XVI.

1844.

Ein Wiederbegegnen.

(Koncert-Reisen 18401847. Fortsetzung.)

Reisen durch die französischen Departements. Pan. Mme. d'Artigau. »Ich möchte hingehn.«


Nach den Pariser Erlebnissen bereiste der Künstler die südfranzösischen Departements, koncertirte in Lyon, besuchte Lamartine (Château de Saint-Point) und setzte dann seinen Virtuosen-Siegeszug weiter über Marseille, Toulon, Nimes, Montpellier, Toulouse, Bordeaux u.a. Städte, über die Pyrenäen nach Spanien fort – jeder Schritt markirt durch das Außerordentliche seiner Kunst und seiner menschlichen Eigenschaften. Die Kunst, desgleichen humane und gemeinnützige Anstalten hielten eine reiche Ernte.

Der Herbst spielte bereits in den Blättern, als er bei seiner Reise über die Pyrenäen Pan berührte. Hier verweilte er mehrere Tage. Es waren Tage der Rast nach Außen, Tage höchster Erregung und leidenschaftlichen Schmerzes nach Innen. Die jüngsten Bitternisse vibrirten in ihnen nach und zugleich erstand eine alte längst verklungene Zeit: die Erinnerung an die lichte, selige Zeit seiner ersten Jünglingsliebe. Und es schien fast, als wolle er zurückfordern, was sie ihm damals verweigert hatte. – Bei Pau lag die Besitzung Monsieur d'Artigau's, des Gatten der Komtesse Caroline Saint-Cricq. Gegen sechzehn Jahre waren über der letzte Begegnung der Beiden dahingegangen. Jetzt standen sie einander wieder gegenüber: sie, eine noch nahezu jungfräuliche Erscheinung – er, ein Odysseus auf dem Meere seines Genius und des Lebens.[240]

Die Zeit schien keine Macht über sie gehabt zu haben: er erblickte dasselbe Madonnenantlitz, denselben gottseligen Ausdruck ihrer Züge, denen er die geistige Liebe zu ihm, wie ehemals, ablas; doch auch noch ein anderes Etwas, worin die Spuren der Zeit sich finden ließen: ein Martyrium der Seele, das wie ein Hauch ihr Wesen verklärte.

Auf das tiefste ergriffen, erschüttert komponirte er Herwegh's


Ich möchte hingehn wie das Abendroth

Und wie der Tag in seinen letzten Gluten:

O leichter, sanfter ungefühlter Tod –

Sich in den Schoß des Ewigen verbluten! –


Was auch der Dichter an zuckendem Seelenschmerz in dieses Gedicht hineingegossen, erst die Klänge des Musikers konnten ihn in jene Sphäre tauchen, aus welcher die Ahnung göttlichen Friedens über das kranke Herz sich ergießt, wie beispielsweise folgende Stelle erläutert:


16. Ein Wiederbegegnen. 1844.

16. Ein Wiederbegegnen. 1844.

16. Ein Wiederbegegnen. 1844.

[241] Auch konnte erst der Musiker die tragische Tonleiter der leidenschaftlichen Sehnsucht, dem Erdenschmerz zu entfliehen, und ihren Dornenweg durch die menschliche Ohnmacht, wie der Fortgang des Gedichtes sie entwickelt, indem der Dichter die subjektive Stimmung mit dem Naturbild zusammenfaßt, so ganz und mit solcher elementarischen Gewalt des Gefühls zum Ausdruck bringen. Ebenso den Aufschrei am Schluß des Gedichtes, in welchem sich die ganze Summe des inneren Elends gleichsam zusammenballt:


16. Ein Wiederbegegnen. 1844.

16. Ein Wiederbegegnen. 1844.

[242] 1


So mitten in der Wirklichkeit stehend, ein Ausbruch dieser Wirklichkeit, füllt dieses Lied in einer Biographie des Herzens in Tönen – abgesehen von seinem Kunstwerth als solchem – ganze Seiten. In dieser Biographie Liszt's, die mit der »Pensée des morts« beginnt, sich fortsetzt in dem holden »Angiolin dal biondo crin«, in der Bitterkeit des »Vergiftet sind meine Lieder«, in der romantischen »Zelle von Nonnenwerth«, dem heiligen »Des erwachenden Kindes Lobgesang«, bringt es ein Lebenskapitel zum Abschluß.

Von ihrer Wiederbegegnung an blieb Liszt in Beziehung, theils auch in brieflichem Verkehr mit dieser seelisch selten besaiteten Frau bis zu ihrem Ende, das in der ersten Hälfte der 1870er Jahre erfolgte. Ihr Leben blieb ein Martyrium. Die sie kannten, gedachten ihrer nie ohne Rührung. Eine später zu erwähnende Freundin Liszt's, die einzige seinem Geist ebenbürtige, stand in innigster Korrespondenz mit ihr, welcher mehrere persönliche Begegnungen in Paris folgten. Sie verehrte sie wie eine Heilige. Auch konnte sie sich nie von dem Gedanken befreien, daß ein Lebensbündnis mit dieser allem Zwiespalt ferne stehenden tief religiösen Natur ihn vor den Schattenseiten seines Temperamentes bewahrt und ihn früher zur vollen Erfassung seines Genius geführt haben würde.

Fußnoten

1 Edirt 186 (?): Liszt's »Gesammelte Lieder« VI. Heft. Das Lied erschien nur in dieser Sammlung und in dieser Gestalt. Während der Weimar-Epoche ging die Originalskizze, welche bis dahin in des Meisters Portefeuille gelegen hatte, in dieselbe über.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 2.1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1887.
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