kurzen, aber an schmerzlichen Erinnerungen reichen Aufenthalt daselbst bei seinen Geschwistern (die Mutter war ihm bereits 1842 gestorben). Im October war er wieder in Leipzig, mit dem Plane beschäftigt, seinen »Elias«, an dem er inzwischen noch einige Abänderungen getroffen, in Wien, Leipzig und Berlin zur Aufführung zu bringen. Am 9. jenes Monats mit seiner musikalischen Freundin, der bevorzugten Interpretin seiner Kunst, Frau Livia Frege, musicirend, überkam ihn, nachdem sie ein neu herauszugebendes Liederheft (op. 71) mit ihm durchgegangen und besonders sein jüngstgeschaffenes tiefpoetisches »Nachtlied« gesungen hatte, ein ohnmachtähnlicher Anfall. Doch erholte er sich nach einiger Zeit wiederum; er empfing den Besuch seiner Freunde und konnte am 25. October seinem Bruder schreiben, daß seine Gesundheit sich täglich bessere. Drei Tage später wiederholte sich gleichwohl nach einem Spaziergang jener Anfall mit gesteigerter Heftigkeit, und der herbeigerufene Arzt erklärte denselben für einen Nervenschlag. Lange Zeit blieb er des Bewußtseins beraubt; bei allmälig erst zurückkehrender Besinnung klagte er über heftiges Kopfweh; völlige Geistesklarheit aber kehrte ihm nicht wieder. Noch glaubten die Aerzte nicht alle Hoffnung auf Erhaltung seines Lebens ausgeschlossen; eine anscheinend eingetretene Besserung jedoch erwies sich als trügerisch. Der 3. November brachte eine Erneuerung des Nervenschlags, und am Abend des 4. November[183] war die Seele Felix Mendelssohn's eingegangen in ihre himmlische Heimat.

Unbegrenzt war die Trauer um ihn, der als Mensch wie als Künstler Allen theuer gewesen, die das Glück jemals in seine Nähe geführt. Tausende drängten sich um sein stilles Todtenbett, um das geliebte, edle Angesicht noch einmal zu sehen, um ihm als letzte Gabe hienieden Blumen und Thränen darzubringen. Lorbeeren und Palmen und Blüten ohne Zahl bezeugten, was er der Stadt gewesen, in deren Mitte er gelebt und die ihn im Bewußtsein dessen, was sie in ihm besessen, mit Stolz den ihren genannt.

Am Nachmittag des 7. November bereitete man dem Angedenken des Künstlers eine würdige Todtenfeier in der Paulinerkirche zu Leipzig. Die Klänge seines von Moscheles instrumentirten Liedes ohne Worte in E-moll begleiteten ihn auf seinem letzten Wege. Eine unabsehbare Menschenmenge folgte seinem Sarge, und seine Kunstgenossen Hauptmann, Moscheles, David und Gade trugen die Enden des Bahrtuches.

Noch in derselben Nacht wurde die sterbliche Hülle des Meisters nach Berlin geführt; dort ward sie in der Frühe des 8. November, unter den Gesängen des Domchors und der Singacademie, in der Familiengruft auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof bestattet. Ein einfaches weißes Marmorkreuz schmückt sein epheuumranktes Grab, und an der Seite der Schwester, der er so bald gefolgt, schlummert er nun. Leipzig hat seinen Kunsttempel, den Gewandhaussaal, mit dem Bildniß seines Lieblings geziert, und wohl geziemt es jener Stadt, sein Andenken auch äußerlich wach zu erhalten für kommende Geschlechter. Mag denn sein reines Bild die Zukunft durchleuchten, von dem, wie von selten Einem, das Wort Robert Schumann's gilt: »Licht senden in die Tiefe des menschlichen Herzens – des Künstlers Beruf.«[184]

Quelle:
La Mara (d.i.: Marie Lipsius): Musikalische Studienköpfe, Erster Band: Romantiker, sechste umgearbeitete Auflage, Leipzig: Heinrich Schmidt & Carl Günther, 1883., S. 141,185.
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