[Biographie]

Seit der moderne Subjectivismus in die Musik gekommen und die Individualität nach Geltung im Kunstwerk strebt, hat sich an die Stelle des absolut Schönen ein relativ Schönes, an die des allgemeinen Kunstideals ein besonderes, persönliches gestellt. Der moderne Künstler will aus sich selbst, aus seinem eigensten Kreise heraus, nicht von diesem losgelöst, begriffen werden. Früher war dies anders. Das persönliche Leben unserer älteren classischen Meister tritt nirgends in das von ihnen gebildete Kunstwerk herein; der darzustellende Gegenstand selbst erfüllt sie so voll und ganz, daß sie sich ihm mit einer naiven Schaffenslust hingeben, wie sie unserem heutigen Geschlecht völlig abhanden gekommen. Beethoven zuerst führte den Schmerz in die Musik ein und verhalf dem tiefen, rein menschlichen Unbefriedigtsein, dem Ringen nach übersinnlichem Ausdruck zu einer berechtigten Stellung. Von dem gleichmäßigen, ruhigen Licht, der reinen, durchsichtigen Atmosphäre, die die Gebilde seiner Vorgänger ausstrahlen, von der Insichabgeschlossenheit der Werke Haydn's und Mozart's zumal, ihrer »Harmonie in den Schranken der Endlichkeit«, mußten die seinen sich naturgemäß entfernen, deren Wesen die »aufgeschlossene Unendlichkeit« ist. Wie aber Beethoven, der Vollender[241] der Classicität, zuerst neben dem Object ein Subject gegenständlich machte, dessen Verständniß für den Genuß des Ersteren Bedingniß ward, so hat das ihm nachgeborene Kunstgeschlecht – die Romantiker – jenen Subjectivismus allmälig derart weiter ausgebildet, daß er zum Uebergewicht über das absolut Formschöne gelangte.

Dem Verständniß des Kunstwerks selber ist dies freilich nicht eben förderlich gewesen. Je individueller und eigenthümlicher dasselbe geartet, um so enger wird sich der Kreis derer ziehen, deren Empfinden sich in Uebereinstimmung mit dem darin niedergelegten Gefühlsinhalt findet; um so vielseitigerer Widerspruch auch wird seiner Verbreitung begegnen, so lange das sich Hineinleben und Hineinarbeiten in eine künstlerische Individualität als eine unberechtigte Forderung zurückgewiesen wird. Gleichwohl wird gerade bei den vornehmsten unserer zeitgenössischen Tondichter solche Forderung geradezu zum zwingenden Gebot, und da die Zeit wohlfeilen, oberflächlichen Genusses, wenigstens in der deutschen Tonkunst, mehr und mehr dahin scheint, werden sich die Freunde jener bequemen Genußtheorie am Ende immer vergeblicher dagegen auflehnen. Ist nun der Genuß eines Kunstwerkes mehr als ein blos passives Verhalten, besteht vielmehr das rechte Verständniß und damit das höchste Genießen in einer Art geistigen Nach- und Selbstschaffens des vom Künstler Dargebotenen: so wird – je mehr wir uns hierzu genöthigt finden – auch der häufig gehörte Vorwurf allmälig verstummen müssen, daß die überhand nehmende Pflege der Musik eine gewisse geistige Unthätigkeit, eine blose Traumseligkeit und Gefühlsschwelgerei begünstige, die uns Heutige eines wirklich verständnißvollen Erfassens, eines tieferen Eindringens in das Wesen der Kunst immer mehr entwöhne. Musik ist eben Höheres als eitler[242] Sinnengenuß, Besseres auch als eine klingende Begleiterin gaukelnder Träume: sie ist das »Ideal selbst, die blosgelegte Seele aller Künste«, sie ist Offenbarung, deren Tiefen sich nur dem gläubigen Gemüth, nur dem ernst suchenden Geiste erschließen.

Unter den Meistern, deren Werke behufs wahrhafter Würdigung eine selbstverleugnende Hingabe bedingen, steht Johannes Brahms in vorderster Reihe. Wer seiner Gaben froh werden will, muß ernsthaft um seine Freundschaft werben; wer in die Mysterien seiner Kunst eingeweiht zu sein begehrt, muß sich solche Gunst verdienen. Eine problematische, von einer Art Geheimniß, einem ästhetischen Nebelschleier umgebene Natur nannte ihn Louis Köhler. Der Werth dessen, was er uns giebt, liegt in der That nicht oben auf, sondern tief drinnen. Seine Weise ist nach innen gekehrt, gedankenvoll, seine Rede oft räthselhaft und herbe, fern von gewinnender Anmuth und offener Freundlichkeit, wie sie sich unserer Sympathie leicht bemächtigen. Etwas Verschwommenes, Unentschiedenes ist ihr häufig eigen. Seine Motive meiden dann die plastische Form, die helle Farbe; schöne Keime zögern sie, sich zur vollen selbstständigen Blüte zu entfalten. Eine gewisse tiefsinnige Schwere haftet an seiner Tonpoesie; sie spottet des einmaligen Hörens, mit dem so viele unserer Musikfreunde sich einem Kunstwerk gegenüber abfinden zu können meinen, um ungescheut darüber abzuurtheilen. Mehr mit der Seele als mit dem Ohr muß man ihr lauschen, so sehr hat diese Musik sich ihres sinnlichen Charakters begeben und in einer transcendentalen Welt ihre Heimat. Brahms fragt nicht nach Sinnenreiz; Verstandesnatur, wie er vorwiegend ist, faßt er seine Kunst von ihrer geistigsten Seite. Stimmungen, wie sie über Beethoven's letzten Quartetten schweben, scheinen in ihm bleibend geworden. Mehr[243] Größe als Grazie charakterisirt seine Darstellungsart, und natürlicher als das Lächeln steht ihm die Philosophenmiene zu Gesicht. Sich leicht und frei gehen zu lassen, gelingt ihm selten; selbst wo er – wie in seinen Tänzen –, von der ihm natürlichen Schwere losgebunden, fröhlich zu scherzen scheint, blickt hier und dort zwischen den heiteren Rhythmen die Denkerfalte auf der Stirn und ein melancholisches Augenpaar hindurch. Sein Humor ist stark mit Wermuth vermischt und läßt mehr vom Salzgehalt der Thränen als vom rechten Frohmuth des Herzens spüren. Kann uns das Wunder nehmen, nachdem uns Aristoteles belehrt, daß den bedeutenden Menschen insgemein eine melancholische Gemüthsart eignet?

Wer freilich als erstes Bedingniß vom Kunstwerk sonnige Helle und durchsichtige Klarheit fordert, wer den lichtvollsten unserer großen Tonmeister: Mozart, als höchstes Ideal verehrt, der wird in Brahms nicht wohl etwas Anderes als dessen Antipoden erkennen wollen. Viel näher werden ihm Jene stehen, deren Kunstliebe an Bach, dem letzten Beethoven und Schumann herangereift, wie sie sich ja auch aus seinem Schaffen heraus deutlich als die offenbaren, welche seinem Künstlerherzen als die Nächsten, Theuersten gelten. Bezeichnet Louis Köhler1 es doch als Brahms' kunstgeschichtliche Bedeutung, daß er das Verbindungsglied zwischen dem letzten Beethoven und dem ersten Schumann, ein Monument des Uebergangs zwischen zwei hohen Meistern zweier Epochen bilde. Mit ihnen, den Größeren, hat er die tiefsinnige Tonsprache, den dem Höchsten zugewandten Geist, die Richtung auf das Reflective, Subjective gemein, die sich bei ihm häufig sogar zum Grüblerischen, Wühlerischen steigert. Nahe liegt ihm, dem mehr Gedankentiefen als Gefühlswarmen,[244] die Gefahr, sich allzusehr in das Gebiet der Reflexion zu verlieren, wo die Speculation die Inspiration, der Philosoph den Dichter hinter sich zurückläßt. Manches in seinem tonlichen Ausdruck scheint mehr ergrübelt als in frischer Unmittelbarkeit seinem Innern entquollen zu sein, und die classische Naivetät des Schaffens liegt seiner Art und Weise fern. Durste man schon bei Schumann von »Labyrinthen«, wenn auch von unendlich interessanten, schönen, sprechen, so mehr noch bei ihm, der uns gar oft in eine noch düsterere, lichtlosere Sphäre führt, ja der sich um so wohler zu fühlen scheint, je ernstere Geister er in Töne bannt, je dunkler die Sprache, die er redet. Daher trotz aller Vollendung der Compositionstechnik bei ihm der Mangel an Durchsichtigkeit, die Schwierigkeit des geistigen Verständnisses. In der Natur seiner Kunst liegt es gleichsam, daß sie den Einen auf's innigste sympathisch, den Anderen, der sich mit höchsten Dingen und Fragen, wie Brahms sie heraufbeschwört, ungern befaßt, geradezu antipathisch berührt.

Seine Technik ist äußerst schwierig, seine Architectonik complicirt, kunstvoll in der Anordnung und formvollendet. Bei sorgfältigster Ausführung bis in's kleinste Detail imponirt sie mehr durch die ihr eigenthümliche Wucht, als durch Leichtigkeit der Gestaltung. Ein Meister der Contrapunktik, wie er unter den Gegenwärtigen nur wenige seines Gleichen finden dürfte, handhabt er mit einer Vorliebe die strengen Formen seiner Kunst, die ihm das Prädicat eines modernen Bach eingetragen hat. Die polyphone, logisch gefestigte Gestaltungsweise, die großartigen Verhältnisse, die Ebenmäßigkeit seiner Werke geben ihm gewisse Berührungspunkte mit dem alten Sebastian. Auch bei Brahms ist die harmonische und contrapunktische Kunst reicher als die melodische Erfindung. Dazu[245] liebt er es, wie Hanslick hervorhebt, die Contouren der Melodien und des Rhythmus durch häufige Syncopen, Sextolen- und Triolen-Begleitungen, rhythmische Verschiebungen zu verwischen. Nur aus der Ferne gleichsam schimmert die Melodie häufig hinter dem harmonischen Gewebe durch. Mit dem offenen Ausdruck der Empfindung aber geht seinen Werken mehr oder minder das äußerlich Reizvolle, Sinnenfällige der Melodik und damit zugleich das unmittelbar Packende der Wirkung ab. Nicht eine schmeichelnde, sondern vielmehr eine bildende, sittigende Macht wohnt ihnen inne; ähnlich den Werken seines großen Vorbildes Bach. Das sittliche Element trägt bei ihm die Herrschaft davon über das sinnliche, und die schöne Griechenlehre von der ethischen Bedeutung der Musik findet unter den modernen Tonsetzern neben Franz keinen beredteren Vertreter als Johannes Brahms. Er hat demgemäß nichts Blendendes, Berückendes, noch gewaltsam mit sich Fortreißendes; seinem Kunstausdruck ist eine gewisse Reserve und Strenge eigen, die ihn meist vor vollem, rückhaltlosem Ausbruch der Leidenschaft bewahrt. Er gefällt sich in gebrochenen Lichtern, jenem wechselnden Schillern zwischen Freude und Schmerz, und allen blos äußerlichen Glanz meidend, beschränkt er sein Colorit auf das nothwendige Maß. Mit den dunkelsten Tinten malt er seine ergreifendsten Bilder. Mag aber seiner in sich geschlossenen, echt norddeutschen Art immerhin die unmittelbar zündende, elektrisch treffende Kraft mangeln: die, welche den Schlüssel zur Geheimschrift seines Wesens gefunden, zieht er um so unwiderstehlicher in seine Zauberkreise. Wer ihn einmal lieb gewonnen, wird nimmer wieder von ihm lassen können. Es lohnt sich bei ihm in die Tiefe zu steigen. So oft wir an seine Werke herantreten, immer neue Schönheiten blühen uns darin auf, ob wir sie auch ganz und völlig ergründet[246] zu haben meinten. Freilich nur dem emsig suchenden Auge wird solche Erkenntniß, dem kalt vorübergleitenden Blick drängt sie sich nimmer auf, ihm bleibt sie verborgen.

So konnte es geschehen, daß er, den beim Beginn seiner Künstlerlaufbahn ein Willkommenruf grüßte, wie ihn begeisterter und verheißungsreicher wohl kaum je ein anderer Künstler vernommen; er, den ein Robert Schumann, noch bevor er selber auf ewig verstummte, der musikalischen Welt gleichsam als sein letztes Vermächtniß zuführte, nahezu zwei Jahrzehnte lang nicht viel mehr als ein Fremdling blieb im eigenen Vaterlande, daß die Sprache, die er redete, der Ueberzahl derer, die ihn hörten, eine unverständliche däuchte. Die Lorbeeren und Palmen, die Schumann ihm prophezeit, wuchsen ihm nur kärglich zu, wogegen sich das Wort von den Wunden, die seiner warten würden, allsobald bewahrheitete. Unbeirrt ging er trotz alledem seine Bahnen, unbekümmert darum, ob die Mitwelt ihm ihren Beifall spende oder verweigere. Er verschmähte es, auf Kosten seiner besseren Ueberzeugung um ihre Gunst zu werben; wie es der Genius ihm eingab fuhr er fort zu gestalten. Da ward zu Ende der sechziger Jahre die Aufmerksamkeit des musikalischen Deutschlands zum anderen Male auf ihn gelenkt. Die Zeit war gekommen, wo er, wie Schumann voraus verkündet, »seinen Zauberstab dahin senkte, wo ihm die Massen im Chor und Orchester ihre Kräfte leihen«: sein deutsches Requiem war erschienen und erhob den gebieterischen Anspruch auf Geltung als das, was es in Wahrheit ist – ein Meisterwerk obersten Ranges. Es machte die Runde durch die deutschen Lande und Städte und eroberte seinem Schöpfer die ihm bis dahin vorenthalten gebliebene offene Anerkennung und Theilnahme seines Volkes.

Nun kam auch die Prophetengabe Schumann's, die sich[247] einst schon an Mendelssohn, Chopin, Franz u. A. glänzend bewährt hatte, noch bei Brahms zu Ehren. Mochten ihm auch seine Widersacher – und er hatte und hat deren viele – seine Größe neiden und bestreiten, sie vermochten sie auf die Dauer doch nimmer zu verleugnen. Mit zu entschiedener Hand hatte er endlich von der ihm gebührenden Stellung unter den Ersten seiner Kunst Besitz ergriffen, mit zu lauter Stimme bezeugten sich das Requiem, nicht minder das »Schicksalslied«, die »Rhapsodie«, der »Parzengesang« mit ihrem edlen dichterischen Gehalt als echte Gaben des Genius, als daß die landläufigen Schlagworte von blos gekünsteltem Schaffen und mangelnder Inspiration nicht allgemach an ihrer Wirkung Einbuße erleiden mußten. Immer rückhaltloser und allgemeiner erkennt man jetzt in Brahms – ob Louis Köhler auch mit Recht betont, daß nicht er, sondern Wagner den höchsten Ausdruck seiner Zeit widerspiegelt – einen der Berufenen, welche mit an der Spitze der gegenwärtigen Musikentwickelung einherschreiten. Es ist viel Kampf und Gährung in unserer Zeit, viel gegensätzliches excentrisches Empfinden, viel starkes Ringen nach Befriedigung, nach neuen Formen für den neuen Lebensinhalt, viel kraftvolles Wollen und Wissen und Können – wer diesen Zeitgehalt zusammenfassend zu künstlerischer Darstellung bringt, muß darum auch, wie Schumann sie an Brahms voraussah: »neue Bahnen« wandeln.

In Hamburg, der freien deutschen Reichsstadt, hat Johannes Brahms seine Heimat. Sein Vater, Johann Brahms, war dem Zeugniß des Sohns zufolge, ein trefflicher, auf allen Orchesterinstrumenten geübter Musiker, der in Concerten, Theatern etc. seine Beschäftigung fand. Er und seine Gattin, Christiane geb. Nissen, waren vorzügliche Menschen von edeler Herzensbildung. Nach dem Tod seiner ersten Frau (1866)[248] schloß er ein zweites Ehebündniß mit einer Wittwe, die ihn, der 1872 starb, noch überlebt. Von drei Kindern, die ihm in erster Ehe geboren wurden, trat Johannes als das älteste am 7. Mai 1833 in's Leben ein. Die beiden jüngeren, ein Sohn Namens Fritz (geb. den 26. März 1835) und eine Tochter, leben noch in ihrer Vaterstadt; die Letztere verheiratet, der Erstere als ein tüchtiger Künstler, der sich, von Eduard Marxsen, dem berühmten Lehrer des älteren Bruders, gebildet, in Concerten vielfältig als ausgezeichneter Pianist bewährt hat und auch als Lehrer eines verbreiteten Rufes genießt.

Ueber den Studiengang von Johannes empfingen wir von der Hand seines Meisters Marxsen2 – desselben, dessen Verdienste um Brahms Schumann bereits rühmend hervorhebt – eingehende briefliche Mittheilungen. Laut denselben wurde der zehnjährige Knabe, der zur Zeit eine Bürgerschule besuchte, im Jahre 1843 von seinem damaligen Clavierlehrer Cossel – einem Schüler Marxsen's – zu diesem gebracht, mit der Bitte ihn zu prüfen und, falls er musikalische Anlagen vorfände, die weitere Unterweisung desselben zu übernehmen. Er spielte ihm einige Etüden aus dem ersten Heft von Cramer »sehr wacker« vor. Gleichwohl wies Marxsen die Uebernahme des Unterrichts mit dem Bedeuten zurück, daß derselbe ja in den besten Händen sei und eine Fortsetzung in begonnener Weise für jetzt noch völlig ausreiche. Erst als wenige Monate später der Vater von Johannes in seinem und des Lehrers Namen die Bitte wiederholte, ließ er sich bereit finden, dem Knaben allwöchentlich eine Stunde zu widmen, unter der Bedingung, daß der Unterricht bei Cossel daneben ruhig fortdauere. Dies geschah;[249] doch kaum nach Jahresfrist ersuchte Letzterer Marxsen dringend, fortan die Führung seines Schülers allein auf sich zu nehmen, da derselbe so schnell vorwärts schreite, daß er sich nicht getraue, ihm irgend welche Bemerkung zu machen. In der That ließen sich bedeutende Fortschritte gewahren; nur erschienen sie mehr als das Resultat von großem Fleiß und emsigem Eifer, als daß sie ein ungewöhnliches Talent verriethen. Von nun an nahm Marxsen denn die Ausbildung des Knaben völlig in seine Hand. Er that dies um so bereitwilliger, als die Eltern dieselbe nicht aus eigner Kraft nach Wunsch zu fördern vermochten, ihm auch überdies sein Schüler selbst schon lieb geworden war. »Das Studium im praktischen Spiel«, äußert er sich selber wörtlich, »ging vortrefflich und es trat immer mehr Talent zu Tage. Wie ich aber später auch mit dem Compositionsunterricht einen Anfang machte, zeigte sich eine seltene Schärfe des Denkens, die mich fesselte, und so unbedeutend auch die ersten Versuche im eigenen Schaffen ausfielen, so mußte ich darin doch einen Geist erkennen, der mir die Ueberzeugung gab, hier schlummere ein ungewöhnliches, großes, eigenartig-tiefes Talent. Ich ließ mir deshalb keine Mühe und Arbeit verdrießen, dasselbe zu wecken und zu bilden, um dereinst für die Kunst einen Priester heranzuziehen, der in neuer Weise das Hohe, Wahre, ewig Unvergängliche in der Kunst predige und zwar durch die That selbst.«

In seinem vierzehnten Jahre ließ sich der Knabe in einem eigenen Concert zum ersten Mal vor den Musikfreunden seiner Vaterstadt öffentlich hören. Das Programm brachte außer Bach, Beethoven und Mendelssohn auch eine Nummer eigener Composition: Variationen über ein Volkslied, deren eine aus einem höchst gelungen ausgeführten Canon bestand. Weiterhin folgten noch einige Concerte, auch unterstützte er zuweilen[250] andere Concertgeber durch Solovorträge oder Begleitung zu Gesang, und die Presse besprach seine Erstlingsleistungen in sehr anerkennender Weise. Nichtsdestoweniger hielt sein Meister ihn während seiner letzten zwei Studienjahre, bevor er Hamburg verließ, vom öffentlichen Auftreten fern, damit er um so ungestörter seine künstlerische Ausrüstung vollende.

Im Jahre 1853 endlich fühlte er sich für eine erste Kunstreise reif. Die nächste Veranlassung zu derselben gab die Bekanntschaft des ungarischen Violinvirtuosen Remenyi, der in Hamburg viel Glück machte; mit ihm einigte er sich zu einer Concertreise durch Norddeutschland. Ihr erstes Ziel war Hannover. Hier lernte Brahms Josef Joachim kennen, der sogleich lebhaftes Interesse für ihn faßte und jene freundschaftlichen Beziehungen mit ihm anknüpfte, die sich in steter Dauer und Steigerung bis auf diesen Tag erhalten haben. Er wurde auch dem kunstliebenden König von Hannover vorgestellt, der ihm seine Huld sofort zuwandte, ihn sogar oft in seinem Familiencirkel spielen ließ und ihn gern den kleinen Beethoven benannte.

Viel machte namentlich sein Auftreten in Celle von sich reden, wo das Künstlerduo sich, wie in verschiedenen anderen hannoverschen Orten, hören ließ. Während der Probe daselbst hatte Brahms sich mit einem so unzulänglichen Clavier begnügen müssen, daß ein Musikfreund ihm für den Concertabend seinen neuen Flügel zur Stelle zu schaffen versprach. Derselbe fand sich zur bestimmten Stunde denn auch richtig vor, stand aber um einen halben Ton zu tief, und Remenyi weigerte sich, seine Geige darnach herabzustimmen. Da erbot sich Brahms ohne weiteres, in der Anfangsnummer: Beethoven's C-moll-Sonate für Pianoforte und Violine, seinen Part nach Cis-moll zu transponiren und führte dies auch[251] sofort ohne jede Vorbereitung, ja sogar ohne Noten glücklich aus. Der junge Künstler selbst schätzte übrigens seine allseitig angestaunte Leistung so gering, daß er ihrer seinem Lehrer Marxsen gegenüber nur scherzhaft gedachte. Auch überraschte sie diesen Letzteren keineswegs, denn, sagt er: »Brahms war schon seit Jahren bei mir gewohnt gewesen, große Musikstücke prima vista in jegliche beliebige Tonart zu transponiren, um dadurch eine freie, unabhängige Technik zu gewinnen. Sein Gedächtniß ist so erstaunlich, daß es ihm gar nicht einfiel, auf Concertreisen Noten mitzunehmen. Beethoven und Bach nebst einer großen Anzahl der modernen Concertpiecen von Thalberg, Liszt, Mendelssohn u. A. waren seinem Gedächtniß fest einverleibt, als er als zwanzigjähriger Jüngling seine erste Reise in die Welt antrat.«

In Weimar konnte es nicht fehlen, daß Franz Liszt's klares Künstlerauge den Außergewöhnlichen erkannte und er ihn als solchen ehrte. Während seines mehrwöchentlichen Aufenthaltes daselbst wohnte er bei Liszt in der von ihm bewohnten »Altenburg«, und der berühmte Meister fand eine besondere Freude daran, die Compositionen, welche Brahms im Manuscript mit sich führte, zu spielen und vorzuspielen. Von dem Es-moll-Scherzo op. 4 wird sogar erzählt, daß Liszt dasselbe den bei ihm versammelten Gästen dreimal hintereinander zum Besten gab und dem Componisten so eifriges Lob spendete, daß seine eigenen Schüler darob eifersüchtig wurden.

Nachdem er sich in Weimar von Remenyi getrennt, zog Brahms über Göttingen, wo damals Joachim lebte, weiter gen Düsseldorf zu Robert Schumann, dem er bereits durch Briefe bekannt geworden war. Als dieser Einsicht in seine Manuscriptwerke nahm und ihn spielen hörte, begrüßte er alsbald freudigen Herzens in ihm den ebenbürtigen Kunstgenossen. Kaum[252] das erste Stück ließ er ihn zu Ende spielen, als er ihn schon mit dem Ausruf: »Das muß Clara hören!« unterbrach und seine Frau mit den Worten herbeirief: »Hier, liebe Clara, sollst du Musik hören, wie du sie noch nicht gehört hast!« – Leider machte eine mehrmonatliche Reise des Schumann'schen Künstlerpaars nach Holland dem Verkehr der beiden geistesverwandten Meister ein schnelles Ende; doch versäumte der ältere wenigstens nicht, dem jüngeren ein offenes Empfehlungsschreiben mit auf den Weg zu geben. Zu seinem Preise ward nach zehnjährigem Stillschweigen die einst so beredte Stimme Schumann's in der von ihm begründeten »Neuen Zeitschrift für Musik« (28. October 1853) noch einmal und zum letzten Male wieder laut und kündete in begeisterter Rede den Ruhm dessen, der nicht wie Andere uns »die Meisterschaft in stufenweiser Entfaltung bringe, sondern der Minerva gleich, vollkommen gepanzert dem Haupte des Kronion entsprang.« »Und er ist gekommen«, heißt es, »ein junges Blut, an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten. Er heißt Johannes Brahms, kam von Hamburg, dort in dunkler Stille schaffend, aber von einem trefflichen und begeistert zutragenden Lehrer gebildet (Eduard Marxsen in Altona) in den schwierigsten Satzungen der Kunst, mir kurz vorher von einem verehrten bekannten Meister empfohlen. – Er trug auch im Aeußeren alle Anzeichen an sich, die uns ankündigen: das ist ein Berufener. Am Claviere sitzend, fing er an, wunderbare Regionen zu enthüllen. Wir wurden in immer zauberischere Kreise hineingezogen. Dazu kam ein ganz geniales Spiel, das aus dem Clavier ein Orchester von wehklagenden und laut jubelnden Stimmen machte. Es waren Sonaten, mehr verschleierte Symphonien – Lieder, deren Poesie man, ohne die Worte zu kennen, verstehen würde, obwohl eine tiefe Gesangsmelodie sich[253] durch alle hindurchzieht – einzelne Clavierstücke, theilweise dämonischer Natur von der anmuthigsten Form – dann Sonaten für Violine und Clavier, Quartette für Saiteninstrumente, und jedes so abweichend vom andern, daß sie jedes verschiedenen Quellen zu entströmen schienen. Und dann schien es, als vereinigte er, als Strom dahin brausend, alle wie zu einem Wasserfall, über die hinunterstürzenden Wogen den friedlichen Regenbogen tragend und am Ufer von Schmetterlingen umspielt und von Nachtigallenstimmen begleitet. Wenn er seinen Zauberstab dahin senken wird, wo ihm die Mächte der Massen im Chor und Orchester ihre Kräfte leihen, so stehen uns noch wunderbarere Blicke in die Geheimnisse der Geisterwelt bevor. Möchte ihn der höchste Genius dazu stärken, wozu die Voraussicht da ist, da ihm auch ein anderer Genius, der der Bescheidenheit, innewohnt. Seine Mitgenossen begrüßen ihn bei seinem ersten Gang durch die Welt, wo seiner vielleicht Wunden warten werden, aber auch Lorbeeren und Palmen; wir heißen ihn willkommen als starken Streiter!«

Allgemeines Aufsehen erregte dieser Heroldruf Schumann's in der musikalischen Welt, und »es gab«, schreibt uns Marxsen, »damals wohl nur einen Menschen in der Welt, der davon nicht überrascht war, und dieser bin ich wohl selbst. Ich wußte was Brahms leistete, wie umfassend, gediegen seine Kenntnisse waren, welch hehres Talent ihm die gütige Vorsehung verliehen, und wie schön es im Aufblühen sich entfaltete. Aber Schumann's Anerkennung und Bewunderung war zugleich auch für mich eine große, große Freude; hatte ich doch dadurch die seltene Genugthuung, daß der Lehrer die rechten Pfade erkannt habe, um dem Talente seine Eigenthümlichkeit zu bewahren und es so zur Selbständigkeit heranzubilden.«

Aller Augen richteten sich alsbald auf den so hoch Gepriesenen,[254] neue, gewaltige, allerhöchste Thaten von seiner jungen Meisterschaft erwartend und begehrend. Als er nun im selben Winter noch vor Jahreswende nach Leipzig kam und in Brendel's Hause zuerst im Kreise seiner hiesigen Kunstgenossen debütirte, harrte seiner zwar ein verheißungsreicher Empfang, und Berlioz, der sich unter den Zuhörern befand, schloß ihn sogar stürmisch in seine Arme; als er aber vor die Oeffentlichkeit trat und im zweiten Abonnement-Quartett am 17. December im Gewandhaus seine C-dur-Sonate und sein Es-moll-Scherzo spielte, war der Erfolg trotz alledem ein getheilter. Nur durch eine Besprechung der »Neuen Zeitschrift für Musik« geht ein leiser Abglanz des Enthusiasmus, wie er aus Schumann's Worten gesprochen. Hier anerkennt man bereitwillig das »Gewaltige, Hinreißende, den Schwung und die Reise« der vorgeführten Werke, die Wirksamkeit und Neuheit ihrer Modulationen, die imposante Schönheit der Gedanken, die reine Kunstgesinnung, die sich »trotz einiger Rauhheiten und Ecken in der äußeren, sehr selbständig erscheinenden Form« allenthalben kundgebe, und bewillkommnet den »dem Schumann'schen Genius verwandten Geist, der, auf seinen neuen Bahnen weitergehend, das werden wird, was Schumann vorausgesagt: eine epochemachende Erscheinung in der Kunstgeschichte.«

Im Uebrigen stieß seine ausgeprägt eigenartige Künstlerschaft in der »Metropole der Musik« wohl auf mannigfaltige Sympathien (man sehe z.B. den warm geschriebenen Artikel Louis Köhler's in Nr. 18 der Signale 1854!), aber auch auf noch ungleich vielfältigeren Widerstand. Das Erscheinen seiner ersten Werke für Piano und Gesang, die – dank dem Kunstsinn zweier Leipziger Verleger: Breitkopf & Härtel und Bartholf Senff – von hier aus in die Welt gingen, änderte an dieser Sachlage nichts: der Streit für und wider Brahms[255] ward nur in weitere Kreise getragen. Es waren eben wundersame Gebilde, diese Erstlingsschöpfungen, so wundersam, daß die Meisten von denen, die sie neugierig zur Hand nahmen, sie kopfschüttelnd bei Seite legten, ohne mit ihnen fertig geworden zu sein. Ihrer Form nach so logisch und doch ihrem Inhalt nach so neu, in ihrer Ausführung so schwierig, in ihrem Geiste so schwer verständlich, war ihre eigenste Natur schon einer weiten Verbreitung hinderlich. Eine kühne, gewaltige Sprache redet der junge Geist, wie sie an den Gewaltigsten, Beethoven, erinnert; während, namentlich in seinen langsamen Sonatensätzen, ein leises Traumleben, ein unendlich seines Gefühlsgewebe auf eine natürliche Wahlverwandtschaft mit Schumann hindeutet. Dabei ist von Reminiscenzen keine Rede – man müßte denn das Hauptthema des ersten Satzes der C-dur-Sonate, das an dasjenige der großen Beethoven'schen B-dur op. 106 anklingt, durchaus dafür nehmen wollen! –, wir schauen bereits einer ausgebildeten Individualität in's Angesicht. Nur gering ist die Zahl der Meister, die ein ähnliches opus 1 aufzuweisen haben. Nur etwa Beethoven in seinen Trios, Schubert in seinem »Erlkönig«, Mendelssohn in seinen Quartetten, Berlioz in seiner »Vehmrichter«-Ouvertüre, Franz in seinem ersten Liederheft haben in diesen ihren Erstlingen schon ihre Eigenart zu so charakteristischem Ausdruck gebracht. Dieses frühest edirte Werk von Brahms – die erwähnte C-dur-Sonate – gehört zugleich zu dem Wildesten, Stürmischsten, was wir von ihm besitzen. Noch ungebändigt fließt hier der Strom der Leidenschaft, den er später in engere Grenzen zwingt; ein starkes, fast übermüthiges Kraftgefühl lodert allüberall hervor, eine stolze Freiheit der Gestaltung macht sich geltend, die die Form wie spielend beherrscht und sich in den verwickeltsten thematischen Verschlingungen und[256] contrapunktischen Künsten gefällt, welche letztere jedoch nirgends um ihrer selbst willen da zu sein scheinen, sondern durch ihre geistige Bedeutung erst einen höheren Werth empfangen. Die eigenthümliche Art, wie Brahms die alte contrapunktische Kunst der modernen Vollgriffigkeit verbindet, den doppelten Contrapunkten und Imitationen Füllstimmen hinzufügt, macht seine Instrumentaltechnik so schwierig und giebt ihr jenen wuchtigen Charakter, der zuweilen selbst an's Schwülstige streift und so häufigem Tadel begegnete. Wie schon Schumann seine Sonaten »verschleierte Symphonien« nennt, so wächst ihm, dessen Schreibart durchaus polyphon ist, die Vielstimmigkeit, einem drängenden, starken Inhalte gemäß, oft über den Rahmen des Claviersatzes hinaus. Das gewählte Mittel erweist sich nicht immer adäquat dem darin niedergelegten Gefühls- und Gedankengehalt. Mancherlei technische Unmöglichkeiten, auch harmonische Härten, rauhe und gezwungene Tonverbindungen kommen zum Vorschein, manches Bizarre, Excentrische taucht auf, und nicht allerwärts erscheint die Schönheitslinie streng gewahrt. Es bleibt solcher Sturm und Drang eben das Wahrzeichen der Jugend, deren heißes Blut sich abkühlen muß, um zu dem Ebenmaß in Empfindung und Darstellung, der Ruhe in der Bewegung zu gelangen, die allein der Preis eines starken Wollens und Ringens, einer vollendeten Reise sind.

Von noch gefaßterem Wesen und ernsterer Würde bezeugt sich die zweite, Clara Schumann gewidmete Sonate in Fis-moll op. 2. Sie ist von Tiefe und Gewalt der Empfindung, breit und großartig angelegt. Interessant ist die thematische Einheit sämmtlicher Sätze, deren Einzelmotive alle einem Grundthema entnommen sind, das erst im letzten Satze zur vollen Durchführung und melodischen Ausgestaltung kommt. Es beschränkt ihm dies aber nirgends den gesanglichen Reichthum,[257] und nur das aufmerksam lauschende Ohr vernimmt die geheime Verwandtschaft, die innerhalb der Fülle dieser Melodien waltet. Von heißen inneren Kämpfen, von einer reichen, wenn auch noch nicht zur vollen Abklärung gediehenen Innerlichkeit erzählt uns diese Musik. Wem freilich für die wortlose Poesie der Töne kein Verständniß gegeben ist, wer ihre symbolische Sprache nicht zu deuten weiß, thut wohl daran, diesen Sonaten, wie der Brahms'schen Muse überhaupt, fern zu bleiben! Mit bloser Intelligenz kommt man ihr gegenüber nicht aus; Dichtersinn aber ist nun einmal keine allverbreitete Gabe.

Eine dichterische Interpretation verlangt insbesondere auch das Andante der dritten Sonate in F-moll op. 5. Es bekennt sich offen zum Genre der Programmmusik und trägt ein poetisches Motto an der Stirn; aber auch wohl ohne dasselbe würden wir einen der schönsten Liebesgesänge erkennen, wie sie je in Tönen laut geworden. In dem als »Rückblick« bezeichneten Intermezzo hat es sein sinniges, nur dunkler gefärbtes Gegenstück. Das sind die Höhepunkte des Werks, das als Ganzes gleichwohl hinter der Fis-moll-Sonate zurückstehen muß. Als echt Brahms'sche Züge fallen uns schon hier der lange doppelte Orgelpunkt in der Coda des Andante, das unbestimmte Schweben zwischen Dur und Moll, die häufige Folge von Dreiklängen auf.

Leider sind diese herrlichen Sonatendichtungen, obschon sie seit mehr denn zwei Jahrzehnten das Eigenthum der Musikwelt geworden, fast ganz unbekannt. Ihre aristokratische Natur, die sie mit den meisten Erzeugnissen ihres Schöpfers theilen, giebt ihnen mehr inmitten exclusiver Künstlerkreise als im großen Publikum das Heimatrecht. Dennoch gehören sie zu den Zierden unserer Clavierliteratur und neben den Sonaten Schumann's gebührt ihnen eine bleibende Stelle.[258]

Nicht glücklicher ist es den übrigen Compositionen ergangen, die im selben Jahr (1854) aus Brahms' stillem Arbeitszimmer heraus an die Oeffentlichkeit traten. Seinem Claviertrio op. 8 hat sich nicht all zu häufig der Concertsaal aufgethan und von den Liederheften op. 3,6 und 7 scheint nur der erste Gesang »Liebestreu'« standhaft der Vergessenheit zu trotzen. Zu ihm – eigentlich einem von einer Stimme vorgetragenen Zwiegesang – greifen unsere besseren Sängerinnen neuerdings mit wachsender Vorliebe zurück, nicht ohne sich dadurch eine ergreifende Wirkung zu sichern. Trotz der Verschiedenheit des Einzelwesens dieser Lieder haben sie übrigens alle einen Strom edler inniger Melodie gemein: ja so absolut musikalisch verfährt der Tonsetzer in der melodischen Ausdrucksweise, daß ihm die Kritik in op. 6 sogar einige Verstöße gegen die richtige Declamation nachweisen konnte. Der technischen Ausführung bieten all' diese ersten Gesänge keinerlei Schwierigkeiten; sie geben sich ihrem Charakter gemäß ungleich einfacher als die besprochenen Pianofortewerke. Die meist beibehaltene Structur der Liedform läßt nicht wie bei jenen complicirte contrapunktische Combinationen zu, ob sich der Contrapunktist auch hier nicht verleugnet, wie ja die erwähnte »Liebestreu'« beispielsweise canonisch gehalten ist. Schwerer ist den Liedern von ihrer geistigen Seite her beizukommen; sie erfordern feinfühlige Sänger und Begleiter: ein Duett, das sich nicht gar zu häufig findet.

Wie sie, im Ganzen mehr für den Haus- als Concertgebrauch geeignet, stellen sich die Variationen und Clavierballaden op. 9 und 10 dar. Die Ersteren – über ein Thema von Schumann (Albumblatt aus op. 99) geschrieben und dessen Gattin gewidmet – geben der Trauer um den geliebten Meister, der damals hoffnungslos in Endenich weilte, Ausdruck. Sie feiern ihn in einem rührenden Klagegesang, der[259] selbstverständlich mehr zu stillem Genusse als zu lauter Wiedergabe auffordert. Ebenso wollen die schwermuthsvollen, sein tonmalerischen Balladen mehr für sich als für Andere gespielt sein; ihr zarter geistiger Duft verflüchtigt sich allzu leicht im Concertsaal, der greifbarere Gestalten und Rhythmen fordert.

Nach Veröffentlichung dieser letzten Balladendichtungen, die der der vorhergehenden Werke erst zwei Jahre später, 1856 folgte, versank Brahms in tiefes Schweigen. In musikalischen Blättern und Catalogen gab es viele Jahre hindurch kein neues Werk von ihm zu verzeichnen, denn das einzige, was er inzwischen (1858) veröffentlichte – ein Heft »Volkskinderlieder, den Kindern Robert und Clara Schumann's gewidmet« – nannte nicht einmal seinen Namen. Erst als 1861 endlich eine Reihe neuer Schöpfungen an's Licht kam, war von ihm als Componist wieder die Rede. Mittlerweile hatte er seit Anfang 1854 längere Zeit in Hannover gelebt. Es folgten Concertreisen bald mit Joachim, bald mit Stockhausen in Hamburg, am Rhein und anderwärts. Wiederholt besuchte er in der Heilanstalt zu Endenich bei Bonn Robert Schumann, dessen verhängnißvolle Krankheit ihn tief erschütterte. Erst als sich ergab, daß diese Besuche stets eine gesteigerte Aufgeregtheit des unglücklichen Meisters zur Folge hatten, stellte er dieselben ein. Im Jahre 1858 bekleidete er in Detmold die Stellung eines Dirigenten der Hofconcerte und des Gesangvereins, an dem der Fürst selbst thätigen Antheil nahm. Doch gelang es trotz aller Bemühungen nicht, ihn dauernd daselbst zu fesseln. Während der nächsten Jahre nahm er nirgends festen Wohnsitz; nur zweimal hielt er sich einige Sommermonate hindurch in seiner Vaterstadt auf. Im Uebrigen führte er nach Künstlerart, vielfach concertirend, ein Wanderleben, das ihm den Vortheil der persönlichen Bekanntschaft mit den besten Künstlern[260] der Jetztzeit vermittelte. Besondere Sympathien fand er, dank Theodor Kirchner's ihm bahnbrechenden Bestrebungen, in der Schweiz; noch entschiedenere in Wien, wo er im Jahre 1862 zuerst eintraf. Als Interpret der Werke Bach's, Beethoven's und namentlich Schumann's am Clavier, gewann er sich sofort die Gunst des Publikums und der Kunstgenossen. Ein Wiener Correspondent der Leipziger »Allgemeinen Musikalischen Zeitung« (Januar 1863) behauptet sogar: »Wir haben Schumann's Compositionen nie so geistvoll, innig, mit solch' überzeugender Wahrheit vortragen hören als von Brahms«, und gelegentlich des zweiten der mit wachsendem Erfolg von ihm veranstalteten Concerte bemerkt derselbe, daß Brahms nicht nur Compositionen von Bach, Beethoven, Schubert, Schumann, sowie seine eigeneF-moll-Sonate auswendig spielte, sondern auch, da er die Sachen sämmlich nicht zur Hand hatte, alle aus dem Gedächtniß geübt habe. (Darunter Bach's chromatische Phantasie und Schumann's Concert sans Orchestre.) »Die geistige Beseelung seiner Vorträge«, heißt es an dieser Stelle, »ist unbeschreiblich; sie thut sich in dem edlen, echt poetischen Grundton des Ganzen wie in der Fülle von Details kund, die, so ungesucht sie sind, von zwanzig Virtuosen kaum Einem einfallen.«

In der That hat Brahms wenig vom eigentlichen Virtuosen. Ihm gilt das Clavierspiel nicht als Selbstzweck, sondern lediglich als Mittel zum Zweck. Seine Vortragsweise steht in enger Abhängigkeit von seiner Stimmung. Fühlt er sich disponirt, so ist seine Darstellung inspirirt, höchst energisch, voll Größe und Wärme der Auffassung. Dabei charakterisirt sie, trotz einer gegenwärtig nicht mehr allseitig ausgeglichenen und auf der Höhe stehenden Technik, eine außerordentliche Mannigfaltigkeit der Tongebung und vollendete geistige Klarheit.[261] Seines seltenen, einen großen Theil der gesammten Clavierliteratur umfassenden Gedächtnisses gedachten wir schon, und ist dies in der That um so bewundernswerther, als – was bei den Pianisten gewöhnlichen Schlags nicht in Betracht kommt – seine Geisteskraft durch eine umfangreiche schöpferische Thätigkeit absorbirt wird. Namentlich für die Popularisirung seiner eigenen Schöpfungen ist seine Verdolmetschung von unberechenbarem Vortheil. Jede Schwierigkeit des Verständnisses scheint da überwunden, und von seiner sicheren Hand gedeutet, löst sich, was uns zuvor ein Geheimniß dünkte. Seinen Leistungen als Componist widerfuhr in Wien denn auch gerechtere Würdigung als anderwärts. Den Clavierquartetten, Serenaden und Variationen, die er zu Gehör brachte, ward eine, wenn auch nicht enthusiastische, so doch ehrende Aufnahme zu Theil.

Wie es gekommen, daß er, der Norddeutsche, zu ernstester Anschauung des Lebens und der Kunst Geneigte, gerade unter den leichtlebigen Wienern, denen doch die ihm verwandte Kunstnatur Schumann's lang ein Geheimniß geblieben war, so schnell Boden faßte, das darf uns um so mehr Wunder nehmen, wenn wir einen vergleichenden Blick auf die Auslassungen der norddeutschen, beispielsweise der Leipziger Presse jener Zeit werfen. Nachdem Brahms am 27. Januar 1859 im Gewandhaus zu Leipzig sein damals noch ungedrucktes Clavierconcert in D-moll vorgetragen hatte – ein Werk, das die Unbefangenen unter den Musikkundigen, denen es vertraut geworden, heute dem Besten seines Genres und den bedeutendsten Kunsterscheinungen überhaupt beizählen – da bezeichnete ein Referent der »Signale« (derselben Fachzeitung, die wenige Jahre zuvor ein so seines Verständniß für Brahms' Eigenthümlichkeit an den Tag gelegt) dasselbe als ein »zu Grabe getragenes«[262] Product von »wahrhaft trostloser Oede und Dürre.« Die Gedanken dünken den Betreffenden blaß, schemenhaft, nur hin und wieder von hectischer Röthe angehaucht; von organischer Entwicklung, logischem Fortspinnen, meint er, ist selten die Rede, ihm ist das Ganze »ein dreiviertelstundenlanges Würgen und Wühlen, eine ungegohrene Masse mit einem Dessert von schreiendsten Dissonanzen und mißlautendsten Klängen.« Selbst die von Schumann begründete »Neue Zeitschrift für Musik«, die »gegen die wenig achtbare Weise der Beurtheilung« des in Frage stehenden Werkes »Protest einlegt«, betont, wenn schon sie seinem dichterischen Gehalt Gerechtigkeit angedeihen läßt, »die Mängel der äußeren Erscheinung.«

Erst drei Jahre später erstand Brahms in demselben Organ3 ein beredter Anwalt: Dr. A. Schubring in Dessau, der dem geschmähten Concert zu der gebührenden Schätzung verhalf.4 Sämmtliche der bis dahin veröffentlichten Compositionen von Brahms (bis op. 18) einer eingehenden Besprechung unterziehend und das Genie ihres Urhebers an ihnen darthuend, vindicirt er diesem eine Goethe'sche Kunstnatur, eine zur vollkommenen Ebenbürtigkeit mit Bach, Beethoven und Schumann heranreifende Bedeutung – ein Ausspruch, der, so mannigfaltiger Gegnerschaft er noch heutigen Tages begegnen dürfte, an Kühnheit noch um Vieles dadurch gewinnt, daß er vor einundzwanzig Jahren gethan wurde. Damals, wo die Gemeinde der Gläubigen, die auf die Erfüllung der Schumann'schen Verheißung durch den jungen Hamburger Meister zuversichtlich hoffte, nur wenige Glieder zählte, wo dagegen[263] der Unglaube und Widerspruch sich ihm gegenüber allenthalben breit machten, war Muth von Nöthen, um ein solches Wort auszusprechen, das erst vom Laufe der Zeit und der heranwachsenden Erkenntniß seine Sanction empfangen konnte. Ist man doch selbst in unseren, in der Würdigung dieser eigenthümlichen Individualität wesentlich fortgeschrittenen Tagen im Allgemeinen noch keineswegs darüber einig, ob man in ihr ein Gestirn erster oder zweiter oder noch minderer Größe zu erblicken hat.

Betrachten wir die Werke, welche Brahms, wie erwähnt, nach jahrelanger Pause endlich von 1861 an wieder der Oeffentlichkeit übergab, so wird uns deren veränderte Physiognomie im Vergleich mit seinen Erstlingscompositionen sofort augenfällig. Die Wolken- und Nebelbilder, die die letzten derselben, zumal seine Balladen erfüllen, sind verstoben, die grausen Nachtgesichte sind heitern Lichtgestalten gewichen. Dem Hang zu grüblerischer Träumerei, wie dem Bann ungezähmter Leidenschaft hat er, so scheint es, sich mehr entrungen: es ist Friede und ruhige Klarheit über ihn gekommen. Abseits vom romantischen Land, darin er bisher seine schönsten Blumen und Früchte gepflückt, leitet nun sein Weg hinüber nach classischen Gefilden, und während er bislang, nicht in äußerer Nachahmung, sondern in innerer Seelenverwandtschaft und unbeschadet seiner Eigenthümlichkeit, Schumann'sche Bahnen gewandelt, hat er die jahrelange Zurückgezogenheit benutzt, um von neuem bei dem erhabensten unserer Tongeister: Beethoven, und dessen großen Vorgängern in die Schule zu gehen. Neben Beethoven'schen und Schumann'schen Zügen, wie sie sich schon in seinen frühesten Erzeugnissen finden und seinem zwischen strenger classischer Form und romantischer Geistesemancipation schwebenden Schaffen dauernd aufgeprägt bleiben, tauchen jetzt[264] in seinen Serenaden für Orchester op. 11 und 16 vereinzelte Spuren auf, die an Mozart gemahnen. Eine sonnig milde Atmosphäre herrscht in jenen Werken und dem Sextett op. 18 (1862), dem heitersten und klarsten, was er überhaupt hervorgebracht. In glücklicher Charakteristik weiß er in seinen »Volkskinderliedern« und den »Liedern und Romanzen« op. 14, wiederum den schlichten Volkston zu treffen, und seine »Marienlieder« op. 22, – unter denen Nr. 2, » Maria's Kirchgang« durch geniale Textbehandlung hervorleuchtet – bezeugen, wie sehr ihm auch der Kunstausdruck der altdeutschen Schule, die religiöse Weise Eccard's und Prätorius' geläufig. Der junge Meister sitzt fest in allen Sätteln, er tummelt seinen Pegasus mit starker Hand und läßt sich von ihm nach jedem beliebigen Ziele tragen. Seine Eigenart bleibt dabei treu gewahrt; was er giebt, ist die Frucht eines selbständigen Geistes, der es verschmäht, sich auf breitgetretenen Gleisen zu bewegen. Gesättigt von allem Guten und Großen, was die Vorzeit seiner Kunst überlieferte, zieht er, auf sicherem Fundament zur Selbstentwicklung und Läuterung gelangend, seine eigene Straße weiter.

Zu seiner vollen Größe richtet sich Brahms in dem erwähnten Clavierconcert op. 15 auf, einer Größe, die auch durch seine späteren Thaten nicht wesentlich überschritten worden ist. Es steht in schroffem Gegensatze zu den Werken, die seine nächste Umgebung bilden. Neben den heiteren idyllischen Charakteren der Serenaden und des Sextetts erhebt es sich als eine düstere Nachtgestalt, ein Gemälde voll dämonisch entfesselter Leidenschaft und verzweifelten Kampfes um Sein und Nichtsein, um Leben und Tod. In wilden Schmerzensrufen macht sich die gequälte Seele Luft; graus und schauerlich tönt ihr Gesang, rührend, wie unter der Last heimlicher Thränen[265] zusammenbrechend, hinwiederum ihre leise Klage. Erst im zweiten Satze waltet Friede und selige Ruhe: Benedictus qui venit in nomine Domini lautet seine Ueberschrift in der Originalpartitur. Es ist auch eine Art Kirchenscene voll Andacht und frommer Weihe. Als der am populärsten gehaltene Theil tritt das Rondo Finale hervor, das, sich gegen das Ende hin zu dithyrambischem Schwunge steigernd, das Ganze abschließt.

Man hat das Concert eine neunte Symphonie mit Clavier genannt, und in der That legen die Aehnlichkeit der Stimmung und Situation, die riesigen Verhältnisse der Anlage im ersten Satz einen Vergleich beider Werke nahe. In colossaleren Dimensionen als dies Brahms'sche Maestoso ward kein anderer Concertsatz auferbaut. Statt der üblichen zwei Hauptthemen kommen deren fünf darin zur Verarbeitung. Die ganze originelle Tondichtung macht mehr einen symphonischen als concertmäßigen Eindruck und darf demzufolge mit Recht als »Symphonieconcert« bezeichnet werden. Clavier und Orchester treten als gleichberechtigte Mächte auf, deren jede ihre vollen Streitkräfte in's Feld führt; wetteifernd lösen sie einander ab, ohne daß das eine herrschend, das andere gebunden erschiene, um sich dann wieder zu erhöhter Wirkung zu vereinigen. Da ist nirgends Phrase und Figurenwerk, nirgends Aeußerliches – alles ist von innen heraus geboren. Auf brillante Passageneffecte, wie sie die Concerte Weber's und Mendelssohn's so dankbar machen, nicht minder auf gefällige, leicht sich einprägende Motive muß freilich verzichten, wer sich diesem ernsten Kunstwerk befreunden will, und nicht ohne innere Arbeit vermag er ihm beizukommen. Die rhapsodische Art, wie der Componist namentlich im ersten Satz absetzt und wieder anhebt, ruhelos weiterhaftet, uns kaum einen Moment der Rast und[266] Sammlung an freundlicheren Bildern gewährend, machen dem Hörer das Nachkommen schwer, das Urtheil des Uebelwollenden um so leichter und schneller fertig. Erst bei genauerer Bekanntschaft sind wir im Stande, all die Schönheiten zu fassen, und der zuerst empfangene Eindruck klärt und befestigt sich.

Die Schwierigkeit ihres Verständnisses in Verbindung mit der nicht geringeren der Wiedergabe der Clavierpartie, die einen ganzen Künstler fordert, mag es veranlaßt haben, daß die ernst stilisirte Tonschöpfung, obwohl sie bereits ihre fünfundzwanzig Jahre zählt, als ein so seltener Gast in unseren Concertprogrammen begrüßt wird. Es sind dabei keine leichten Lorbeeren zu pflücken; wer es unternimmt, dieselbe vorzuführen, darf den Kampf mit den gleichen Vorurtheilen nicht scheuen, wie sie fast jeder bedeutenderen Künstlerthat gegenüber ihre mißtönende Stimme erheben. Um so höher ist das Verdienst Frau Clara Schumann's anzuschlagen, daß sie ihre Autorität für das Werk ihres Freundes einsetzte und demselben, wo es durch sie zum Vortrag kam, zum mindesten einen Achtungserfolg erzwang. Auch Kirchner hat es wiederholt in der Schweiz, Leschetizky in Petersburg, Tanejeff in Moskau, Mary Krebs in London und Dresden, Wilhelmine Clauß-Szarvady in Paris mit großem Erfolg zur Aufführung gebracht. Weiter hat namentlich der für Brahms begeistert thätige Hans von Bülow durch seine geniale Interpretation für Verbreitung desselben erfolgreich gewirkt.

Wenn Wien, wie bemerkt, der Ruhm gehört, Brahms früher als andere Orte – Hannover und verschiedene Schweizer Städte etwa hiervon ausgenommen – erkannt und anerkannt zu haben, so bewies ihm der Künstler selber seinen Dank dafür, indem er es fortan zu seinem Aufenthalt erwählte.[267] Im Jahre 1863 an Stegmayer's Stelle zum Chormeister der Singacademie berufen, trat er sogar in eine amtliche Thätigkeit ein; legte dieselbe jedoch, obgleich man ihn für drei weitere Jahre zu gewinnen wünschte, schon nach Verlauf einer Saison zu Gunsten Dessof's wieder nieder. Nichtsdestoweniger blieb er der Donaustadt, die von jeher auf die Tonkünstler die lebendigste Anziehungskraft ausübte, getreu, dauernd in ihre heiteren Kreise gebannt und sich immer mehr in das ihm von Natur fremde Element hineinlebend. Nur die Sommermonate pflegte er oft mit Clara Schumann gemeinsam in Baden-Baden zu verbringen, und seine idyllische Wohnung in Lichtenthal hat manch' bedeutendes Werk entstehen und vollenden sehen. Während der letzten Sommer nahm er wechselnd in der Heidelberger Gegend, in Rügen, Steyermark, Kärnthen, Ischl, Wiesbaden seinen Aufenthalt. Zeitweilig ward namentlich in Deutschland und Holland concertirt; im Uebrigen widmete er sich frei und ungebunden seinem schöpferischen Beruf. In raschem Aufeinander veröffentlichte der mit einer seltenen Productionskraft Begabte Werk um Werk.

Unter dem im Jahre 1863 Herausgegebenen ragen an erster Stelle die beiden Clavierquartette in G-moll und A-dur op. 25 und 26 hervor: ein Zwillingspaar genialer Art, ob auch verschieden an Geist und Angesicht. Das Letzte einem hellen Frühlingstag vergleichbar, das Andere mehr einer düstern Herbststimmung voll Sturm und Wetterschauer und voll ernster Mahnung zur Einkehr in sich selbst. Sollen wir die zwei an einander messen, so reichen wir unserntheils dem in G-moll den Preis, beide aber rechnen wir zu unsern werthvollsten Besitzthümern im Bereich der Kammermusik.

Perlen der Clavierliteratur hinwiederum gab er uns in den zwei- und vierhändigen Variationen op. 24 und 23, die[268] um dieselbe Zeit – 1862 und 1863 – entstanden. Die ersten, über ein Thema von Händel geschriebenen – 25 an der Zahl, ohne die abschließende Fuge – wurden von Wiener Stimmen geradezu als »chef d'oeuvre der Claviercompositionen Brahms' und der Gegenwart überhaupt« genannt. Der Reichthum an verändernder Kraft, die Phantasiefülle, die das Eine in immer neuem Lichte betrachtet und darstellt, eine unendliche Mannigfaltigkeit von Figuren, Bildern und Ideen aus dem schlichten Thema hervorzaubert, setzt uns in Staunen, so oft wir uns dem Werk gegenüber sehen. Für dessen Bekanntwerden hat, so wenig es sich eigentlich seiner weiten Ausdehnung halber für den Concertvortrag eignet, sich wiederum namentlich Hans von Bülow verdient gemacht. Der seine, geistvolle Charakter dieser Musik mußte den scharfsinnigsten unserer gegenwärtigen Pianisten – der überdies Brahms seit langem persönlich befreundet ist, ebenso wie der früh verstorbene Tausig es war – zur Wiedergabe reizen.

Mehr der innersten Seele des Componisten ist seinop. 23 entflossen. Neben seinem ausgebreiteten Wissen und Können hat hier auch sein Herz lebendigen Antheil genommen: es ist eine Huldigung, die er dem Andenken Schumann's darbringt. »Variationen über ein Thema von Robert Schumann, dessen Tochter Julie gewidmet«, nennt es sich einfach. Es wirkt schon für sich durch seine Erscheinung, durch seine Innigkeit und Kunstschöne; erhöht aber wird seine Wirkung erheblich für den, der da weiß, daß Brahms hier eben jenes selbe Thema zu Grunde legte, das Schumann während des Ausbruchs seiner Krankheit beschäftigte und von dem er wähnte, es sei ihm von Schubert und Mendelssohn aus dem Jenseits gesandt worden. Man muß das wissen, um die Blumen alle deuten zu können, die er zusammenschlingt zum Kranze für den Unvergeßlichen.[269] Es sind allenthalben zarte, sinnige Bezüge; alle Stimmungen des Schmerzes tönen darin aus, von den sanften Aeußerungen der Wehmuth bis zum herben Klagelaut; aber auch der »Trost in Thränen« fehlt nicht, und als er dem Freunde im Trauermarsch gleichsam das letzte Geleit gegeben, schließt er versöhnt wie im Hinblick darauf, daß er nun droben im Lichte wandle.

Wie Schumann liebt es auch Brahms, Allerlei in seine Tonbilder hineinzugeheimnissen; es ist viel mehr Poesie in dieser »absoluten Musik« als man sich träumen läßt. Freilich liegt sie nicht handgreiflich oben auf – bei Brahms liegt alles, zumal das Beste, in der Tiefe. Sein scharfer Kunstverstand, seine immer rege Selbstkritik behüten ihn jedoch vor dem Ueberhandnehmen überschwänglicher Stimmungen gleicherweise wie andrerseits vor den rückhaltlosen Ausbrüchen seines Empfindens. Nur jeweilig erinnert eine verschwimmende mondscheinartige Gestalt, ein zuckender Blitz, eine jäh aufleuchtende Flamme an eine frühere Periode, wo der Künstler die elementaren Kräfte noch nicht unter die Botmäßigkeit seines Willens gezwungen. Es ist eine gewisse Scheu in Brahms, von seinen eigensten Geheimnissen zu reden; er zieht einen Schleier vor das Allerheiligste seiner Seele. So begnügt er sich namentlich in seinen Liedern oft mit bloßen Andeutungen, mit nur halb Ausgesprochenem; hier muß jenes dichterische Verständniß, das der Componist fordert, ergänzend eintreten, um den Genuß zu einem wahrhaften und vollkommenen zu machen.

Gleichzeitig ist Brahms indessen auch eine große Bestimmtheit und Energie der Ausdrucksweise eigen. Als Kind der modernen Reflexionsbildung besitzt er in hohem Grade die Fähigkeit des Charakterisirens, wenn das charakteristische Element bei ihm auch zumeist dem Fundament der musikalischen Entwicklung eingefügt erscheint und sich als Regel die Tendenz[270] einer ebenmäßig fortfließenden Melodik geltend macht. Manieren, wie wir sie an Spohr, Mendelssohn, Chopin u. A. beobachten, lassen sich bei ihm nicht eigentlich nachweisen; doch hat auch er seinen besonderen Stil. Allem, was er schreibt, ist bei aller individuellen Verschiedenheit untereinander ein gewisser Gesammtcharakter aufgeprägt, eine nur ihm eigenthümliche Physiognomie, die es von den Werken aller andern Tonsetzer deutlich unterscheidet. Sehr bemerkenswerth ist bei Brahms die Kunst der Themenbildung. Ohne allen phrasenhaften Schmuck, nur vermittelst weniger Noten versetzen seine Themen den Empfänglichen alsbald in die entsprechende Stimmung; jeder Ton darin ist melodisch und rhythmisch wichtig und für den Charakter des Ganzen wesentlich. Wie er dann seinen Gedanken bis ins Einzelnste nachgeht, sie zerlegt und ausgestaltet, von allen Seiten beleuchtet, jede ihrer verborgensten Tiefen zu Tage fördernd, verräth er das Wesen des echt deutschen Meisters, der in das Innerste der Dinge dringt und sich nicht zufrieden giebt, bis es ihm gelungen, erschöpfend das darzulegen, worein er sich mit liebevollem Sinn versenkte. Mit der ihm charakteristischen Weise, direct und ohne Umschweif auf sein Ziel loszugehen, hängt auch die rasche Art seiner Modulation zusammen. Ehe man sich's versieht, ist er mit einem Mal in der entferntesten Tonart angelangt und ebenso plötzlich sehen wir ihn wieder im alten Gleise, um bald darauf wieder nach einem neuen ungeahnten Seitenwege auszuweichen. Indem er jeden leitereigenen Accord beliebig als tonischen auffaßt und umgekehrt, eröffnet sich ihm eine unendliche Fülle von modulatorischen Wendungen. Die conventionellen Uebergänge und Brücken meidet er; des Trugschlusses bedient er sich gern und häufig. Die Neigung zur Ausweichung nach der Unterdominant, sowie seine Vorliebe für Diatonik und leitereigene Dreiklangsverbindungen[271] geben seiner Harmonik den ihr eigenartigen ernsten, oft herben und strengen Zug, der sie für das Kirchliche so vorzugsweise geeignet macht. Auch die alten Kirchentonarten werden des öfteren von ihm angewandt. Von der in unseren Tagen dominirenden Chromatik und Enharmonik macht er hingegen nur sparsamen Gebrauch, um da, wo er sie einführt, gesteigerte Wirkungen hervorzubringen. Seine Rhythmik ist piquant, charakteristisch und sprechend, oft nicht wenig complicirt. Zusammengesetzte Tactarten, besonders 6/4 oder 9/4, kommen vielfach bei ihm vor; auch häufiger Rhythmenwechsel, wie z.B. im Andante seiner F-moll-Sonate 2/4, 4/16, 3/8, 4/16, 3/8, 2/4, und 4/4 einander ablösen. Einem seiner Lieder (Agnes, op. 59, Nr. 5) steht sogar 3/4 2/4 Tact gleich vorgezeichnet; beide Tactarten wechseln darin fortwährend alle zwei, drei oder vier Tacte mit einander ab.

In der Instrumentirung verschmäht Brahms nicht die Errungenschaften der Gegenwart, wiewohl ihn auch hier eine gewisse Mäßigung kennzeichnet, die er sich mit der Zeit seiner Reise gewonnen. Nicht als ob er sich jenes Gelübde der Armuth und Entsagung auferlegte, darin Manche die Beglaubigung des echten Künstlerthums allein finden wollen: daß er im Gegentheil auch die Massen um sich zu sammeln und zur Entfaltung aller ihrer Kräfte anzufeuern versteht, haben uns ja seine großen Chor- und Orchesterwerke – das Requiem und Triumphlied vor allem – zur Genüge gelehrt. Aber auch das Colorit hat an der Innerlichkeit seiner Musik Antheil, die materielle Klangwirkung tritt in den Hintergrund. Das verhindert ihn nicht, zuweilen neue und originelle Klangcombinationen zu bringen; so beispielsweise in den von Hörnern und Harfe begleiteten Gesängen für Frauenchor op. 17, desgleichen in dem Trio op. 40, wo er Clavier und Geige das Horn als dritten im Bunde beigesellt.[272]

Der Kammermusik hat Brahms von jeher liebevolle Pflege zugewandt. Außer dem ebenerwähnten Trio (1868) und den schon früher genannten Werken dieses Genres hat er uns (1865) ein Clavierquintettop. 34, ein zweites Streichsextett in G-dur op. 36, eine Sonate für Pianoforte und Cello op. 38 (beide 1866), drei Streichquartette in C-moll und A-moll op. 51 (1873) und B-dur op. 67 (1876), ein drittes Clavierquartett in C-moll op. 60 (1875), sowie seitdem eine Sonate für Clavier und Violine op. 78, ein drittes Claviertrio op. 87 und ein Streichquintett op. 88 geschenkt. Sie beanspruchen sämmtlich einen hervorragenden Rang unter ihres Gleichen. Daß sie in technischer Beziehung wahre Musterwerke sind, erwähnen wir gar nicht erst, so sehr versteht es sich bei Brahms von selbst. Schon der flüchtigste Blick zeigt ihn ja in allen formellen Dingen als den fertigen, sicheren Meister.

Unter den Arbeiten im Kammerstil, die die Individualität ihres Urhebers am lautersten widerspiegeln, steht das Clavierquintett in F-moll mit obenan. Zeigt ihn dieses, von dem er 1872 noch eine zweite, freilich etwas farblose, grau in grau gerathene zweite Ausgabe als »Sonate für zwei Pianoforte« veranstaltete, von düsterer, stürmisch bewegter Seite, so giebt er sich in der Geigensonate, deren geistreicher Finalsatz das Thema seines »Regenliedes« (op. 59) behandelt, um so contemplativer, beruhigter. Besonders liebenswürdig und zugänglich tritt er in seinen neuesten Kammercompositionen, dem C-dur-Trio und demF-dur-Quintett, dem Hörer gegenüber.

Wie die Violinsonate op. 78 danken wir wohl auch das ihr unmittelbar voranstehende Werk, das Concert für Violine mit Orchester, dem intimen Verkehr des Componisten mit Joachim und dem Bedürfniß, dem größten unsrer gegenwärtigen Geiger eine freundschaftlich-künstlerische Huldigung darzubringen.[273] Durch Joachim selbst wurde das in der gesammten neueren Violinliteratur an Bedeutsamkeit ohne Rivalen dastehende Concert 1879 in der Oeffentlichkeit eingeführt, und nur wenige seiner Collegen – wir wissen nur von Heermann und Brodsky, der beim Leipziger Musikfest 1883 große Triumphe damit feierte – fanden sich außer ihm zu dessen weiterer Verbreitung bereit. Wenn Tappert dasselbe nicht mit Unrecht eine Symphonie mit obligater Violine genannt hat, so darf man mit gleicher Berechtigung – nicht minder wie das erste, op. 15 – auch das zweite Clavierconcert in B-dur, das Brahms zu Weihnachten 1881 den Wienern im philharmonischen Concert eigenhändig bescherte, als Symphonie mit obligatem Clavier bezeichnen. Denn nicht nur daß es über die übliche dreisätzige Form seiner Gattung zur Viersätzigkeit der Symphonie hinausgreift, das virtuose Element tritt darin, trotz der großen Schwierigkeiten des Clavierparts, ganz zurück; nur wenige Soli sind diesem zu selbständiger Aussprache gegönnt, im Uebrigen verschmilzt er völlig mit dem Orchester. Wie das ältereD-moll-Concert ist auch dies zweite in weiten Dimensionen gestaltet. Der mächtigen Tragik Jenes gegenüber aber behauptet es ein freundlicheres, wenn auch allenthalben das ernste, schwer zu fassende Brahms'sche Wesen und steigert sich erst im letzten Satze zu unmittelbarerer Wirkung.

Auf orchestralem Gebiet ließ Brahms sich seit den erwähnten früh componirten Serenaden erst nach langer Pause mit den seinen, originellen Variationen über ein Haydn'sches Thema, op. 56 – dem ersten Werk in seiner Art – und zwei Symphonien, sowie der »Academischen« und der »Tragischen Ouvertüre« wieder vernehmen. Von den Ouvertüren gehört die »tragische« zu seinen schönsten, die »academische« weitaus zu seinen populärsten Werken. Die letztere, die er im[274] Januar 1881 zuerst in Breslau zur Aufführung brachte, war der Ausdruck seines Dankes für den von der dortigen Universität empfangenen Doctortitel. Mit der ihm eigenen spielenden contrapunktistischen Meisterschaft verwob er darin die dem deutschen Studenten an's Herz gewachsenen Weisen: »Wir hatten gebauet«, das » Fuchslied«, den »Landesvater« und das »Gaudeamus« zu einem Ganzen voll köstlichen Humors.

Die beiden Symphonien, denen eben jetzt eine dritte (F-dur) folgen soll, haben, wie Brahms' Schöpfungen im Allgemeinen, eine sehr verschiedenartige Beurtheilung erfahren. Von den Einen als »zehnte Symphonie Beethoven's« übermäßig verherrlicht, von Andern als »ein erster, im Ganzen nicht übler, im Einzelnen sogar bedeutender Versuch« karg abgefertigt, schien die erste Symphonie in C-moll von vornherein schwer die gerechte Würdigung zu finden. Von einem Hinausgehen über Beethoven in formeller oder ideeller Beziehung, das ist gewiß, ist in ihr und Brahms' Erzeugnissen überhaupt ebensowenig die Rede als in Schubert's und Schumann's symphonischen Werken, welch' letzteren sie wohl neben-, aber sicher nicht überzuordnen ist. Eine neue Perspective wird der symphonischen Kunst durch sie nicht eröffnet, ja auch nicht eigentlich etwas individuell Neues in ihr gegeben. Ein gewaltiger Gedankenflug, eine eigenartige Empfindungssphäre entfaltet sich nichtsdestoweniger innerhalb derselben: Brahms' eigenstes Wesen klingt darin aus. Wieder sind es ernsteste Bilder und Gestalten, die er vor uns erstehen läßt. Ein Faustisches Kämpfen und Ringen waltet in dem ersten Satz, der namentlich in seinem genialen Durchführungstheil die ganze thematische Kunst des Meisters zeigt. Schon die ersten Tacte der, mit schneidenden Vorhalten und Syncopen über einem von Paukenschlägen gebildeten Orgelpunkt anhebenden Einleitung[275] lassen uns nicht darüber in Zweifel, daß es sich hier um einen tragischen Vorgang, um innerste Lebensfragen handelt. Wie Nacht und Sturm, Kampf und Noth gährt und wogt es in den schweren Harmoniemassen, durch die sich vereinzelt, als Licht- und Ruhepunkt, nur ein schnell verschwindender Sonnenblick stiehlt. Die müde Resignation, mit der nach einem letzten Aufgebot aller Kraft der kampfbewegte Satz schließlich austönt, findet in der schwermüthig-sehnsüchtigen Stimmung des folgenden Andante ihre Fortsetzung. Nach dem helleren Intermezzo eines vom Stil des Scherzo abweichenden Allegretto aber gewinnt mit Beginn des vierten Satzes die Tragik wieder die Oberhand. Die einleitenden Klagelaute und das originell beredte Pizzicato-Unisono des Streichquartetts künden neuen Kampf; doch versöhnend und erlösend tritt ein choralartiger Posaunensatz dazwischen und ein von den Geigen zuerst angestimmter Freudenchor feiert am Ende den Sieg und jubelnden Triumph. Dieser letzte Satz wächst in seiner breiten Anlage und dreifachen Gliederung – er setzt sich aus einem Adagio, einem Andante und Allegro zusammen – über das gewohnte Maß des Finale weit hinaus und wird dabei dem künstlerischen Gesetz der Steigerung in einer Weise gerecht, die nur in wenigen der Nach-Beethoven'schen Symphonien ihres Gleichen findet.

Nichtsdestoweniger hat sich eben gegen diesen und den ersten Satz – also gerade gegen die bedeutendsten Theile des Werks – vielfältige Opposition gerichtet, die hier in der schwieriger erkennbaren musikalischen Structur, dort in einer gewissen Stimmungs- und Ideenverwandtschaft mit dem Schlußsatz der neunten Symphonie, an dessen Freudenthema das Hauptmotiv des abschließenden Allegro anklingt, ihre Stützpunkte fand. Obwohl mit vieler Ungeduld erwartet – denn man wußte Brahms[276] schon seit Jahren mit einer Symphonie beschäftigt, nachdem er dieser größten Instrumentalform lang aus dem Wege gegangen, – wurde das ernste Werk bei seinen ersten Aufführungen in Carlsruhe (4. November 1876), Mannheim, München und Wien ziemlich lau aufgenommen und erst nach seinem glänzenden Erfolg in Leipzig nahm seine Carrière eine so glückliche Wendung, daß es binnen kurzem in den angesehensten deutschen und auswärtigen Concertsälen (in Moskau, Basel, Zürich, Rotterdam, Haag, Amsterdam, Cambridge, Glasgow, Edinburg, New-York etc. wurde es gehört) die ihm gebührende, hervorragende Rolle spielte.

Glücklicher gestaltete sich das Debut von Brahms' zweiter Symphonie in D-dur, als sie am 30. December 1877 in einem der Wiener philharmonischen Concerte ihren öffentlichen Lauf begann. Unvergleichlich heiterer, freundlicher geartet, vielmehr eine uns fremdere optimistischere Seite der Individualität des Componisten herauskehrend, dazu in wesentlich kleineren, leicht übersichtlichen Verhältnissen, mehr nach dem alten Schema angelegt, war ihr von Haus aus eine allseitigere Zugänglichkeit gesichert als ihrer älteren, tiefsinnigeren Schwester. Von deren stolzer herber Größe, ihrem tragischen Pathos und idealem Gehalt entfernt sie sich weit. Was wir hier vor uns sehen ist lächelndes Leben, freudiges, schwellendes Sprießen und Blühen. Nur der zweite Satz (Adagio, H-dur) trägt eine ernstere, mehr Brahms'sche Physiognomie. Mit seinem in sich hineinschauenden, grübelnden Wesen tritt er zu den übrigen sonnigen Gestaltungen: der duftigen Romantik des ersten, dem lieblichen Idyll des dritten und dem lichten Festglanz des in einer bei Brahms ungewohnt üppigen Instrumentation prangenden Finalsatzes, in lebhaften Gegensatz. Im Ganzen verhält sich seine zweite zur ersten Symphonie wie etwa Beethoven's[277] vierte zur dritten, wie dessen sechste zur fünften, dessen achte zur siebenten. Die kühnere, bedeutsamere That ist ohne Frage die C-moll–Symphonie, auch wenn beide die Souveränetät des Meisters in Beherrschung des symphonischen Stils, bei all ihrer Charakterverschiedenheit, gleicherweise zeigen. Was wird uns nun seine neue dritte Symphonie bringen? Louis Köhler antwortet darauf: »Was Brahms an symphonischen Werken Dauerndes, Epochemachendes schaffen kann, dürfte wohl nur entstehen, wenn er einen Schritt über den, wie es scheint, selbstgezogenen absolut-musikalischen Bannkreis thäte, nicht aus Anregung sondern aus eigenem Bedürfniß.«

Daß Brahms trotz eines heutzutage förmlich in der Luft liegenden Charakterisirungs-Strebens und Vermögens, in erster Linie specifischer Musiker ist, bezeugt neben seiner Vorliebe für Kammermusik und seinen orchestralen Arbeiten namentlich seine Stellung zum Lied und der Vocalmusik überhaupt. So sehr auch seine musikalische Ausdrucksweise durch die Rücksicht auf die textliche Grundlage bedingt erscheint, so ist doch immer ein merkliches Uebergewicht der ersteren über die letztere fühlbar, und wie Mozart es von der Oper will, daß »die Poesie der Musik gehorsame Tochter sei«, so macht es auch Brahms zum Gesetz seiner Vocalcompositionen. Anders als Schumann, der die poetische Intention zur Hauptsache erhebt, anders auch als Robert Franz, der ein völliges Gleichmaß zwischen Wort- und Tongedicht erstrebt, nähert Brahms sich im Lied mehr der Schubert'schen Auffassung, indem er das rein Musikalische in den Vordergrund stellt. Dem melodischen Flusse muß sich die Declamation fügen, sich mitunter auch eine Textwiederholung, einen Accent gefallen lassen, die nicht im Wesen der Dichtung liegen.

Ein charakteristisches Merkmal für Brahms' Lieder im[278] Allgemeinen zu geben, ist nicht wohl möglich. Er ist eben ein Anderer in jedem Liede, ob er auch immer derselbe seine Ausleger des dichterischen Gedankens bleibt. So vielfach die Stoffe, die er wählt, so vielfach auch die Weise, in der er diese behandelt und beleuchtet. Da ist nichts Stereotypes; er ist immer neu an jeder Stimmung entsprechenden Gedanken, an ungeahnten Wendungen und Contrasten. Bald redet er im declamatorischen Pathos, wie Schumann vornehmlich es im Lied vertritt, bald in schalkischer Laune und Anmuth; da malt er uns ein farbengesättigtes Situationsbild, dort giebt er in leisen, kaum angedeuteten Tönen ein ergreifendes Stimmungslied; hier singt er eine schlichte Volksweise in Strophenform, ein andermal wächst ihm das Lied über den üblichen Rahmen hinaus zur Scene hinan. – Es sei in dieser letzten Beziehung beispielsweise an mehrere der Magelonenromanzen, wie an Nr. 8 aus op. 57: »Unbewegte laue Luft« erinnert! – Weitaus die Mehrzahl seiner Gesänge sind Liebeslieder; trotz alledem welche Mannigfaltigkeit!

In der Wahl der Texte verfährt er sein und eigenthümlich. Wir begegnen bei ihm Dichternamen, die wir bis dahin selten oder nie eine musikalische Verbindung eingehen sahen. Paul Flemming, Hölty, Claus Groth, Hebbel, Kopisch, Platen, Schack, Gottfried Keller, vor allen Anderen Daumer haben ihn zum Sange angeregt; auch aus des Knaben Wunderhorn, aus Heyse's italienischem Liederbuch, aus böhmischen Volksliedern ist ihm manch' schöne Frucht erwachsen. Von den sonst so bevorzugten Dichterlieblingen unserer Musiker treffen wir nur Goethe und Uhland, auch einmal Eichendorff – wir erinnern uns nicht, Heine, Lenau, Geibel in Brahms' Lyrik vertreten gefunden zu haben. Dagegen hat er Tieck, dem alten Romantiker, einen ganzen Cyclus: »die Romanzen aus der Magelone« [279] op. 33 in Tönen nachgedichtet und einer Poesie, die inmitten des ziemlich antiquirten Märchens wohl rettungslos der Vergessenheit anheimgefallen sein würde, zu dauernder Bedeutung verholfen. Nur Einzelnes daraus – es sind 15 Gesänge in 5 Heften, deren erste zwei 1865, deren letzte aber erst 1869 erschienen – ist bisher in den Concertsaal gedrungen, meist dank Stockhausen's Vermittelung, des trefflichen Sängers, dem das Werk auch gewidmet wurde. Am populärsten ist das Schlummerlied, »Ruhe, Süßliebchen«, nächst ihm auch das geniale »Wie froh und frisch mein Sinn sich hebt« und etwa das, im Gegensatz zu der breiteren Anlage der übrigen, mehr in der knappen Liedform gehaltene »Muß es eine Trennung geben« geworden; während nicht minder Herrliches, wie »Sind es Schmerzen, sind es Freuden« und das ganze großartig empfundene zweite Heft im Allgemeinen noch ziemlich unbekannt ist. Wollten sich unsere Sänger entschließen, den Schatz, der im Ganzen niedergelegt ward, zu heben, so würde der Moment gewiß auch nicht mehr fern sein, wo man in der »Magelone« eine würdige Gefährtin des Beethoven'schen »Liederkreises«, der Schubert'schen »Müllerlieder« und », Winterreise« und der Schumann'schen »Dichterliebe« und »Frauenliebe und -Leben« erkennen wird! Freilich Brahms verlangt nicht wenig von seinen Interpreten: zur technischen Fertigkeit muß da noch ein seines geistiges und seelisches Verständniß kommen. Der Schwarm unserer Alltagssänger und Clavierspieler thut darum besser, sich nicht an solch' subtilen Kunstwerken zu vergreifen. Wo aber den gerechten Anforderungen des Künstlers Genüge geleistet wird, da treffen seine Lieder auch in's Herz. Daß sie schon viele Herzen getroffen, bezeugt die Anerkennung, deren sich Brahms auch da, wo man sich seinen übrigen Thaten gegen über noch im Dunkeln befindet, als Liedercomponist[280] erfreut. Seit sich Robert Franz, dem großen deutschen Liedermeister, allmälig die verspätete Theilnahme seines Volkes erschlossen, ist auch der Sinn für Brahms' Gesänge offener und allgemeiner geworden, und wenn von den ersten Tonlyrikern der Gegenwart die Rede ist, wird neben Jenes Namen unfehlbar der seine genannt. An Tiefsinnigkeit der Intentionen gleichen sie einander; nur ist Brahms im Liede mehr Leidenschaft, mehr Freiheit der Auffassung und Darstellung eigen, während Franz en miniature, stets mit dem feinsten Pinsel malt. Man denke jedoch nicht, daß nicht Brahms auch als Liedersänger an feinsinnigen Malerzügen reich sei. Auf seiner Palette finden sich viele Farben und er versteht sie zu mischen und wirkungsvoll zu gebrauchen. Wer, der seine Gesänge einmal zur Hand genommen, hätte nicht seine tonmalerische Gabe, so discret sie auftritt, ja eben ob dieser ihrer Discretion, bewundert? Schon in einem seiner frühesten Liederwerke, op. 19, fallen uns z.B. in dem Uhland'schen »Der Schmied« die seltsam hämmernde Begleitung, in dem schönen »An die Aeolsharfe« die diesem Instrument eigenthümlichen Harmoniefolgen auf. Später hören wir dann wohl auch das Schluchzen der Nachtigall (op. 46 Nr. 4), das Plätschern der Fontaine (op. 57 Nr. 8), die fallenden Regentropfen (op. 58 Nr. 2), es ist aber hier mehr symbolisch als realistisch gemeint, mehr psychisch als äußerlich empfunden und wiedergegeben.

Um ein Bild davon zu empfangen, wie Brahms in seinen Liederaccompagnements, oft vermöge der einfachsten Mittel, Stimmung und Situation sofort klar anschaulich zu machen weiß, sehe man den Schack'schen Gesang »Herbstgefühl« op. 48, oder das Hebbel'sche »Vorüber« op. 58 etwas genauer an, oder das in's Innerste hineingreifende »Schwermuth« op. 58, wo die einleitenden dunkeln Mollaccorde das ganze Weh schon[281] vorempfinden lassen, ehe noch die Stimme ihre todestraurige Klage beginnt. Das sind echt Brahms'sche Klänge, wie sie ihm kein Andrer nachsingt. Und dann jenes ganze op. 57, die Liebeslieder von Daumer, von deren vier ersten schon Dr. H. Kretzschmar in seinen schönen im »Musikalischen Wochenblatt« erschienenen Aufsätzen (1874 Nr. 1–9, 12 und 13) sagt, man lege das Heft hinweg, als hätte man eine große tragische Oper angehört! Man fühlt sich in Wahrheit reicher geworden in seinem Innern, wenn man diese Lieder kennen gelernt.

Leider nur ahnt ein großer Theil unserer Musikfreunde noch nicht einmal die Fülle des Besitzes, der uns in Brahms gewonnen worden. Außer den schon früher erwähnten Liederheften (op. 3, 6, 7 und 14) enthalten auch das 1862 erschienene op. 19, op. 32 (1864), op. 33 (1865), op. 43, 46, 47, 48 und 49 (1868), op. 57, 58 (1871), op. 59 (1873), op. 63 (1874), op. 69, 70, 71 und 72 (1877), op. 85 und 86 ausschließlich einstimmige Gesänge. Am meisten in weitere Kreise gedrungen sind daraus, nächst den gedachten Magelonenromanzen, die leichter verständlichen: »Wie bist du, meine Königin« op. 32, »Von ewiger Liebe« op. 43, »Botschaft« op. 47, »Das Veilchen« und insbesondere das »Wiegenlied« op. 49; neuerdings auch das »Minnelied« op. 71. Beim »Guten Abend, gute Nacht« ist wohl noch keiner Sängerin der übliche Dacaporuf ausgeblieben. Aber auch unter den übrigen haben noch viele, wie beispielsweise das schöne, in sich beruhigte: »Auf dem See«, »Dein blaues Auge« op. 59, »Erinnerung«, »An ein Bild«, oder das lauterste Liebesseligkeit athmende »Meine Liebe ist grün wie der Fliederbusch« op. 63, oder das träumerische »Feldeinsamkeit« op. 86, Anspruch darauf, zu allgemeinen Lieblingen zu werden. Wollen[282] darum unsere singenden Künstler und Dilettanten nur noch des weiteren Umschau halten unter diesen Liedern: ihrem Suchen wird reichliches Finden lohnen.

Auch Duette und Quartette hat uns Brahms gegeben, darunter als Unicum in der Tonliteratur die originellen »Liebeslieder-Walzer« mit vierhändiger Clavierbegleitung, op. 52 (1869) und 65 (1875), die schon manches Concertpublikum zu lauten Beifallsäußerungen hinrissen. Eben diese letzten in Gemeinschaft mit den vierhändigen Walzern op. 39 (sie erschienen 1866) und den »Ungarischen Tänzen«, welche von ihm gesetzte 4 Hefte Nationaltänze mittlerweile schon verschiedene Arrangements für Violine, Orchester etc. erlebten, offenbaren den Einfluß des heiteren Wien auf die nordisch-kühle Künstlernatur; schnell haben sie sich auch in der allgemeinen Gunst befestigt.

Eine sehr bedeutende Stelle unter Brahms' Compositionen nimmt in quantitativer wie qualitativer Beziehung die Chormusik ein. Ihm war es vorbehalten, die von unsrer heutigen Concertpraxis über Gebühr vernachlässigte Gattung wieder zu vollen Ehren zu bringen und ihr den lange streitig gemachten Platz energisch wieder zu erobern. Schon die ersten Werke dieser Art, die im Jahre 1861 hervortraten: ein Ave Maria für weiblichen Chor mit Orchester und Orgelop. 12, und ungleich mehr noch – namentlich in seiner trüben Eingangsfärbung – der Begräbnißgesang für Chor und Blasinstrumente op. 13 zeigen die Brahms'sche Eigenart der Rede. Dann folgten die erwähnten Frauenchöre op. 17 und Marienlieder op. 22 (1862), die der Wiener Singacademie gewidmeten »deutschen Volkslieder« für gemischten Chor (1864) und weiterhin eine Reihe geistlicher und profaner Gesänge für Frauen- oder Männerstimmen, oder auch für beide zusammen, als deren letzte zwei Motetten op. 74 erschienen.[283]

Seit dem Jahre 1866 beschäftigte sich Brahms mit seinem »deutschen Requiem« (für Soli, Chor und Orchester, Orgel ad libitum), op. 45. Während eines mehrwöchentlichen Aufenthaltes in Winterthur, im Hause seines ihm nahe befreundeten und um die Verbreitung seiner Werke sehr verdienten Verlegers Rieter-Biedermann, stellte er den Text desselben nach Worten der heiligen Schrift zusammen und componirte einen Theil, einen anderen in Zürich. Es handelt sich hier nicht um eine Todtenmesse im gebräuchlichen Sinn, nicht um eine tonkünstlerische Wiedergabe des Ritualtextes, wie ihn die katholische Kirche für den Gottesdienst vorschreibt, den sie für die Seelenruhe ihrer Verstorbenen feiert: Brahms hat den Begriff des Requiems weiter gefaßt. Anstatt des alten lateinischen Textes wählte er sich Bibelworte, die in freierer Anordnung und Form und mit fast gänzlichem Ausschluß des Dogmatischen, im Grunde allerdings die gleichen Gedanken behandeln, welche der katholischen Missa pro defunctis das Leben gegeben haben. Betrachtungen über das Leid und die Hinfälligkeit allen Erdendaseins, Tröstung derer, die da Leid tragen, Hinweis auf die Ueberwindung des Todes und die Auferstehung des Lebens, Seligpreisung derer, die in dem Herrn sterben, daraus hat Brahms sein Werk auferbaut. Eine nähere Verwandtschaft ist zwischen seinem sechsten Satz und dem alten Dies irae ersichtlich, wie sein Schlußtheil etwa der Einleitungsnummer des lateinischen Requiems entspricht, welches durch Mozart und Cherubini eine mustergültige classische, durch Berlioz, Schumann und Lachner in jüngeren Tagen eine mehr romantische Darstellung erfuhr.

Brahms' Werk zerfällt in sieben Abschnitte, von denen Nr. 1, 2, 4 und 7 durchgehends chorisch behandelt sind, während in Nr. 3 und 6 ein Bariton-, in Nr. 5 ein Sopran Solo[284] wechselnd zwischen den Chor treten. Das Orchester ist das große Beethoven'sche, dem Harfe und Tuba hinzugefügt sind. Die neu errungene instrumentale Technik verschmilzt der Autor der älteren vocalen Polyphonie; doch tritt die letztere bei ihm nur im Dienst des melodischen Flusses auf. Die formelle Gestaltung der einzelnen Sätze ist klar und eindringlich, meist knapp und gedrängt. Durch eine breitere Anlage ragen der zweite, dritte und sechste hervor, zugleich die am dramatischsten gehaltenen Partien des Ganzen, in denen die charakterisirende Kunst des Componisten am sichtbarsten zur Erscheinung kommt. Zufolge klar gezeichneter Gegensätze: die Vergänglichkeit alles Irdischen und die ewige Dauer des göttlichen Wortes, – wie der eindringlichen Weise seiner Melodien (der Chor intonirt einen choralmäßigen Gesang, indeß im Orchester die feierlich ernsten Klänge eines Trauermarsches ertönen) imprimirt sich der zweite Satz wohl am ehesten. Von vielen Seiten ist ihm auch vor den anderen die Palme zuerkannt worden, wogegen sich der Widerspruch der Kritik von Anbeginn vorzugsweise an den dritten Theil heftete. Man hat ihm das Ueberwuchern der charakteristischen Momente über das musikalische Element, ein äußerliches sich Hervordrängen der Tendenz zum Vorwurf gemacht und namentlich den riesigen, durch volle 36 Doppeltacte hindurch festgehaltenen Orgelpunkt, auf dem sich die den Satz abschließende Doppelfuge aufbaut, zum vielbesprochenen Anklageobject erhoben. Gleich gelegentlich der ersten Aufführung in Wien erfuhr er den offenen Tadel der Presse. Hanslick fand ihn5 zu nervenaufregend und verglich seine Wirkung »mit den beängstigenden Empfindungen, die man beim Fahren durch einen sehr langen Tunnel hat.«[285] Der Referent des »Fremdenblattes« bezeichnet den Orgelpunkt der »sich in allen Orgien der Contrapunktik austobenden Fuge« als »den längsten, ausschweifendsten, den die Welt noch erlebt hat.« Allerdings soll durch ein Mißverständniß des Paukenschlägers, der in der Vorzeichnung fp das p hinter dem f übersah, die unrichtige Auffassung verschuldet worden sein. Im Uebrigen hat sich gar bald die Prophezeiung eines Bremer Correspondenten der »Allgem. Musikal. Zeitung« (vom 13. Mai 1868) bewahrheitet, daß man sich bei mehrfacher Wiederholung des Werks mit der gerügten Stelle ebenso aussöhnen werde, wie mit dem langen Paukenwirbel im ersten Satz der neunten Symphonie. Für uns, denen das Requiem durch öfteres Hören wie durch Studien am Clavier eine vertraute Erscheinung geworden, hat sie schon längst alles Befremdende verloren; sie gilt uns als ein nothwendiges Glied im Gefüge des Ganzen, dessen Symbolik: die Betonung des ewigen Hortes, der unter allem Wechsel des Irdischen unerschüttert der Gleiche, Unwandelbare bleibt – nicht minder machtvoll wirkt als sie genial gedacht ist. Zudem vergegenwärtigt uns gerade die in Rede stehende Stelle eine specifische Eigenthümlichkeit der Brahms'schen Technik, wie auch die ascetisch monotone Färbung der ersten Satzhälfte, wo der Solo-Bariton in der Weise eines Vorsängers mit dem Chor alternirt, aus der eigensten Pflege des Künstlers erwachsen scheint.

Vom rein musikalischen Standpunkt aus hat man bald den lieblichen vierten, bald den fünften Satz mit dem sich auf verklärter Höhe bewegenden Sopransolo als Vollendetstes vom Ganzen, als Meisterstück reizvoller Melodik oder contrapunktischer Kunst gepriesen. Seien sie beide denn auch in allen gebührenden Ehren gehalten; als Gipfelpunkt des herrlichen Werkes jedoch sollte billig kein anderer als der sechste Theil[286] angesehen werden! Die Textunterlage, welche das Gebiet der Offenbarung der letzten Dinge betritt, erwies sich der musikalischen Darstellung vorzugsweise günstig. In der That erleben wir denn auch von der Verkündung des Mysteriums durch das Baritonsolo an bis zum Ertönen der Posaunen des jüngsten Gerichts, von dem gewaltigen Chor, der uns die Auferstehung vorführt, den jubelnd spottenden Fragen » Tod, wo ist dein Stachel« bis zum triumphirend aushaltenden Schlußaccord ein dramatisches Crescendo, dem gegenüber wir überwältigt und erschüttert stehen. Es ist dies eine jener Kunstleistungen, über die hinaus eine Steigerung nicht wohl denkbar ist. Der letzte Satz versucht eine solche demgemäß auch nicht. Er nähert sich in Stimmung und formeller Haltung dem ersten, der in göttlicher Traurigkeit und Stille begonnen, und geht, nachdem er sich bei den von Hörnern und Posaunen pianissimo begleiteten Worten »Ja, der Geist spricht« zu verklärtester Wirkung erhoben, schließlich ganz in ihn über, wie jener in sanftem Harfengetön verklingend.

So hinterläßt das mächtige Werk, darin etwas von den Geistern Bach's und Beethoven's zu weben scheint, allenthalben, wo es zu entsprechender Aufführung gelangt, einen Eindruck tief und unverwischbar, wie ihn nur die unvergänglichen Erzeugnisse der Kunst hervorzubringen vermögen. Eine Schöpfung von Neuheit, Kraft und Tiefe, kunstvoll und volksthümlich zugleich, hat sie das Wunder vollbracht, daß – freilich erst nach manchem energischen Für und Wider – die Parteien, in die sich leider die Gesammtheit unserer Musiker und Musikfreunde heutzutage noch immer spaltet, sich über ihr die Hand reichten und ihr mit wenig Ausnahmen einen Ehrenplatz zusprachen unter den kirchlichen Compositionen der Gegenwart, ja unter denen, die seit Beethoven's großer Messe an den Tag gekommen.[287] Dessenungeachtet begrüßte sie bei ihrer ersten, allerdings unvollständigen Aufführung ein keineswegs vielversprechender Empfang. Als Herbeck in einem der von ihm dazumal dirigirten Gesellschaftsconcerte, in den letzten Tagen des November oder Anfangs December 1867, den Wienern die ersten drei Sätze noch als Manuscript vorführte, ließ man den zwei ersten alle Gerechtigkeit widerfahren, doch rief der dritte, wie oben erwähnt, die lebhaftesten Demonstrationen hervor. »Ein Theil des Publikums«, heißt es in dem betreffenden Bericht des »Fremdenblattes«, »kühlte an diesem dritten Satz sein Müthchen, aber das persönliche Erscheinen des Componisten beschwor rasch das Unwetter, welches sich zusammenzuziehen begann.« Und Eduard Hanslick, wiewohl er der Meinung ist, daß der Tonsetzer »die in der Partitur imponirende Stelle (eben den Orgelpunkt) in ihrer äußeren Wirkung nicht richtig berechnet habe«, schreibt in seiner vorgedachten Besprechung mit einem mißbilligenden Blick auf die Haltung der Zuhörerschaft: »Daß eine so schwerfaßliche, nur in Todesgedanken webende Composition keinen populären Erfolg erwartet und viele Elemente eines großen Publikums unbefriedigt lassen wird, ist begreiflich. Aber selbst dem Widerstreben, so glaubten wir, müßte sich eine Ahnung von der Größe und dem Ernst des Werks beimischen und Respect auferlegen.«

Um so glänzender war die Aufnahme, die das deutsche Requiem bei seiner ersten vollständigen Wiedergabe (nur ohne den damals noch nicht existirenden fünften Satz) unter Brahms' eigener Direction am 10. April 1868 im Dom zu Bremen erwartete. Der Erfolg desselben glich einem Triumphe. Bei der Generalprobe schon that sich die allgemeinste Theilnahme kund, die Aufführung selbst aber begeisterte dergestalt, daß sie binnen kaum drei Wochen (am 28. April) wiederholt werden[288] mußte. Was keiner seiner zahlreichen bisherigen Schöpfungen gelungen, das gelang dieser ernstesten, von Todesgedanken erfüllten und darum scheinbar am wenigsten geeigneten: Brahms begann fortan populär zu werden. Tausende, die bis dahin von ihm noch keine Note, kaum seinen Namen gekannt hatten, lernten ihn nun mit einem Male als einen der vornehmsten unserer vaterländischen Tonmeister kennen und lieben. Noch im selben Jahre wurden Partitur, Clavierauszug und Stimmen des Requiems veröffentlicht, nachdem im Laufe des Sommers, während die andern Sätze bereits zum Stich ausgegeben waren, die fünfte Nummer »Ihr habt nun Traurigkeit« hinzucomponirt und in Zürich zum ersten Mal probirt worden war, so daß das Ganze seine gegenwärtige siebentheilige Gestalt empfing.

An allen deutschen Orten, wo die Mittel zur Wiedergabe des mächtigen Werkes nur irgend ausreichten, fand man sich alsbald genöthigt, von demselben Notiz zu nehmen. Auch Leipzig blieb nicht zurück und veranstaltete im Salon eines musikliebenden Privathauses, wie bald darauf im Gewandhaus wiederholte Aufführungen. Die ganze Wirkung, deren die Brahms'sche Todtenmesse, wenn mit allen erforderlichen Kräften in Scene gesetzt, fähig, aber erfuhr man erst dank der vollendeten Vermittlung Professor Riedel's und seines mit Recht berühmten Vereins (1873 und 76).

Aber auch außerhalb der Grenzen unseres Vaterlandes fand das Requiem seinen Weg. In Basel machte man schon am 27. Februar 1869 seine Bekanntschaft und erneuerte dieselbe allseitigem Wunsch zufolge bald darauf noch einmal, wie auch in Zürich – wo die hervorragenderen Werke des Künstlers, namentlich diejenigen im Kammerstil, durch Kirchner's rastlose Bemühungen eingebürgert wurden – am 26. und 28. März desselben Jahres wiederholte Aufführungen stattfanden. Desgleichen[289] wurde es in Paris, Petersburg, Riga, Mailand, mehrfach auch in England und Holland zu Gehör gebracht; ja schon jenseits des atlantischen Oceans, in Cincinnati und New-York hat es seinem Schöpfer neue Verehrer zugeführt – vor jedweder Zuhörerschaft erwies es seine zwingende Gewalt.

So sehr sich Brahms' Beliebtheit in Wien mit der Dauer seines Aufenthaltes daselbst steigerte – er veranstaltete im Jahre 1868 wieder mit Joachim, 1869 mit Stockhausen Concerte mit besten Resultaten –, so ließ doch auch die Aufnahme der dem Requiem zunächst folgenden großen Composition: des »Rinaldo« (Cantate von Goethe für Tenorsolo, Männerchor und Orchester), op. 50, der seitens des Wiener academischen Gesangsvereins 1869 zur Aufführung gelangte, viel zu wünschen übrig. Wiederum stand Brahms vor einem zweifelhaften Erfolg. Und Jahre lang waltete über dem Werk ein unholder Stern; denn auch als 1874 Leipzig und die Halle'sche Tonkünstlerversammlung ihr Votum abgeben sollten, ward in Folge von Heiserkeit des Repräsentanten der Hauptpartie der Eindruck wesentlich beeinträchtigt. Erst bei Vorführung durch den Mozart-Verein in Darmstadt 1878 fand der »Rinaldo« den erwünschten Erfolg.

In lebhaftem Gegensatze zu ihm, dem romantischen Liebesdrama, steht das seinem Umfang nach kleinere, seiner Bedeutung nach jedoch ungleich größere, tiefernste Tongedicht, das wir unter dem Titel »Rhapsodie«, Fragment aus Goethe's »Harzreise im Winter«, für Altsolo, Männerchor und Orchester, op. 53 kennen. Eine düstere, lichtlose Atmosphäre, ein Nachtstück der menschlichen Seele, wie es ergreifender selten ein Pinsel gemalt, thut sich darin vor uns auf. Aus Goethe's Harzreise, die, nach des Dichters eignen Worten, »so lange als Räthsel unter seinen kleineren Gedichten Platz gefunden[290] und die Aufmerksamkeit mancher Freunde bis auf die letzte Zeit erregte«, hat Brahms jenes »Fragment« herausgegriffen, das eine eigene, wie Goethe sagt, eine »sentimental-romanhafte« Geschichte hat.

»Als der Dichter«, erzählt Goethe, »den Werther geschrieben, um sich wenigstens persönlich von der damals herrschenden Empfindsamkeits-Krankheit zu befreien, mußte er die große Unbequemlichkeit erleben, daß man ihn gerade diesen Gesinnungen günstig hielt. Er mußte manchen schriftlichen Andrang erdulden«, der ihm allmälig lästig zu werden begann. Unter Allen aber, die sich ihm mit der Bitte um Beistand in ihren »Herzens- und Geistesnöthen« nahten, war ihm besonders ein junger Theolog, Plessing in Wernigerode, aufgefallen, welcher in zwei Briefen, mit denen er ihn anging, nach Goethe's Worten, »schreibselig-beredt und dabei so ernstlich durchdrungen von Mißbehagen und selbstischer Qual sich zeigte, daß es unmöglich war, nur irgend eine Persönlichkeit zu denken, wozu diese Seel-Enthüllungen passen möchten. Alle seine wiederholten zudringlichen Aeußerungen waren anziehend und abstoßend zugleich, daß endlich, bei einer immer aufgeforderten und wieder gedämpften Theilnahme, die Neugier rege ward, welchen Körper sich ein so wunderlicher Geist gebildet habe? Ich wollte den Jüngling sehen, aber unerkannt, und deshalb hatte ich mich eigentlich auf den Weg begeben.« – Mitten im Winter, am 29. November 1777 (laut den Briefen an Frau v. Stein, also nicht 1776, wie er in der erst vierzig Jahre später geschriebenen Erklärung zum Gedicht und der »Campagne in Frankreich« irrthümlich angab), trennte er sich von einer herzoglichen Jagdgesellschaft und ritt, sein Reiseziel sorglich vor Jedermann, selbst vor der Freundin Frau von Stein geheimhaltend, einsam dem Harz entgegen. Gleich bei seiner Ankunst[291] in Wernigerode besuchte er den jungen Mann, der »seinem Schreiben völlig glich und so wie jenes Interesse erregte, ohne Anziehungskraft auszuüben.« Er gab sich für einen Zeichnenkünstler von Gotha aus und entdeckte sich selbst dann nicht, als Plessing das Gespräch auf Goethe brachte und eine Schilderung des Dichters verlangte, die ihm denn auch mit so »großer Ingenuität« gegeben wurde, daß, »wäre ihm von der Natur nur etwas mehr Herzenssagacität gegönnt gewesen, ihm nicht verborgen bleiben konnte, daß der vor ihm stehende Gast sich selbst schildere.« Ruhig ließ er den Jüngling sogar gewähren, als dieser ihm seinen traurigen Seelenzustand nochmals mündlich darlegte und den ersten der nur zu wohlgekannten Briefe zum Angehör gab. Er rieth ihm nur, sich »aus einem schmerzlichen, selbstquälerischen Zustande durch Naturbeschauung und herzliche Theilnahme an der äußern Welt zu retten und zu befreien«, fand sich jedoch mit jedem »Versuchsmittel einer zu unternehmenden Cur so entschieden abgewiesen, daß sein Innerstes sich zuschloß und er sein Gewissen, durch den beschwerlichen Weg, im Bewußtsein des besten Willens, völlig befreit und sich gegen ihn von jeder weiteren Pflicht entbunden glaubte.« So schied er also von dem Wunderlichen, um ihn, nachmals erkannt, in Weimar und gelegentlich der Campagne in Frankreich noch einmal in Duisburg, wo Plessing dann als Professor und berufener philosophischer Schriftsteller lebte, wiederzusehen. Durch sein Gedicht die »Harzreise im Winter«, deren mittlerer Theil (»Aber abseits, wer ist's – in der Wüste«) sich mit dem Bilde des einsamen, menschen-und lebensfeindlichen Jünglings beschäftigt, hat er ihn unsterblich gemacht.

Aus diesem Goethe'schen Fragment hat Brahms mit genialer Hand eine Scene gefügt, die uns mit dramatischer Unmittelbarkeit[292] an's Herz greift. Wie schwere Seufzer und zitterndes Herzweh klingt's aus der instrumentalen Einleitung heraus; da ist nirgends Frieden und Ruhe für das arme gequälte Menschengemüth, und wie dann in banger Frage die Stimme einsetzt, den Irrwegen des Unheilvollen theilnehmend folgend, bis ihn »die Oede verschlingt«, fühlen wir selber uns mitten hineingezogen in all' den bitteren Jammer. »Ach, wer heilet die Schmerzen deß, dem Balsam zu Gift ward, der sich Menschenhaß aus der Fälle der Liebe trank?« klagt die Stimme, und alle Segens- und Unsegensfülle der Liebe scheint in den letzten wenigen Tacten ausgesprochen. (Man muß das von Amalie Joachim singen hören, um es nie wieder vergessen zu können!) Unvergleichlich mild und versöhnend, voll frommen Aufblick zu dem, der der Hort des Friedens und der Liebe ist, tritt schließlich der Chor hinzu, um, nachdem er seinen Bittgesang für die gequälte Seele vollendet, in der zuversichtlichen Hoffnung auf Erhörung zu verstummen.

»Es ist und bleibt dies eine Specialität der Brahms'schen Kunst: aus dem festen Hinblick auf das Herbste Erhebung zu schaffen, uns auf den dunkelsten Pfaden Weidestätten für die edelsten Seelenkräfte finden zu lassen«, heißt es, gleich wahr wie schön, in den erwähnten, im Vorliegenden mehrfach benutzten Kretzschmar'schen Brahms-Artikeln, und gewiß danken wir es Brahms vor allem, daß er es verstanden, die höchsten und tiefsten Saiten anzuklingen, die den Menschengeist bewegen. Hinein in eben dies Bereich der alle restesten Dinge gehört auch das der »Rhapsodie« nicht unverwandte im Jahre 1872 componirte und erschienene » Schicksalslied« (von Friedrich Hölderlin, für Chor und Orchester), op. 54. Es redet von der finsteren, unerbittlichen Macht, die das Los des Menschen bestimmt, sein Glück und sein Unheil in ihrem Schose trägt, und[293] preist selig die Himmlischen, Schicksalslosen, die über den Sternen, im Lichte wandeln. Die große ethische Wirkung desselben beruht somit auf einem allgemein verständlichen Motiv, das einen Jeden berührt und daran Keiner so leicht kühl und fremd vorübergeht. Der Gegensatz zwischen der seligen Ruhe der Erdentrückten und dem friedlosen Geschick der Sterblichen ist in wirksamster Weise musikalisch lebendig gemacht. Der Componist überbot hier den Dichter, indem er den Contrast ungleich schärfer noch als Jener gestaltete. So verklärt er im Eingang die lichte Sphärenbahn der seligen Genien geschildert, in so grausen Farben malt er die Unruhe, den Kampf, die Verzweiflung derer, denen es »gegeben auf keiner Stätte zu ruh'n« und die, »wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen, Jahre lang in's Ungewisse hinabstürzen«. Die tonmalerische Kraft dieser letzten Stelle vornehmlich ist bewundernswerth. Nicht aber wie Hölderlin's Verse, die bei den letztgenannten Worten abbrechen, schließt Brahms mit einer Dissonanz. Indem er den friedvollen Einleitungssatz, wenn auch ohne Betheiligung des Chors, allein vom Orchester wiederholen läßt, endet er vielmehr wie mit dem tröstlichen Hinweis darauf, daß auch wir dem Schicksal Unterworfene einstmals zur höheren Stufe der Schicksalslosen emporsteigen dürfen.

Dem »Schicksalslied« und der »Rhapsodie« nach Charakter und Stimmung verwandt sind auch die letzten größeren Chorcompositionen, die Brahms beendete: Schiller's »Nänie« op. 82 und Goethe's »Gesang der Parzen« op. 89. Beides in sich vollendete, den poetischen Gedanken voll zum Ausdruck bringende Dichtungen, boten sie, sich selbst genug, nicht nach musikalischer Gewandung verlangend, dem Componisten eine schwierige, kaum vollkommen zu lösende Aufgabe dar. Bei all ihrer Formvollendung und ihrem distinguirten Gepräge überragt die Musik[294] nicht die dichterische Grundlage; nicht allerwege deckt sie sich mit derselben, sie tritt selbst ab und zu zu ihr in Widerspruch. Die wundervoll klingende Stelle im »Parzengesang«: »Es wenden die Herrscher ihr segnendes Auge von ganzen Geschlechtern« z.B. klingt, wie einer unserer feinsten Musikkenner, Prof. Riedel in Leipzig, sehr wahr bemerkte, »wie ein Gebet und enthält doch eigentlich das Schrecklichste des wunderbaren Gedichts. Aesthetisch ist diese Stelle verfehlt.« Auch gegen das Sechsstimmig-Singen der drei Parzen lassen sich gegründete Bedenken erheben, was das edle und schöne, ergreifend wirkende Werk gleichwohl nicht hindern wird, sich wohl schneller noch als die »Nänie« – eine musikalische Todtenfeier, die Brahms Anselm Feuerbach, dem ihm an Strenge der Kunstgesinnung verwandten Freund und Künstler, darbrachte – seinen Weg zu bahnen.

Ein volles Jahrzehnt vor diesen zwei neuesten Bereicherungen der Chorliteratur, noch im Jahre 1872, wo auch das »Schicksalslied« entstand, componirte Brahms sein berühmtes »Triumphlied« (Offenb. Joh., Cap. 19) für achtstimmigen Chor und Orchester (Orgel ad libitum) op. 55, das neben dem Requiem unter seinen größeren Tonwerken die schnellste Verbreitung gefunden hat. Von vielen Seiten ist dasselbe als die höchste Leistung des Künstlers gepriesen worden, ja Wiener Stimmen rühmten es geradezu als die vollendetste Musikerscheinung seit Beethoven's neunter Symphonie; während Andere noch weiter in die Vergangenheit zurückgriffen, um ihm in den Thaten Händel's und Bach's die einzig ebenbürtigen, gleicherweise »gefunden und kräftigen« Genossen zu suchen. Im Widerspruch zu alledem müssen wir unserntheils bekennen, daß uns das »Triumphlied« trotz seiner imposanten Größe und technischen Vollkommenheit an Werth zurücksteht nicht allein[295] hinter dem Requiem, sondern auch hinter den anspruchsloseren Gestalten des »Schicksalsliedes« und der kurzen »Rhapsodie«, wie den eben erwähnten letzten Werken. Denn so hoch immer ein Triumph der künstlerischen Technik gilt, wie er in diesem Werk vollbracht erscheint, das nach dieser Seite hin alle früheren Erzeugnisse des Künstlers übertrifft; so sehr seine contrapunktische Arbeit, sein polyphoner Aufbau insbesondere an Händel's monumentale Weise erinnern mögen: Brahms' eigenste Töne meinen wie doch in dem »Triumphlied« weniger als in jenen andern Schöpfungen zu vernehmen. Das Triumphiren und Jubiliren will ihm nun einmal minder frei aus dem Herzen herauskommen – er ist größer, weil ursprünglicher, wenn er von Schmerz und Trauer singt. Da entquellen die Lieder seiner innersten Brust: zum Sänger der Schmerzen mehr denn zum Freudensänger ward er geboren und ist uns als solcher vorzugsweise werth geworden.

Das »Triumphlied« ist ein großartiges Gelegenheitsgedicht, das, wie dies auch ursprünglich auf dem Titel bemerkt werden sollte, dem »Sieg der deutschen Waffen« seine Entstehung dankt. Die freudige Erhebung und der fromme Dank unseres Volkes, angesichts der glorreichen Thaten, die es unter Gottes Segen vollbracht, hallen darin wieder. Lob- und Preisgesänge des Höchsten werden laut und eine festbewegte Stimmung, ein feierliches Gepräge wohnt dem Ganzen inne, das demgemäß auch behufs angemessener Ausführung einen außergewöhnlichen Apparat bedingt. Ein doppelter vierstimmiger, möglichst stark besetzter Chor und ein großes Orchester, dem womöglich noch die Orgel beitreten soll, müssen fortwährend zur Disposition sein. Den Text hat der Componist dem mystischen Buch der Apokalypse entnommen und zwar aus dem »Triumphlied über Babels Fall« im 19. Capitel[296] einige Stellen auserwählt, welche sich für eine musikalische Deutung besonders eigneten und gleichzeitig einen Bezug auf die großen politischen Ereignisse der Jahre 1870 und 1871 gestatteten.

Das Werk besteht aus drei doppelchörigen abgeschlossenen Sätzen, deren letzter durch ein Baritonsolo eingeleitet wird, das die Vision verkündet, die wir hier wohl mit Recht als einen Hinweis auf den »Treu und wahrhaftig, ein König aller Könige und Herr aller Herren« zu verstehen haben, dem das Triumphlied gewidmet ist: unsern deutschen Kaiser Wilhelm I. Was hier singt und klingt, ist lauterster Vrahms, wogegen im ersten Theil (in dem Motiv »Heil und Preis« hat man das nur anders rhythmisirte »Heil dir im Siegerkranz« wieder erkennen wollen) und in der Anfangspartie des zweites Satzes, nach Seite der Figurirung, der Schlußformeln, Modulationen etc. Händel'sche Einflüsse vorherrschend sind. Erst von der Schlußhälfte der zweiten Abtheilung an, wo statt der breiten Tongruppen rein lyrische Bilder in den Vordergrund treten, hören wir, daß es der Schöpfer des Requiems ist, der da redet. Der Gesang »Lasset uns freuen und fröhlich sein«, zu dem die Flöten hoch oben als Cantus firmus die Choralmelodie »Nun danket alle Gott« intoniren, ist von erbauender Schönheit. Ein jubelndes Hallelujah führt dann, nachdem die geheimnißvolle Vision und eine gewaltige Schilderung vom »grimmigen Zorn des allmächtigen Gottes« verklungen, das Ganze, imposant wie es begonnen, seinem Ende zu.

Die erste Aufführung des Werks fand am 5. Juni 1872 in Carlsruhe, unter Leitung von Brahms' Freunde Levi statt, der damit seine Thätigkeit an diesem Ort beschloß. Das Baritonsolo wurde dabei von dem Brahms-Sänger par excellence,[297] Julius Stockhausen, laut den Berichten »ganz herrlich zur Geltung gebracht.« Eine gesteigerte Wirkung – dank den dabei betheiligten entsprechenden Kräften, die aus einem Chor von etwa 300, einem Orchester von gegen 100 Köpfen bestanden – gab sich noch kund, als der Tonsetzer selbst, am 8. December des gleichen Jahres, im ersten außerordentlichen Wiener Gesellschaftsconcert sein Triumphlied dirigirte. Es war dies eine seiner ersten Manifestationen in dem Amte, in das er seit dem October 1872 eingetreten war. An des scheidenden Rubinstein Statt zum artistischen Director der Gesellschaft der Musikfreunde berufen, sah er sich hiermit eine Stellung verliehen, die ihm einen kräftigen Einfluß auf das öffentliche Musikwesen der Residenz, ja des Landes sicherte. Künstlerische Strenge, schwungvolles Erfassen machen ihn – von allen musikalischen Erfordernissen abgesehen, wie sie sich bei ihm ja von selbst verstehen – zum Dirigenten geschickt. Es genügt zu sagen, daß er sich auch in dieser Beziehung als genialer Künstler bewährt.

Doch nur drei Winter sahen ihn in der Ausübung seiner Thätigkeit; denn bereits im April 1875 trat Herbeck, der frühere verdienstvolle Dirigent der Gesellschaftsconcerte, wieder in sein altes Amt. Eine öffentliche Stellung bekleidete Brahms seitdem nicht wieder; aber er behielt seinen Wohnsitz in Wien bei, als Mensch wie als Künstler, zu den Lieblingen der Wiener zählend. »Er gehört« – so charakterisirt ihn sein Lehrer Marxsen – »zu den seltenen Männern, die nur lediglich durch eigene Leistungen zu wirken suchen, gegen persönliche Annäherung fast ablehnend erscheinen, um als echte Priester der Kunst mit aller Kraft deren Würde zu wahren, selbst mit Hintansetzung jeglichen eigenen Vortheils. Der echte hohe Stolz einer Künstlerseele, gepaart mit äußerster Bescheidenheit,[298] wenn sich's um seine eigene Person handelt.« Dem geselligen Leben zeigt der ernste Künstler ein heitres Gesicht. Er giebt sich ungebunden, humoristisch, als die urgesunde Natur, die er in Wahrheit ist. Seine seltene Geistes- und Körperkraft spottet aller Anstrengung; das Bedürfniß nach Ruhe scheint er kaum zu kennen. Was hat er, der erst auf der Höhe der Mannheit Stehende, uns schon gegeben und wessen dürfen wir uns noch von ihm versehen; denn er ist freigebig, wie es dem Reichen geziemt!

Inzwischen fing man anderwärts an, Wien um seinen Besitz zu beneiden. Bonn zur Schumann-Feier 1873 und seit dem Winter 1874 fast alljährlich Leipzig – wo sich zu seinen Gunsten ein allmäliger Umschwung vollzog –, darnach auch andere deutsche Musikstädte haben ihn mit Holland um die Wette zu Gaste geladen und ihm ihre Huldigungen dargebracht. Die königliche Academie der Künste in Berlin ernannte ihn zum ordentlichen auswärtigen Mitglied, die Universitäten Cambridge und Breslau zum Doctor der Musik. Der König von Bayern verlieh ihm den Maximilianorden. Zu zahlreichen weiteren Siegen verhalfen ihm namentlich die Aufführungen seiner Werke bei rheinischen und schweizerischen Musikfesten.

Wo immer die Musik ihre Feste feiert, kann man Brahms, den lange Vernachlässigten, nicht wohl mehr umgehen. Hat doch die der Wagner-Richtung entgegenarbeitende Musikströmung sich seiner bereits als ihres Helden und Hauptes bemächtigt und seinen Namen mit weithin sichtbaren Lettern auf ihr Banner geschrieben. Genug, in der Schätzung seiner vollzog sich ein erkennbarer Fortschritt. Die Kunst steht nicht still; in unaufhaltsamer Entwickelung schreitet sie fort nach dem Gesetz alles Lebens, ob auch der Alltagsverstand dem beflügelten[299] Genius nur mühsam nachhinkt und ihn erst spät begreifen lernt. Damit es aber in dieser Beziehung immer fester und lichter um uns werde, wollen wir Schumann's Mahnung eingedenk bleiben: »Es waltet in jeder Zeit ein geheimes Bündniß verwandter Geister. Schließt, die Ihr zusammengehört, den Kreis fester, daß die Wahrheit der Kunst immer klarer leuchte, überall Freude und Segen verbreitend!«[300]

Quelle:
La Mara (d.i.: Marie Lipsius): Musikalische Studienköpfe, Dritter Band: Jüngstvergangenheit und Gegenwart, sechste Auflage, Leipzig: Heinrich Schmidt & Carl Günther, 1883., S. 239,301.
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