[71] Wir werden zur vollen Bestätigung unserer Behauptungen gelangen, wenn wir einen letzten Blick werfen auf die Stellung, welche Mozart's größter Nachfolger, Ludwig van Beethoven, in der Entwicklung der Musik einnimmt. Vom ästhetischen, d.h. von dem Standpunkte aus, der jeder Kunst eine bestimmte Sphäre des Geistes als Inhalt anweist und ihre Werke nur billigt, insofern dieser Inhalt durch die jedesmaligen Darstellungsmittel zum vollen Ausdruck gekommen ist, von diesem Standpunkte aus können wir Beethoven's Werke nicht eigentlich einen Fortschritt über Mozart hinaus nennen. Selbst seine erhabenste Schöpfung, die seinen eigenthümlichen Geist mit der höchsten Klarheit und Vollkommenheit ausspricht, die weltberühmte Symphonie inC-moll, die Jedem der sie hört, das Herz höher schlagen macht, weil auch er sich darin aufgerufen fühlt zur Mithülfe an dem großen Werke der Menschheit, selbst dieses Meisterwerk bleibt, man muß es sagen, um eines Zolles Breite und mehr hinter der Ouverture zur »Zauberflöte« zurück: sie erreicht nicht wie diese die Höhe der reinen Schönheit. Aber dennoch wissen wir, es ist etwas an Beethoven, was ihn den meisten Menschen durchaus über unserm Meister stehen läßt. Wir haben dies schon mehrfach erwähnt und gesagt, dieses Gefallen liege nicht mehr ganz im ästhetischen Gebiete. Aber schon längst hat uns der Geist wiederholt gemahnt, ob es denn für die volle und gerechte Würdigung eines großen Mannes der Kunst das ganz Richtige sei, den ästhetischen Standpunkt so ausschließlich geltend zu machen. Schon längst hat es uns gemahnt, auszusprechen, daß auch wir dennoch in Beethoven einen Fortschritt, und einen ungeheuren[72] über Mozart hinaus erkennen. Aber wo liegt dieser? An reiner Schönheit, an der vollkommnen Harmonie zwischen Inhalt und Form waren Mozart's Werke gewiß nicht zu übertreffen: gewiß auch nicht im Ausdruck aller der Gefühle, die wir als den Inhalt seiner Werke bezeichnet haben. Es sind dafür die Ursachen, die zum Theil in Mozart's Persönlichkeit, mehr aber noch in der Zeit lagen, genügend angegeben. Wohl aber war der Kreis dieser Gefühle zu erweitern und der Inhalt der Musik zu vermehren. Auch über diesen neuen Inhalt haben wir schon manches Wort gesagt, und gefunden, daß er wie eine neuentdeckte Welt ist gegen den Inhalt der Mozart'schen Werke. Können es nun Worte aussprechen, was Beethoven gewollt und in Tönen dargestellt hat?
Der Dichter Hölderlin, sein Zeitgenosse und Mitstrebender, sagt in seinem Hyperion: »Wir ringen und suchen in jedem Moment das Ende der engen Gefangenschaft. Aber sie kommen, sie wägen Äonen des Kampfes auf, die Augenblicke der Befreiung, wo das Göttliche den Kerker sprengt, wo die Flamme vom Holze sich löst und fliegend emporwallt über der Asche, ha! wo uns ist als kehrte der entfesselte Geist, vergessen der Leiden, der Knechtsgestalt, im Triumphe zurück in die Hallen der Sonne.«
Das ist Beethoven. Es muß ihm Vieles bestritten geschienen sein von dem, was Jeder in seinem Herzen als Wahrheit fühlt, denn er behauptet und vertheidigt viel und mit einer Gewalt der Überzeugung, wie die Propheten des Alten Bundes.
Es war in die Welt ein Sturm gekommen, ein Drängen. Die Franzosen, Rousseau an der Spitze, waren die ersten, die nach Freiheit und Gleichheit riefen, von Menschenrechten sprachen, die ewig unverletzbar seien, von Vernichtung[73] der Tyrannen, die diese Rechte verletzt haben. In Deutschland rief aus seiner engen Klause in der Karlsschule heraus mit noch größerer Gewalt ein Anderer, Größerer als jene, ebenfalls nach Freiheit, nach Befreiung von den engen Formen der Sitte und Gesellschaft, die den heißen Drang des Herzens einschnürten und die freie Bewegung hemmten. Darnach ward, wieder in Frankreich, dieses Rufen zur That. Der Mensch wollte in der Wirklichkeit und im äußern Leben die Freiheit der Bewegung genießen, die er als sein Recht erkannt hatte. Kirche und Staat erdrückten ihn mit ihren starren Formen und todten Lehren. Auch in Deutschland wollte Keinem mehr genügen die Art, wie die tiefe Natur unseres Volkes in ihren Heroen, in Mozart und Goethe, die Frage gelöst hatte. Die Liebe, die hier, im Innern, den alten Streit zwischen Natur und Geist, zwischen Neigung und Pflicht geschlichtet hatte, diese Liebe, die bisher nur dem Einzelnen gegolten, sie sollte auf die ganze Menschheit ausgedehnt werden und sollte da dasselbe bewirken, was sie im Privatleben vermocht hatte: sie sollte frei machen auch nach außen hin, wie sie den Einzelnen schon nach innen frei gemacht hatte. Menschenliebe und Brüderlichkeit waren das allgemeine Losungswort. Schiller sang: »Seid umschlungen Millionen!« und Beethoven: »Es liebt der Bruder seine Brüder.«
Mozart starb, ehe dieser Sturm lostobte. Goethe hielt sich zurück, er sah kein Heil, als von Innen heraus; er lebte in diesem Sinne fort, Großes schaffend und auf seine Art das große Welträthsel lösend. Aber die Zeit dieses Geistes war vorüber. Er bemerkte es nicht; er sagte: »Mein Kind, ich kann nicht populär werden, ich bin ihnen zu profund«, und verschloß sich in sich. Und selbst[74] seinen Freund Schiller, den Freiheitssänger, zog er zu sich hinüber, daß auch dieser, in die Schönheit versunken, zum Theil vergaß, was seines Lebens Aufgabe war und was er in den Räubern und in Don Carlos gesungen hatte. Aber es harrte ein Größerer, ein Mächtigerer, diese Ideen fortzuführen, und in einem Gebiete, wo sie, bloß als dunkler Drang ausgesprochen, eine um so gewaltigere Wirkung hervorbringen mußten. Man weiß nicht, wie groß diese Wirkung gewesen ist, sie ist vollkommen unberechenbar. Aber gewiß ist, daß Beethoven's große Symphonieen, zur Zeit der Fremdherrschaft geschrieben und kurz vor den Freiheitskriegen, besonders in Berlin durch E.T.A. Hoffmann eingeführt, nicht wenig zu der stürmischen Begeisterung beigetragen haben, die das Vaterland befreien sollte. Sie sind ein unerschöpflicher Quell der Begeisterung für die Freiheit, die Seele ahnt in diesem mächtigen Wogen der Töne: »Zu was Besserm sind wir geboren.« Beethoven ist der eigentliche Sänger der Freiheit, der größte, den die Nation gehabt. Er wirkt in der That revolutionär. Keiner hat so wie er die Schrecken der Gefangenschaft, die düstere Bastille, die den Pariser mit unheimlicher Furcht erfüllte, in Tönen geschildert. Man vergleiche nur seinen Gefangenenchor mit dem kurzen Freiheitsgesang im Don Giovanni. Es ist als wenn ein Jahrhundert dazwischen läge, als wenn ein ganz neues Geschlecht, jenem nicht entfernt ähnlich, entstanden wäre. Hier gesellschaftliche Freiheit, Maskenfreiheit, Spielerei, dort Freiheit von Kerker und Banden. Und wenn man jenen Chor obendrein, wie es heutzutage häufig auf der Bühne aus Ostentation geschieht, mit Begeisterung singen hört, so fühlt man erst recht, daß sein Componist noch keine Ahnung von dem gehabt hat, was uns heute bei diesem Worte die Seele[75] bewegt. Und wie schwoll Beethoven das Herz, als er seine Gefangenen singen lassen sollte! Es sind ja keine gemeinen Verbrecher, es sind politische Gefangene, sie leiden für die Freiheit, sie dulden um der Wahrheit willen. Das war Beethoven's Stoff, und er hat hier gesungen wie Keiner vor ihm es vermochte; und daß auch solche Stimmungen, daß auch der Schmerz, den der heutige Mann über die trostlose Lage seiner Mitmenschen empfindet, reines Gefühl ist und ebenso wie der Jubel desselben Mannes über die errungene Freiheit erst seinen höchsten Ausdruck gewinnt, wenn sich zum Worte der Ton gesellt, das hat Beethoven hier bewiesen. Auch in seine Instrumentalsachen hat dieser Geist des Drängens nach Freiheit sich eingehaucht und ihnen jenen Character des Hinreißenden aufgedrückt, den sie für jeden unbefangenen Zuhörer haben.
Betrachten wir das Bild dieses Großen, so werden wir in der innersten Seele gewaltsam ergriffen. Das Auge, fast erschreckend in seiner Düsterheit, die Stirne, auf der der Ernst eines Mannes lagert, dessen Gedanken die Welt erschüttern, und um den Mund ein Zug, der den Willen ausspricht, dieses Gewaltige auch zur That zu machen. Der Eindruck ist fast ein erschreckender, wie der Michelangelo's mit der eingeschlagenen Nase. »Laß mir den Unhold aus dem Zimmer«, hörten wir eine Frau sagen, als das Bild mit den wüst umherhängenden Haaren und dem eigenen Blick aufgestellt werden sollte. Und doch, wer hängt ihm mehr an als die Frauen, sie, die niemals recht wissen, wo wir in der Weltgeschichte stehen? Es ist als wenn sie ahnten, daß er die neue Zeit bezeichnet, die über der Welt aufgegangen ist. Sie, die stets das Heute bezeichnen, dem das Gestern für ewig vorüber ist, sie lieben vor Allem den Mann von Heute. Sie, die nicht zum[76] Denken, sondern zum Empfinden berufen sind, sie entzünden ihr Gefühl an diesem »Denker in Tönen«. Und den Knaben, der an der Schwelle des Jünglingsalters steht, welchem sich kaum die ersten eigenen Empfindungen regen, die noch nicht zu Gedanken zu werden vermögen, ihn, der in den Klängen Mozart's seine Kinderzeit verlebt hat, erfaßt es mit Zaubergewalt, als er die erste Beethoven'sche Sonate spielt, er reißt sie mit Heftigkeit an sich und ließe sie von Keinem sich rauben. Die erste Symphonie, die ihm der günstige Zufall wenige Jahre später zuführt, die Heroische, erfüllt ihn mit ängstlicher Spannung, er kann den Inhalt nicht fassen, seine Hände sind zu klein für die mächtige Kugel, seine Organe sind nicht genug geweitet, es schmerzt ihn, daß sie einen Inhalt aufnehmen sollen, dem sie noch nicht gewachsen sind, er kehrt fast krank durch die peinigende Anstrengung aus dem Concerte zurück. Und doch ahnt er, daß er zu fassen ist, dieser ungeheure Inhalt, und der einzige Anblick dieser neuen Welt hat ihm ein neues Dasein eröffnet. Wie ein Blitz hat es in seinem Innern gezündet, und es ist Dämmerung, ja Licht geworden, wo vorher nur ein Düster herrschte. Das ist Beethoven, und wer diesen Geist einmal erschaut, der kann nicht wieder zurück.
Buchempfehlung
Zwei späte Novellen der Autorin, die feststellte: »Eine gescheite Frau hat Millionen geborener Feinde: alle dummen Männer.«
72 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro