Frühere Briefausgaben

[15] Schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts bildeten Mozarts Briefe den Gegenstand eifrigen Studiums und führten zunächst zu zwar gutgemeinten, jedoch meist in mehr als einer Hinsicht anfechtbaren Darstellungen und Ausgaben. Bereits Georg Nikolaus von Nissen, der zweite Gatte Constanze Mozarts, erkannte die Bedeutung dieser Schriftstücke und fügte einen Teil den Materialien seiner erst nach seinem Tode herausgegebenen Mozartmonographie (1828) ein. Zweifellos ging dieser um die Erhaltung der Mozarthandschriften verdiente Diplomat mit Pietät und gutem Willen an die Quellen, die ihm aus erster Hand vorlagen, aber eine gewisse Kleinlichkeit in der Auffassung der Aufgaben des Biographen und Sachverwalters wie eine zu geringe Achtung vor der Unantastbarkeit der Originale, die auch heutigen Tags noch merkliche Spuren seiner Eingriffe tragen, nehmen seinen Mitteilungen viel von ihrem Wert. Aus Nissens Briefmaterialien schöpften dann die Mozartbiographen von Edward Holmes (1845) bis auf Otto Jahn, und auch heute noch müssen diese Exzerpte für manches zugrunde gegangene oder verborgen gehaltene Stück Zeugnis ablegen. Schon vor und namentlich seit dem Erscheinen des Nissenschen Buches tauchten aus den verschiedensten Ecken unbekannt gebliebene Mozartbriefe in der einheimischen wie ausländischen Presse auf, wo sie nur ausnahmsweise faksimiliert oder getreu wiedergegeben, vielmehr für den jeweiligen Leserkreis zurecht gestutzt oder nach dem Vorbilde Rochlitzens auch frei ausgemalt waren. Erst Otto Ja hn ging wieder auf die Originalquellen zurück und fügte die für seine Zwecke wichtigsten Familienbriefe seinem großen Mozartwerk (1856) ein. Der gesteckte Rahmen rechtfertigte hier die Auswahl, den fragmentarischen Abdruck und die Abstreifung ursprünglicher Schreibweisen. Anderen Gesichtspunkten sah sich dagegen Ludwig Nohl gegenübergestellt, als er im Jahre 1865 die erste größere, selbständige Sammlung der Briefe Mozarts veröffentlichte. Auch Nohl griff auf die Originalquellen zurück und suchte in anerkennenswerter Weise deren Bereich zu erweitern, aber [15] er ging in der Modernisierung der Sprache und Ausdrucksweise mit Gepflogenheiten seiner Zeit und blieb schon durch die Art und Methode seiner Edition mit ihren willkürlichen Kürzungen und Auslassungen sowie den bedenklichen Lesefehlern hinter den Forderungen zurück, die namentlich seit Jahn für die Mozartforschung gelten mußten. Der Glaube an die unbedingte Zuverlässigkeit dieser »authentischen und vollständigen« Sammlung, die 1877 in einer zweiten vermehrten Auflage erschien, täuschte vielfach über die Notwendigkeit einer neuen Ausgabe hinweg. In durchaus richtiger Erkenntnis des Wertes teilte Nohl hierauf in seinem Buche »Mozart nach den Schilderungen seiner Zeitgenossen« (1880) auch einen großen Teil der Briefe von Mozarts Vater mit, deren Wiedergabe jedoch unter das Niveau der vorhergehenden Publikation sank und sich leider öfters zum reinen Phantasiegebilde verstieg. Seit den Arbeiten Nohls, deren Verdienst in der Werbung für Mozarts Kunst zu suchen sein dürfte, ist eine Reihe weiterer Briefe zum Vorschein gekommen, um deren Bekanntgabe und Kommentierung sich besonders Otto Jahn, Gustav Nottebohm, Philipp Spitta und andere verdient gemacht haben. Die zusammengestrichenen Auswahlausgaben, die seitdem bis in unsere Tage herein immer wieder auf den Markt gebracht werden und ein Licht auf die außergewöhnliche Wertschätzung der Mozartschen Briefe seitens weiterer Kreise werfen, fußen mit seltenen Ausnahmen durchweg auf den Nohlschen Büchern und teilen, öfters noch in besonders verstärktem Maße, deren Mängel. Für die Verbreitung der Briefe sorgten in England Lady Wallace, in Frankreich besonders Henry Curzon und Julien Tiersot.

Quelle:
Die Briefe W. A. Mozarts und seiner Familie. 5 Bände, Band 1. München/ Leipzig 1914, S. XV15-XVI16.
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