Mozart.

[39] Mit diesem Urtheile haben wir auch Mozart's Bedeutung für die Tonkunst ausgesprochen. Er bezeichnet den Höhepunkt derselben, die Periode der reinen Schönheit. Nicht, daß er neue Formen geschaffen hätte; wir haben vielmehr gesehen, daß er sich darauf beschränkte, die vorhandenen so mit dem ganzen Inhalte zu erfüllen, dessen sie fähig waren, daß sich z.B. Mozart's Quartette und Symphonieen von den Haydn'schen etwa so unterscheiden, wie das Kind vom Erwachsenen, das unbewußte Wesen vom vollen bewußten Menschen, Mozart's Fugen von den Bach'schen wie das wirklich Schöne vom bloß Erhabenen, und seine Gestalten von den Händel'schen wie solche Wesen, in denen die Seele zur vollen Erscheinung gekommen ist, von solchen, in denen sie als bloße Anlage liegt. Und fragen wir nun nach dem Inhalte, mit dem Mozart diese Formen so vollständig auszufüllen vermochte, so müssen wir nach dem Vorhergehenden ihn bezeichnen als die zur vollen Entfaltung gelangte Seele, den Inbegriff aller der Gefühle, deren der Mensch fähig ist und deren höchste Concentration wir mit dem Worte »Liebe« bezeichnen.

Es könnte seltsam erscheinen, daß wir das ganze Wesen der Mozart'schen Musik und den eigentlichen Trieb seines Innern mit einem so vieldeutigen Worte ausdrücken. Aber wie Mozart selbst nicht von einer klaren Vorstellung der Urkraft, welche die ganze Welt beherrscht und erschaffen hat, erfüllt war, wie er selbst nicht sich darüber klar war, daß der Gedanke das Letzte ist, was allen Erscheinungen zu Grunde liegt, und wie sich ihm selbst Alles, was er an Anschauungen oder an Vorstellungen in sich aufnahm, gar bald wieder[39] in das dunkle Treiben dessen verwandelte, was man Gefühl nennt, so sei auch uns erlaubt, das Letzte und Eigentlichste, was eine solche Künstlerseele treibt, in der Form einer Empfindung zu bezeichnen. Wir werden, wenn wir vorerst an einer Reihe von Beispielen gezeigt haben, wie die verschiedenen Stufen und Arten dieses einen Gefühls, das wir das Urgefühl nennen möchten, die immerfort Eine Triebfeder zu Mozart's Werken gewesen sind, näher auf das eingehen, was unter diesem Worte zu denken ist. Hier genüge es, nochmals anzudeuten, was schon oben gesagt wurde, wie es in Mozart zuerst in einer vollen und reinen Weise zur Erscheinung kam, daß er das Göttliche, das Allgemeine nicht als an einem bestimmten Orte wohnend sich vorstellte, sondern daß er es als in jedem Augenblicke und überall gegenwärtig ohne Unterbrechung auf das lebhafteste empfand, daß er es besonders in jedem menschlichen Wesen als recht eigentlich gegenwärtig erkannte und sich zum Menschen selbst, als zu dem Gefäße, in das sich jener Urquell stets neu ergießt, unwiderstehlich hingezogen fühlte. Den Beweis dieser Behauptung entnehmen wir mehr noch aus seinen Werken als aus seinen Worten und Handlungen.

Wenn wir das Wirken dieses Mannes mit Einem Blicke überschauen, so scheint es, als habe er das ganze Hinundher der Empfindungen, welches der Mensch für den Menschen hat, das ganze Gebiet der Gefühle, die der Einzelne für den Einzelnen hat, in der Erfahrung seines Lebens wie in seiner Kunst erschöpft. Wer den Menschen und die ganze Fülle seiner Seele rein genießen will, gehe zu Mozart. Bei ihm finden wir, was den Menschen einzig beglückt, die Liebe und all die Seligkeit der Empfindung, die sie in ihrem Gefolge hat. Er war es nicht,[40] der Freiheit erstrebte; er dachte nicht daran, sie fehlte ihm nicht. Er hatte sein reiches Leben der Liebe, und das konnte ihm Keiner stören. Äußerlich war er nicht behindert, Polizei und Paßwesen gab es kaum zu seiner Zeit, und wer sich an das öffentliche Leben nicht kehrte, war in seinem Privattreiben frei, freier als heutzutage, wo die Theilnahme an den öffentlichen Dingen dem Einzelnen tausend Pflichten und Richtungen auferlegt. Und Sehnsucht nach dieser Thätigkeit hatte Mozart nicht; um so mehr, da auch seine Umgebung sie nicht hatte. Er las keine philosophischen Schriften, wie Beethoven Plato's Republik, die ihm das Haupt genugsam verwirrte; und die Zeitungen hatten damals wenig Bedeutung. Er las, wenn es überhaupt etwas Anderes als Noten waren, höchstens seinen Klopstock und was ihm von Goethe in die Hand gekommen sein mag. Sein Leben war die Kunst und die Liebe, die ihm für sie den Inhalt gab. Jede Art und Stufe derselben, von der coquetten Spielerei inCosi fan tutte bis zur wahrsten Leidenschaft in Belmonte und Constanze, finden wir bei ihm, und die Freundschaft, die schon dem Knaben ein großes Bedürfniß war, ist ihm in der letzten Zeit seines Lebens so bedeutsam geworden, daß sich darin fast eine Ahnung jener Lehre von Gleichheit und Brüderlichkeit auszusprechen scheint, die sogleich nach seinem Tode die ganze Welt in Bewegung setzen sollte. Die Freimaurerei, in der die Verbrüderung der Gleichstrebenden zu edlen Zwecken die Hauptrolle spielt, war ihm so sehr Ernst, daß er in der Zauberflöte diesen Ideen von Freundschaft und Menschenliebe den tiefsten, bisher unerreichten Ausdruck verliehen hat. Und wer hätte das höchste dieser Gefühle, die volle Hingabe des Menschen an Gott, die andächtige Liebe zum Höchsten so rein, so wahr, so tief auszusprechen vermocht als er es[41] in hundert kleinen Werken und zuletzt mit dem ganzen Gehalte dieser Empfindung im Requiem gethan hat. Da ist es, als wolle er seinem Gotte, sowie er ihn tief und lebhaft in der Seele trug, ein ewiges Lied des Preises und der Hingebung singen. Es war sein Schwanengesang, der dem Höchsten galt, dem er schon so unzählige Male im Stillen seines Herzens innigstes Fühlen demüthig ausgeschüttet hatte. Es ist dem Minuetto der kleinen Sonate für Violine und Clavier in F (André, Nr. 14) gar oft der Name »Gebet« beigelegt worden, und es ließen sich unter seinen Werken gar viele solcher Gebete aufzählen, in denen sich unser Meister, wie Goethe in »Wanderers Nachtlied«, die Ruhe der Seele wieder ersang und sich des tiefen Bundes mit seinem Gotte neu versicherte.

Quelle:
Ludwig Nohl: W.A. Mozart. Ein Beitrag zur Ästhetik der Tonkunst, Heidelberg 1860, S. 39-42.
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