I.

[107] Eine abermalige Reise Liszt's nach England erfolgte nach den Pariser Koncerten. Er blieb daselbst bis zum Juli. Anfänglich war sein Aufenthalt auf längere Zeit projektirt, allein eine Koncerttour durch die englischen Provinzen, bei welcher der Musikalienhändler Lavenu aus London der Entrepreneur war, fiel ungünstig aus und kürzte ihn. Lag die Schuld an dem noch sehr wenig entwickelten musikalischen Sinn der Provinzbewohner oder lag sie am Entrepreneur, – kurz, die Koncerte blieben unbesucht, die Tour konnte nicht fortgesetzt werden und Lavenu kam mit leerer Kasse und verschuldet gegen den Künstler nach London zurück. Doch war Liszt so großmüthig, dem »pauvre diable«1, wie er ihn nannte, sein ganzes Honorar zu erlassen.2 In Folge dieses gescheiterten Unternehmens lag der Schwerpunkt seines diesjährigen englischen Besuchs wieder in seinem Koncertiren in London.

Anfangs war dasselbe ebenfalls gehemmt. Ein durch Unvorsichtigkeit[107] seines Kutschers herbeigeführter Unfall hatte ihm eine Verletzung an der Hand zugezogen. Glücklicherweise war sie nur leicht, zwang ihn aber dennoch den Arm auf einige Tage in der Binde zu tragen. So erschien er auch in einem Koncert, das die musikliebende Herzogin von Sutherland in ihrem Hause zum Besten der polnischen Flüchtlinge am 7. Juni veranstaltet hatte. Außer Liszt hatten die in London anwesenden Künstlercelebritäten Rubini, Lablache, Vieuxtemps, Benedict, Mme. Dorus-Gras und die eben aus Italien zurückgekehrte hochgefeierte Miß Kemble die Ausführung des Programms übernommen. Als Liszt mit dem Arm in der Binde erschien und seine Nummer ausfallen sollte, herrschte eine solche Enttäuschung, daß er sich doch an das Instrument setzte und, während Benedict secundirte, mit einer Hand, aber so schön spielte, daß man alles Fehlende darüber vergaß.

Obwohl eine Schwäche in der linken Hand mehrere Wochen blieb, war er doch bald wieder mitten im großen musikalischen Gewühl. Er spielte sehr viel. Kaum verging ein Tag, an dem er nicht zu hören war mit Staudigl oder mit Benedict oder mit Moscheles, mit dem er dessen »Preciosa-Variationen« vierhändig spielte, daß es dem Komponisten dabei zu Muthe war, »als säßen sie beide auf dem Pegasus,«3 dann wieder mit Miß Kemble, Fräulein Löwe, Mme. Dorus-Gras und anderen Künstlern. Spielte er nicht öffentlich, so wurde privatim musicirt: bei Moscheles, bei Henry Reeves und Chorley, bei Charles Kemble, Count d'Orsay, Lady Blessington u.A.

Die denkwürdigsten Koncerte des diesjährigen Auftretens Liszt's waren am 12. und 14. Juni. Das Koncert am 12. Juni – ein von ihm gegebenes Piano-Recital – war von dem Herzog und der Herzogin von Cambridge mit den Spitzen der aristokratischen Fashionables und einer großen Anzahl der vornehmen Gesellschaft, sowie von der Elite der Tonkünstler und der literarischen Welt der Metropolis besucht. Insbesondere versetzte er mit der »Robert-Fantasie« sein vornehmes Auditorium in die größte Aufregung. Das Koncert am 14. Juni – das achte der Philharmonic Society – brachte das Große Septett von Hummel,[108] dessen Klavierpart von ihm in einer seinem Vortrag des »Koncertstückes« verwandten Weise ausgeführt worden war.

Die »Musical World« und das »Athenaeum« begleiteten wieder als kritikvertretende Hauptstimmen der britischen Großstadt jedes Auftreten des Künstlers. Während die erstere den im vorigen Jahr eingeschlagenen Weg immer breiter trat und ihre Antipathie schließlich in einem nur hämischen, sich von der Sache selbst verlierenden Ton noch äußerte,4 war Chorley, der Referent des Athenäums, ersichtlich bestrebt dem geistigen Flug des Künstlers zu folgen und in maßvoller Weise gegnerische Anschauungen zu erklären.5[109]

Trotz der gegnerischen Stimmen gehörten Liszt's Erfolge als Virtuos zu den außerordentlichsten in England, speziell in London. Nur Tragöden und Bühnensänger, wie Charles Kemble, Talma, die Pasta, Malibran und Andere, konnten sich hier ähnlicher Siege rühmen. Wenn trotzdem Moscheles die Bemerkung machte,6 dem Künstler habe es nicht gelingen wollen, die englische Nation, wie die französische und deutsche, mit sich fortzureißen, so liegt dieses weniger im englischen Charakter überhaupt, der zu keiner Zeit weder der Kunst, noch der Wissenschaft, selbst nicht der Religion gegenüber einen so aus dem Moment geborenen, feurigen und fliegenden Enthusiasmus, wie beispielsweise die französische Nation, entwickelt hat. Das Gefühls- und Phantasieleben der Engländer für die Kunst im großen Ganzen war nie leicht entzündbarer Art. Dafür aber hat ihr Enthusiasmus »sense« und eine leicht erregbaren Nationen sehr oft entschwindende Kraft der Ausdauer vielmals bewiesen – Eigenschaften, welche das Gewicht erklären, das von reproducirenden, wie von producirenden Künstlern so oft auf ihre englischen Erfolge gelegt wird.

Übrigens kann Moscheles' Bemerkung, die leichthin und privatim, wie es Tagebuchnotizen und Briefen an Freunde eigen ist, gemacht war, ebensowohl einen gesellschaftlichen Hintergrund haben, der mit einem verletzten Respektabilitätsgefühl englischerseits im Zusammenhang steht. Denn nicht nur daß – wenn auch gegen [110] Liszt's Willen – die Gräfin d'Agoult ihm nach England gefolgt war: er bewegte sich noch überdies mit Vorliebe in den Kreisen der Lady Blessington und des Count d'Orsay, zweier Persönlichkeiten, welche im Londoner socialen und literarischen Leben der romantischen Phase angehören, die sich in den dreißiger Jahren durch die französischen Poeten am schärfsten entwickelt hatte und ihre Wider- und Nachklänge nicht allein auf französischem, sondern auch auf englischem, wie auf deutschem und anderer Länder Boden fand: die Lady Blessington bekannt durch Extravaganzen des Herzens und in Folge dessen gesucht und gemieden, Count d'Orsay, durch Schönheit, Eleganz, Schulden und Aventüren aller Art einer der gekanntesten Cavaliere und »lions« Londons. Hier war immer interessante, witzige, elegante und geistreiche Gesellschaft aus der Genossenschaft des Bühnen- und des Koncertpodiums, Männern und Frauen der Literatur, dazwischen auch Länder, Ruhm und Romantik suchende Prinzen der verschiedensten Nationen.

Auf diese Salons sah der solide Sinn der guten und vornehmen englischen Gesellschaft nur mit dem Gefühl, welches das Wort »shoking« so treffend charakterisirt. Daß er es nicht billigte, wenn ein Künstler von so hervorragendem Charakter wie Liszt sich in solchen Kreisen wohl befand, liegt in der Natur dieses Sinnes, der nach dem Erprobten, Sicheren, Ausgegohrenen, Geregelten verlangt, ebenso wie die Natur des Künstlers, ohne dieses Sinnes entbehren zu müssen, im gesellschaftlichen Leben dorthin strebt, wo seine Phantasie in einem freieren Spielraum sich bewegen kann und sein poetisches Empfinden sowohl Anregung findet, als auch frei schwingen darf, wo mit einem Wort die anerzogene Ruhe, oder auch mangelndes Leben das Leben selbst nicht zurückhält.

Liszt kehrte während seiner Virtuosenlaufbahn nicht wieder nach England zurück. Eine deutsche Oper, die er für 1842 in London zu dirigiren übernommen hatte, scheiterte, noch ehe sie ins Leben getreten war (Kap. XI). Sein Besuch daselbst blieb jedoch nicht spurlos. Abgesehen von dem persönlichen Interesse, das ihm am Hof bewahrt blieb und ihm bei seinem letzten Besuch Londons 1886 auf das glänzendste bethätigt wurde, hatte er als Künstler das erste Samenkorn der aus den Banden der klassischen Schablone strebenden Tonkunst dahin getragen.

Aus Liszt's damaligem Aufenthalt in London ist manche Anekdote, die seinem musikalischen und gesellschaftlichen Verkehr[111] angehört, erhalten geblieben. So hatte er eines Tages dem berühmten Etüdenkomponisten J.B. Cramer beim vierhändig spielen heiß gemacht. Lachend erzählte er hierauf: »J'ai joué un duo avec Cramer – j'étais le champignon empoisonné et j'avais à côté de moi mon antidote, le lait.« Danach rächte sich Cramer mit dem Wortspiel, das auf Liszt's die Ausdauer der Klaviere oft hart auf die Probe stellende Kraft anspielt: »De mon temps on jouait fort bien, aujourd'hui on joue bien fort.« – Ein andermal war Liszt zu einem Diner eingeladen und verspätete sich. Der Fisch war bereits abgetragen und Lammbraten mit der nur in England gekannten mint-sauce7 wurde servirt. Sie behagte dem Künstler dermaßen, daß er sie sich zu jedem folgenden Gericht reichen ließ – auch zur Stachelbeertorte. Alles lachte und er mit.

Zu erwähnen bleibt noch, daß diesem Londonbesuch Liszt's Paraphrase über die englische Nationalhymne angehört:


God save the Queen (King).

Paraphrase de Concert.8


Wir begegnen bei ihr zum ersten Mal auf musikalischem Gebiet der Bezeichnung »Paraphrase«, welche bei Klavierstücken schnell sich einbürgerte. Der Künstler bezeichnete mit diesem Worte Übertragungen von Melodien und Liedern für den Koncertsaal, die nicht, wie seine großen Koncertfantasien, thematisch zu einer Idee, zu einer Scene verarbeitet sind, sondern mehr Augenblickskinder im Schmuck und Glanz der Koncertstimmung auftraten. Liszt selbst legte auf diese Momentstücke niemals Werth. Ihm waren sie nicht mehr als die zum Gruß sich senkende Lanze des in die Arena des Turnierplatzes sprengenden Ritters.

Bei alledem wäre es verfehlt, sie als werthlos zu erachten. Denn nicht nur, daß jeder Lauf, jedes Ornament, die Art und Weise, wie sie mit der Melodie verkettet sind, wie sie diese umwinden, tragen, heben, die Meisterhand verräth: sie verrathen auch stets den Blitz der Erfindung, der von dem »göttlichen Einfall des Genies« nie zu trennen ist. Das sind Dinge, welche, so gering sie Vielen scheinen mögen, von[112] der Arbeit allein weder gegeben, noch ersetzt werden können und die in ihrem blendenden Schimmer und ihrer königlichen Miene von dem Nur-Talent nie erreicht werden.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 2.1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1887, S. 107-113.
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