Musik und Religion.

[21] Händel und Bach waren durchaus wie ihre Zeit fest im Glauben. Sie glaubten an den Inhalt der christlichen Religion, daß Christus Gottes Sohn und gekommen sei, die Welt zu erlösen. Nicht bloß ein Bild war es ihnen, ein Gleichniß, um den tiefern Sinn und die eigentliche Bedeutung zu verstehen von der Lehre, daß die Liebe die höchste Wahrheit ist, und daß nur sie wahrhaft frei macht. Sie glaubten an das Dogma, und in dieser Gewißheit bleibt ihnen alles Grübeln und Forschen ferne. Der Eine, Händel, ergibt sich seiner kraftvollen Natur gemäß durchaus dem freien, großen Leben, sein Vaterland ist ihm zu eng, er muß reisen; er lernt in Hamburg, gewinnt mit unzähligen Opern einige Erfolge in Italien und läßt sich dann in London nieder, unter einem Volke, das in seinem öffentlichen Leben dem Mannescharakter Händel's entspricht. Dort drängt ihn halb der Zufall, halb der Trieb seiner Natur von der Oper zum Oratorium, dem geistlichen Drama. Aber bald hört es ihm auf geistlich zu sein, und wird das Mittel, alles menschlich Große in würdiger Weise auszusprechen. Es ist ein Stück Leben[21] des Volkes im Großen, das sich in diesen Oratorien widerspiegelt, zumal wenn ihr Text aus dem Alten Testamente genommen ist. Wenn die alten Israeliten mit der Macht der Überzeugung von ihrem Gotte reden und ihn wider die Heiden vertheidigen in Chören, die in der That nicht sind wie die Stimme eines Einzelnen, der seinen Gott preist, sondern wie eines ganzen Volkes Rufen, dann erscheint uns in würdigster Größe die ganze Glaubenskraft der Zeit Händel's. In andern Werken, deren Stoffe der »fabulösen Historie« angehören, entfaltet er den ganzen Reichthum auch des äußern Lebens, dem er so sehr angehörte. Pracht und Glanz der Feste, wie bei Paolo Veronese, und große, herrliche Gestalten, wie sie nur Tizian in solcher Fülle geschaffen, zeigen sich in Chören und Arien. Aber immer, man muß es sagen, bleibt er dem eigentlichen Gebiete der reinen Schönheit ferne, er streift zuweilen daran, und bei dem Reize mancher Melodie, besonders in der Semele ist es, als müßte er nun jeden Augenblick wirklich eintreten in den Garten der Hesperiden, in Armidas Zaubergarten. Aber nein, er bleibt draußen, er läßt auch die beste Gelegenheit ungenutzt vorübergehen. Ihm selbst ist nicht recht wohl und frei dabei, wenn er einmal wie durch Zufall in die lichten Gebiete des Idealen kommt. Seiner practisch klaren Natur ist es nicht möglich, längere Zeit dort zu verharren, wo dem Verstande gar bald jedes faßbare Object schwindet, wo jedes Einzelne im Unendlichen aufgegangen ist. Und seinem Gemüthe, das gewohnt ist, in glaubenswarmer Begeisterung zu leben, wird es gar bald zu kühl in den lichten Höhen der reinen Schönheit, während der echte Dichter, wenn ihn guter Genien Walten einmal in die Hallen der Götter geführt hat, sich nicht genug thun kann im reinen Schönen, sich nicht ersättigen[22] kann an dem Glänze, der ihn umgiebt, und lange, lange dort oben schweben bleibt. So kommt der Hörer auch bei den schönsten Sachen dieses Meisters nicht zur vollen Freiheit, nicht zum vollen Genusse. Er selbst bleibt im Characteristischen gefangen, er greift die Objecte aus dem Leben, aber er greift sie nicht ganz, seine Geschöpfe sind wie er selbst, noch nicht ganz von dunkler Gebundenheit gelöst, noch nicht ganz harmonisch gebildete Menschen.

Der Andere, Bach, fehlt nach der andern Seite. Er lebt ebenso dem äußern Leben entfernt, wie Händel mitten darin stand. Er ist kaum aus seinem kleinen Vaterlande, aus Sachsen, herausgekommen. Auch ist ihm der Verkehr mit der Welt kein Bedürfniß. Er lebt ganz in seinem Innern, vertieft in sein liebes Evangelium, und den Gehalt von diesem immer tiefer, immer voller, immer klarer ans Licht zu fördern, ist sein ganzes Bestreben. Denn was spräche diesen Gehalt, diese Fülle von Liebe, die rein Empfindung ist, reiner und voller aus als der Ton, der eigentliche Laut der Seele? Sein Herz ist voll von Hingebung an den, der durch seine gränzenlose Liebe die Menschheit von der Sünde erlöst hat; er ist ganz frei bewegt, man kann sagen fließend in seinem Innern, da ist nichts, was starr wäre. Aber vor dem Zerfließen bewahren ihn die Gränzen, die er einhält, der Pflock, den er seinem Denken eingeschlagen, der Glaube an das Dogma. So innerlich er also ist, und so sehr er einzudringen sucht in die letzten Tiefen seiner Religion, er hat dennoch nichts Grüblerisches, Schwankendes, er forscht nicht. Wie der Urgrund der Religion selbst, so ist auch sein ganzes Wesen Gefühl. So kommt es, daß er vorzugsweise Instrumentalcomponist wird. Er greift selten zum Worte, er ist dessen nicht eigentlich benöthigt, denn der Ton allein spricht ja[23] das Gefühl viel reiner aus als Worte. Und selbst da, wo er es thut, geschieht es in ganz anderer Weise als bei seinem großen Zeitgenossen; die Worte sind ihm nicht das Mittel, irgend etwas Objectives zu bezeichnen, außer den Vorstellungen seiner Religion hat er nichts Objectives, es ist an ihm alles subjectiv, und so auch der Inhalt seiner Werke. Seine Texte sind meist durchaus allgemeinen Inhalts, hundertmal besungene Kirchentexte, und häufig nur genommen, weil eben ohne Worte nicht gesungen werden kann. Händel dagegen konnte des Wortes durchaus nicht entbehren; er lebte schon nicht mehr rein im Gefühle, sondern er brach überall ein in die Welt der Objecte; er war weit weniger Musiker als sein großer Nebenbuhler, und er mag seine Gründe gehabt haben, eine Begegnung mit dem stillen, fast unheimlich mächtigen Cantor zu vermeiden. So sehr daher seine dramatischen Figuren, sowohl Solo wie Chor, mit außerordentlich concretem Leben beseelt sind, seine bloßen Instrumentalcompositionen haben durchweg etwas Hohles und Leeres, etwas Gemachtes. Sie entbehren des unendlichen Gehaltes an Gefühl, den Bach in die Musik hineinzulegen hatte. Aber wir werden sehen, daß eben jener Gehalt diesem Meister die Hände band, daß er nicht zur reinen Schönheit, zur vollen Verschmelzung von Inhalt und Form hinauszulangen vermochte. Es überwiegt bei ihm der Inhalt.

Von beiden aber ist dasselbe zu sagen, wie von den großen Bildhauern, die den Griechen ihren Zeus und ihre Here schufen, Phydias und Polykletos: sie standen mehr im Dienste der Religion als der Kunst. Auch Händel's Gestalten drohen die Decke zu durchbrechen, wenn sie sich erheben, und Bach's Colossalfiguren haben noch größern seelenvolleren Blick als die Juno Ludovisi,[24] aber dennoch haben sie nicht die Höhe der Kunst erreicht. Denn sie schufen im Dienste eines Fremden, nicht um der Schönheit allein willen; die Religion ist ihnen im Grunde lieber als die Kunst. Sie hatten sich über die Vorstellungen ihrer Kirche noch nicht herausgeschwungen, sie ahnten nicht, daß die Kunst eine höhere Stufe des Geistes sei; die Kunst war ihnen nur ein Mittel, den Gehalt jener auszusprechen, und dies ist besonders bei der Musik um so begreiflicher, als sie mit der Religion auf demselben Grunde, dem des Gefühles wurzelt. Von diesem gemeinschaftlichen Gebiete aus gehen ihre Wege, aber in verschiedener Richtung. Jedes baut sich ein anderes Gebäude auf. Bleibt die Religion ganz innerhalb der Empfindung stehen und hat nichts zum Inhalte, als das unendliche Gefühl der Hingebung, der Liebe zum höchsten Wesen, so ist sie natürlich für die Sprache des Tones am günstigsten, wie wir dies bei dem Mystiker Bach gesehen haben. Daß seine Mystik uns wohlthuender ist als die eines Suso, Tauler und namentlich Jakob Böhme's, liegt darin, daß die Empfindungstiefe durch das Wort nicht wiederzugeben ist und daß sich in der Sprache wie Phantasterei ausnimmt, was, im Tone ausgesprochen, Jedem die Seele zu ergreifen vermag. Ja es giebt kaum einen Componisten, der einen so ganz gefangen nimmt, wie S. Bach, in den man sich so tief hineinzufühlen vermöchte, ganz vergessen der Außenwelt. Auf der andern Seite erklärt sich aus dem Inhalt seiner Werke, warum gerade er, der am meisten den freien Fluß bloßer Empfindung hat, zu musikalischen Formen griff, die gleichsam nur mit dem Verstande hergestellt werden können, wie die Fuge. Es wiederholt sich hier nur in einem besonderen Grade, was überhaupt der Musik eigen ist, daß gerade das, was am meisten frei und keinem Gesetze[25] unterworfen zu sein scheint, sich in dem abstractesten Mittel ausdrückt: die Empfindung durch die Zahl; denn Musik ist ein unbewußtes Rechnen (vgl. Bischer's Ästh. III, §. 762). So suchte sich des alten Bach überströmende, unerschöpfliche Empfindung die Formen, die am meisten Rechnen, Combiniren verlangten, er suchte sie sich, wie der Dichter sich Hymnus, Sonett, Canzone und andere schwierige Formen sucht, um die Gluth seines Innern daran zu kühlen. Wir werden dieselbe Erscheinung bei Mozart wiederfinden, und wenn auch seine Fugen (z.B. die aus F-moll, die der Zauberflötenouverture und des Finales zur Jupitersymphonie) nicht die Strenge der Form haben, in der Bach unerreichbar bleibt, so entschädigen sie uns wiederum durch das höhere Moment des reinen Gleichgewichtes zwischen Inhalt und Form, das Bach nicht erreichen konnte, weil sein tief bewegtes Innere sich nicht dem Umgange mit der Welt, der freien Wirklichkeit erschlossen hatte. Wir werden darauf zurückkommen.

Quelle:
Ludwig Nohl: W.A. Mozart. Ein Beitrag zur Ästhetik der Tonkunst, Heidelberg 1860, S. 21-26.
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