Das Werk, dessen erste Hälfte ich hiermit der Oeffentlichkeit übergebe, trägt als Anzeichen seines Inhalts einen schlichten Personennamen. Die Kürze der Fassung entsprang nicht dem Verlangen, ein Verfahren nur nachzuahmen, das, bei umfassenden und gründlichen biographischen Arbeiten seither mit einer gewissen Berechtigung angewendet, allmählig zur gedankenlosen Mode zu werden droht. Allerdings bilden Leben und Werke Johann Sebastian Bachs des Buches hauptsächlichen und im weiteren Fortschreiten immer ausschließlicheren Gegenstand. Aber wenn es unbestritten ist, daß jede Individualität nur dann richtig und vollständig gewürdigt werden kann, wenn die Verhältnisse klar entfaltet vorliegen, aus und unter denen, und die Wirkungen, zu denen sie sich entwickelte, so muß dieser Grundsatz ausgedehnteste Gültigkeit erlangen für einen Mann, der in der deutschen Musik der letzten drei Jahrhunderte gleichsam den Knotenpunkt bildet, welchem alle früheren Richtungen einer neuen Periode convergirend zustreben, um aus ihm zu frischen Wirkungen sich zu vereinzeln. Dieses letztere ausführlich darzustellen, konnte nun freilich meine Aufgabe um so weniger sein, als überhaupt wohl die Zeit noch nicht gekommen ist, über den tiefgreifenden Einfluß der Bachschen Kunst namentlich auf die Musik des 19. Jahrhunderts das letzte Wort zu sprechen. Aber in dem vorausliegenden Zeitraume die Fäden auszusondern, welche jenen Knoten schürzen sollten, den Ursachen nachzuspüren, warum sie grade in einer Persönlichkeit wie Bach zusammenlaufen konnten, eine solche Forderung war unabweislich, wenn die Absicht dahin [5] ging, von der Großartigkeit dieser Künstlererscheinung auch nur eine annähernde Vorstellung zu geben. Je mächtiger und verzweigter nun die Wurzeln sind, mit denen sie im Erdreich des deutschen Lebens und Wesens haftet, in desto weiterem Umkreise mußte ich das Gebiet aufgraben, um dieselben bloß zu legen. So wird der Leser mancherlei in diesem Buche finden, was er in einem »Leben« Sebastian Bachs nicht suchen würde, was aber trotzdem mit ihm im innigsten, unlösbaren Zusammenhange steht. Und dieser Beschaffenheit des Werkes, denke ich, wird seine Bezeichnung entsprechen.
Der Versuch einer solchen umfassenden Darstellung ist bis jetzt nicht gemacht worden. Doch fehlt es nicht an Schriften, welche die äußeren Lebensereignisse Bachs oder auch gewisse Seiten seiner künstlerischen Thätigkeit zum Gegenstande haben. Unter ihnen ist die bei weitem werthvollste der Nekrolog, welcher vier Jahre nach des Meisters Tode in L. Chr. Mizlers Musikalischer Bibliothek Bd. IV, Th. 1. Leipzig, 1754. S. 158–176 veröffentlicht wurde. Schon daß er zu einer Zeit ans Licht trat, als die Erinnerung an Bach noch ganz frisch war, zumal an der Stätte, wo er 27 Jahre lang gewirkt hatte, gewährt seinen Mittheilungen einen hohen Grad von Glaubwürdigkeit, viel mehr aber noch der Umstand, daß er von dem zweiten Sohne des Verstorbenen, Karl Philipp Emanuel Bach, und einem trefflichen einstmaligen Schüler, Johann Friedrich Agricola, verfaßt ist. Offenbar vereinigten sich beide zu diesem Zwecke deshalb, weil Agricola Sebastian Bachs Unterweisung genoß, als der Sohn schon nicht mehr im Elternhause weilte, und somit manches als unmittelbarer Zeuge erlebte, was jener nur auf indirectem Wege erfahren konnte; auch zu Jakob Adlungs Musica mechanica organoedi (Berlin, 1768) hat Agricola noch eine Reihe von schätzbaren auf seinen großen Lehrer bezüglichen Anmerkungen geliefert. Die schlichte Schilderung von Bachs Leben und künstlerischem Vermögen, welche der Nekrolog nebst einer summarischen Uebersicht seiner Compositionen enthält, haben nun fast alle späteren sogenannten Biographen ausgeschrieben. So zuerst Johann Adam Hiller, Lebensbeschreibungen berühmter Musikgelehrten und Tonkünstler neuerer[6] Zeit. 1. Theil. Leipzig, 1784. S. 9–29. Diesem folgte dann wieder Ernst Ludwig Gerber, Historisch-Biogra phisches Lexicon der Tonkünstler. 1. Theil. Leipzig, 1790. Sp. 86 ff., ohne, wie es scheint, zu bemerken, woher Hiller seine Kenntnisse geschöpft hatte. Doch finden sich auch bei Gerber hier und an andren Stellen beachtenswerthe Originalbemerkungen, die auf die Erzählungen seines Vaters, eines Schülers von Seb. Bach, begründet sind. Ein seltsames biographisches Elaborat steht bei Hirsching, Historisch-literarisches Handbuch berühmter und denkwürdiger Personen, welche im 18. Jahrhundert gestorben sind. 1. Band. Leipzig, Schwickert. 1794. S. 77–80. Hier werden zuerst die Daten des Nekrologs ungefähr und mit manchen Fehlern reproducirt; dann folgt eine Charakteristik; diese wurde den »Proben aus Schubarts Aesthetik der Tonkunst« entnommen, welche dessen Sohn Ludwig Schubart in der Deutschen Monatsschrift. Berlin, Vieweg. 1793. St. 1. veröffentlicht hatte. Zu geben ist natürlich auf diese Phantasmen nichts, auch dort nicht, wo etwas thatsächliches hindurchschimmert, dessen Unrichtigkeit sich nicht sofort beweisen läßt. C.A. Siebigke, Museum berühmter Tonkünstler. Breslau, 1801. S. 3–30, wiederholt Gerber und Hiller, d.h. den Nekrolog, fügt jedoch einige gute Bemerkungen über Bachs Stil hinzu. Bei J.Ch.W. Kühnau, Die blinden Tonkünstler. Berlin, 1810, und J.E. Großer, Lebensbeschreibung des Kapellmeister u.s.w. Johann Sebastian Bach. Breslau, 1834. S. 7–64 ist nicht einmal Selbständigkeit des musikalischen Urtheils vorhanden, von eigner Forschung kann, Gerber zum Theil ausgenommen, bei keinem von allen diesen die Rede sein.
Den ersten Fortschritt, der seit dem Mizlerschen Nekrologe in in der Bach-Litteratur geschah, bezeichnet J.N. Forkels Schrift: Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Für patriotische Verehrer echter musikalischer Kunst. Leipzig, bey Hoffmeister und Kühnel (Bureau de Musique). 1802. 4. X und 69 S.S. mit Notenbeilagen, von der im Jahre 1855 eine neue Ausgabe erschien. Forkel, der gründlichste deutsche Musikgelehrte seiner Zeit und ein leidenschaftlicher Verehrer der Kunst Seb. Bachs, stand [7] mit den ältesten beiden Söhnen desselben im persönlichen Verkehr. Hierdurch kam er in Besitz eines reichen Materials, das er in jene Schrift verarbeitete. Hinsichtlich der Lebensnachrichten geht selbst er kaum über den Inhalt des Nekrologs hinaus, wohl aber in der Schilderung, von Bachs Eigenschaften als Orgel- und Clavier-Spieler, als Tonsetzer, Lehrer, Familienvater. So werthvoll nun also Forkels Buch als Quelle ist, und so wenig man ihm wird vorwerfen dürfen, er habe irgend etwas darin ganz aus der Luft gegriffen, mit Vorsicht muß es dennoch benutzt werden. Da er nämlich die thatsächlichen Ueberlieferungen und Urtheile der Bachschen Söhne von seinen eignen Meinungen nicht getrennt, vielmehr in eine fortlaufende Darstellung verarbeitet hat, so weiß man oft nicht, wo dasjenige anfängt oder aufhört, was eben diese Quelle so außerordentlich schätzbar macht. Denn Forkels eignes Urtheil ist selbst über Bach oft auffällig befangen. Nicht selten führt die Forschung auf eignem Wege zu einem Resultate, welches mit einer Aeußerung Forkels derart übereinstimmt, daß über die reine Quelle, aus der er sie schöpfte, kein Zweifel bleibt. Dann aber befremden wieder offenbare Unrichtigkeiten oder die Entdeckung, daß er günstigsten Falls seine Gewährsmänner mißverstanden haben muß. Endlich ist immer zu bedenken, daß auch Bachs Söhne irren konnten. Daher muß man wohl dieses Buch bei jedem Schritte berücksichtigen, darf aber, um möglichst sicher zu gehen, keinen Satz desselben ungeprüft lassen.
Mit Bezug auf den hundertjährigen Todestag Bachs, der am 28. Juli 1850 eintrat, erschienen zwei Erinnerungsschriften über ihn. Die eine: Johann Sebastian Bachs Lebensbild. Eine Denkschrift u.s.w. aus Thüringen, seinem Vaterlande. Vom Pfarrer Dr. J.K. Schauer, Jena, Fr. Luden. 1850. 8. VII und 38 S.S., faßt ihrem Zwecke gemäß das bis dahin allgemeiner Bekannte kurz und meistens correct zusammen, ist gewissenhaft in der Quellenangabe und bietet ein fleißiges Verzeichniß der durch Stich und Druck veröffentlichten Compositionen; tieferes Kunstverständniß verräth sie nicht. Eingehender läßt sich auf seinen Gegenstand der zweite Saecularschriftsteller ein, C.L. Hilgenfeldt, Johann Sebastian Bachs [8] Leben, Wirken und Werke. Ein Beitrag zur Kunstgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. Leipzig, Friedrich Hofmeister. 4. X und 182 S.S. mit Notenbeilagen. Das Buch ist mit ernstem Sinne geschrieben und macht insofern einen kleinen Fortschritt über Forkel hinaus, als der Verfasser aus der Litteratur des vorigen Jahrhunderts eine Anzahl von Daten und Urtheilen über Bach mit Sorgfalt gesammelt und in seine Darstellung verwoben hat. Auch über die Vorfahren Bachs hat er zum ersten Male Ausführlicheres bekannt gemacht und eine Uebersicht der Bachschen Compositionen gegeben, an der wenigstens der Fleiß Achtung verdient. Historische Auffassung freilich und wissenschaftliche Methode darf man nicht von ihm verlangen; seine Kunsturtheile, seine geschichtlichen Um- und Rückblicke sind, wie überhaupt das Ganze, schief und dilettantisch. Da aber der Verfasser selbst über seine Kräfte bescheiden denkt, wäre es unbillig, ihm weitere Vorwürfe zu machen. Ein sonderbares litterarisches Product hat seitdem noch geliefert C.H. Bitter, Johann Sebastian Bach. 2 Bände. Berlin, F. Schneider. 1865. Fortgerissen von der historischen Strömung unserer Zeit sucht dieser Schriftsteller mit dem wissenschaftlichen Apparate zu operiren, aber ohne in irgend einer Weise dazu fähig zu sein. Dankenswerth ist allenfalls die Mittheilung einiger bis damals unbekannter Archivalien, denn dergleichen Schriftstücke haben, wie die Bücher, ihre Schicksale. Leider sind sie sehr flüchtig wiedergegeben. Alle Versuche zu historischen Entwicklungen und sonstigen Reflexionen wären zum Vortheil des Buches und Verfassers besser unterblieben. Etwas mehr hat derselbe mit einer späteren Arbeit geleistet: Carl Philipp Emanuel Bach und Wilhelm Friedemann Bach und deren Brüder. 2 Bände. Berlin, W. Müller. 1868; hier war freilich die Aufgabe auch sehr viel leichter.
Es geht aus dieser Uebersicht hervor, daß als wirkliche Quellen von mir nur der Nekrolog, Forkel und hier und da Gerber benutzt werden konnten. Um zu neuem Materiale zu gelangen, war neben einer genauen Musterung der mit Bach gleichzeitigen musikalischen Schriftsteller vor allem eine sorgfältige Durchforschung aller derjenigen [9] Archive hothwendig, in denen allenfalls Spuren von Bachs Existenz als Bürger und Angestellter zu erwarten waren. Dann galt es nicht nur im allgemeinen die Verhältnisse seiner Zeit zu durchdringen, sondern auch für die verschiedenen Orte seines Aufenthalts jedesmal eine möglichst deutliche Vorstellung seiner Umgebung und äußern Thätigkeit zu gewinnen, den Andeutungen weiterer Zusammenhänge nachzuspüren, die Lebensschicksale von Personen zu verfolgen, mit denen er in Verbindung gestanden zu haben schien. Briefe hat Bach sicherlich nicht häufig geschrieben, am seltensten an Privatpersonen; auf dieses wichtigste biographische Mittel durfte von Anfang her nur in bescheidenstem Maße gerechnet werden. Desto erfreulicher war es, dennoch ein paar werthvolle Funde der Art zu thun. Ein unschätzbares Schriftstück ist der am 28. October 1730 von Leipzig aus an den Jugendfreund Georg Erdmann in Danzig gerichtete ausführliche Privatbrief, den ich durch die Hülfe meines lieben Freundes O. von Riesemann in Eeval aus dem Haupt-Staatsarchive zu Moskau wieder ans Licht ziehen konnte. Erdmann starb am 4. October 1736 als kaiserlich russischer Hofrath und Resident zu Danzig. Er hinterließ eine unmündige Tochter, ihre Erziehung sowie die Ordnung der ziemlich derangirten Verhältnisse übernahm ein Fräulein von Jannewitz, seine Schwägerin. Diese berichtete am 9. November 1736: »ich habe auch noch gantz alte briffe und Papir, welches mein seliger Schwager schon vor der bombardirung auff Einer aparten stube hat liegen gehabet, gleich als ich mich darauff bedacht in Einem Kuffer geleget und mit seinen Pittschaft 2. mahl versigelt, welge auch werde mit zu der andern versigelung geben.« Sie selber wollte Danzig als Wohnort aufgeben und diese Hinterlassenschaft war ihr beschwerlich. Unter den »gantz alten briffen« aber befand sich auch der Sebastian Bachs, welcher somit nebst den amtlichen Papieren Erdmanns nach Moskau wanderte und dort fast anderthalb hundert Jahre hindurch seiner Auferweckung entgegenschlummerte.
Gehören solche Autographe, deren Auffinden oft nur ein glücklicher Zufall bedingt, zu den Seltenheiten, so ist es um die autographen [10] Compositionen Bachs bei weitem besser bestellt. Man darf wohl behaupten, daß sie zum größeren Theile noch existiren, und in einer nicht unbeträchtlichen Anzahl sind sie auch allgemeiner zugänglich. Dieselben haben aber nicht nur wegen ihres Kunstinhaltes einen unersetzlichen Werth, sie bieten auch bei richtiger Behandlung eine Fülle von biographischen Anhaltepunkten, durch die man oftmals selber in Verwunderung gesetzt wird. Die Quelle würde noch reichlicher fließen, wenn nicht die Entstehungszeit der meisten Werke verschwiegen wäre. Hier öffnet sich nun zur Begründung einer einigermaßen sicheren Chronologie für die diplomatische Kritik ein Arbeitsfeld, auf dem sie alle ihre Instrumente zur Anwendung bringen kann. Da die Bachschen Handschriften sich durch einen Zeitraum von mehr als vierzig Jahren erstrecken, so ist es eine keineswegs unlösbare Aufgabe, nach bestimmten Merkmalen der Schrift verschiedene Perioden derselben abzugränzen, wenn sich auch die Hand in ihren Grundzügen wunderbar beständig zeigt. Hinzu tritt die verschiedenartige Beschaffenheit des Papieres. Ein drittes allgemeines Moment ist bei Vocalcompositionen die Untersuchung des Textes. Die Haltung der von Bach componirten Poesien ist freilich meistens zu unbestimmt, als daß etwas thatsächliches daraus zu entnehmen wäre, obgleich in einzelnen Fällen auch dieses möglich ist. Sehr ergiebig kann dagegen das Bemühen werden, den Dichtern und Drucken der Texte auf die Spur zu kommen. Die Sitte der Zeit, nach welcher die poetischen Unterlagen der Kirchenmusiken gedruckt und unter die Gemeinde zum Nachlesen vertheilt zu werden pflegten, kommt dem entgegen und steckt meistens wenigstens nach einer Seite hin die Entstehungszeit ab. Der besondern Handhaben verschiedenster Art, welche oftmals die einzelnen Handschriften der Forschung bieten, soll hier natürlich nicht weiter gedacht werden. Von erheblichem Vortheil für meine Arbeit waren die Publicationen der Bach-Gesellschaft, welche jetzt bis zum 20. Jahrgange fortgeschritten sind; sie stützen sich meistens auf die bestmöglichen Quellen und sind, zumal wo W. Rust seine erfahrene Hand angelegt hat, Zeugnisse von großer kritischer [11] Sorgfalt. Mit nicht geringerer Gewissenhaftigkeit besorgten F.C. Griepenkerl und F.A. Roitzsch die bei C.F. Peters in Leipzig erschienene Gesammt-Ausgabe der Instrumentalwerke Bachs, und A. Dörffel vervollständigte dieselbe im Jahre 1867 durch ein genaues thematisches Verzeichniß. Dennoch mußte es aus den oben genannten Gründen mir zur Pflicht werden, alle nur irgend zu entdeckenden Autographe Bachscher Compositionen selbst zu untersuchen. Bei denen, welche öffentliche Bibliotheken aufbewahren, also vor allem in der königl. Bibliothek zu Berlin, war dieses Ziel wohl allmählig zu erreichen. Schwieriger ist es immer, zum Privatbesitz Zugang zu erhalten. Doch habe ich auch hier in den meisten Fällen ein sehr freundliches und liberales Entgegenkommen gefunden, und hoffe, daß die Thüren, an welche ich bis jetzt vergebens anklopfte, sich nicht für immer verschlossen zeigen werden. Ich kann das um so ruhiger aussprechen, als derartige Weigerungen für Gestalt und Inhalt dieses ersten Bandes höchstwahrscheinlich ohne Bedeutung geblieben sind. Viele Autographe freilich giebt es noch und mag es geben, die, bei unbekannten Besitzern an unbekannten Orten verborgen, vorläufig jeder Kenntnißnahme spotten. Ich denke hier hauptsächlich an England. Wann werden wir, wenn auch nur dem Inhalte nach, von dort das Unsrige zurückerhalten?
Die Erwähnung der Compositionen führt von der biographischen und culturhistorischen auf die künstlerische und kunsthistorische Seite hinüber. Aus den Schriften der Männer, welche von hier aus Bach bald mehr bald weniger umfassend zu behandeln versucht haben – Winterfelds im 3. Bande seines Evangelischen Kirchengesangs, Mosewius' in seinen Schriften über Bachs Matthäuspassion, Kirchencantaten und Choralgesänge, und anderer – konnte ich nur Einzelheiten hier und da gebrauchen, da es sich herausstellte, daß grade diejenige treibende Kraft, welche durch ein Jahrhundert hinströmend endlich in Sebastian Bach triumphirend emporschoß, von ihnen unterschätzt oder ganz unbeachtet gelassen war. Auch bleibt es immerhin besser, mit eignen Augen als durch ein fremdes Medium zu sehen. Uebrigens steht, was auch nur das 17. Jahrhundert an [12] Kunstformen hervorbrachte, in so enger und unmittelbarer Verbindung mit der Kunst Seb. Bachs, daß es unerläßlich war, auf deren Geschichte sich etwas genauer einzulassen. Hierbei und nicht minder bei der Betrachtung von Bachs eigenen Kunstleistungen habe ich natürlich auf das formale Moment das größte Gewicht gelegt, entsprechend dem Verhältnisse, in welchem dieses der exacten Wissenschaft zugänglicher ist, als das ideale. Letzteres darum ganz unberührt zu lassen, hielt ich mich jedoch nicht für berechtigt, da ich so einen Theil meiner Aufgabe, eine umfassende Darstellung der Kunst Seb. Bachs zu geben, hätte unerfüllt lassen müssen. Der musikalische Schriftsteller wird sich hier immer in einer besonders schwierigen Lage befinden. Er kann die Grundstoffe einer Form vorlegen, die Modificationen aufweisen, welche sie im einzelnen Falle durch das künstlerische Subject erfährt, ein wesentlich Musikalisches, der Stimmungsgehalt, ist dadurch immer noch nicht dem Leser vermittelt. In der Vocalmusik bildet das gesungene Wort eine Nothbrücke; in der Instrumentalmusik hat man die Wahl, entweder den Leser einem anatomischen Praeparat gegenüber zu stellen, oder den Versuch zu machen, mittelst eines kurzen Wortes die Stimmung zu bannen, welche allein erst das Praeparat zu blühendem Leben erweckt. Ich habe das letztere vorgezogen und muß es darauf ankommen lassen, in wie weit das, was ich bei diesem und jenem Musikstücke empfinde, auch die Empfindung andrer ist. Daß ich dabei allzu subjectiv verfahren, wird man mir, hoffe ich, nicht vorwerfen. Eine einheitliche Grundstimmung durchzieht Bachs Compositionen mit einer solchen Stärke, daß sie niemandem verborgen bleiben kann, der sich jemals diesem Meister wirklich hingegeben. Ihre eigne Stimmung hat auch jede Zeitepoche, hat jede selbständige musikalische Form, ja, jedes Tonwerkzeug umschreibt sein besonderes Empfindungsgebiet. Bis auf diese Distanz kann man ungefährdet herankommen, dann beginnt der Boden zu schwanken, man sieht Farbenspiele, die der Augenblick gebiert und tödtet, das vollständig deckende Wort für sie könnte nur ein Dichter finden. Ausdrücklich aber verwahre ich mich hier gegen die Unterstellung, daß [13] es zum Genusse des Kunstwerks nöthig sei, dessen Stimmungsgehalt irgendwie in Worte umzusetzen. Wie jedes andre echte Kunstwerk, so muß auch jedes Instrumentalstück rein aus seinem eignen Wesen heraus wirksam sein. Nur eine schriftstellerische Pflicht war es, der ich nachzukommen suchte.
Eine breite historische Grundlage der Darstellung von Bachs Künstlerthum und Kunstwerken zu geben, darauf mußte übrigens schon die biographische Betrachtung führen, der es nicht gleichgültig sein konnte, daß ihr Held einer bereits hundertjährigen Künstlerfamilie entsproßte. In den Bericht über diese flocht sich jene meistentheils ungezwungen hinein. Bach selbst und seine Söhne legten auf ihre altkünstlerische Herkunft ein großes Gewicht, und diesem Umstande verdanken wir die handschriftliche Genealogie der Bachschen Familie, welche sich jetzt auf der königlichen Bibliothek zu Berlin befindet. Dahin gelangte sie aus dem Nachlasse des hamburgischen Musiklehrers G. Pölchau, dieser hatte sie aus dem Nachlasse Forkels erhalten, an Forkel hatte sie seiner Zeit Philipp Emanuel Bach geschickt. Sie zählt 53 Nummern; in jeder werden Herkunft, Geburts- und Todesdatum und sonstige wichtige Lebensereignisse je einer männlichen Persönlichkeit des Bachschen Geschlechtes chronistisch aufgeführt. Die erste hatte, nach des Sohnes Zeugniß, Sebastian Bach selbst verfaßt. Von wem die Fortsetzung stammt wird uns nicht gesagt, doch läßt es sich mit ziemlicher Sicherheit schließen. Zunächst ist zu constatiren, daß sie in den letzten Monaten des Jahres 1735 gemacht wurde, denn Sebastians Sohn Johann Christian, der am 5. September 1735 geboren wurde, wird noch aufgeführt und unter Nr. 18 das Jahr gradezu genannt. Philipp Emanuel war damals Student zu Frankfurt an der Oder. Nun geht aus gewissen Einzelheiten klar hervor, daß die Genealogie, mit Ausschluß natürlich der ersten Nr., garnicht unter den Augen Sebastian Bachs entstanden sein kann. Denn es fehlen darin die Todesjahre von dessen älteren Brüdern, die er doch wissen mußte. Und was mehr ist, in den Notizen über Sebastians eignes Leben findet sich eine falsche chronologische Angabe (s. hierüber die Auseinandersetzung in Anhang [14] A. Nr. 9), und zwar betrifft sie ein so wichtiges Ereigniß, daß Sebastian selbst schwerlich das Jahr verwechselt haben kann. Dieser Irrthum aber kehrt in dem Nekrologe wieder, und von dem Nekrologe wissen wir, daß ihn großen Theils Philipp Emanuel Bach verfaßte. Die Folgerung ergiebt sich von selbst. Als Philipp Emanuel später eine Abschrift der Genealogie an Forkel schickte, fügte er noch allerhand erweiternde, erklärende und verbessernde Notizen hinzu. Die Genealogie hatte sich aber schon vorher unter dem Bachschen Geschlechte verbreitet, namentlich in der Linie, welche sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nach Franken hinein abzweigte. Abschrift davon besaß ein Vetter Philipp Emanuels, Johann Lorenz Bach, und dessen Urenkel, Johann Georg Wilhelm Ferrich, Pfarrer zu Seidmannsdorf bei Coburg, auf welchen dieselbe allmählig vererbt war, ließ sie in der allgemeinen musikalischen Zeitung, Band 45, Nr. 30 und 31 veröffentlichen. Er meinte irrthümlich, Lorenz Bach habe sie selbst verfaßt. Daß es in der That nur eine Abschrift ist, geht aus einer Vergleichung klar hervor. Die Kleinigkeiten, welche in der Ferrichschen Genealogie fehlen, sind theilweise unabsichtliche Versehen, theils betreffen sie ganz unwichtiges, theils können sie etwa aus der Undeutlichkeit der geschriebenen Vorlage leicht erklärt werden. Dagegen hat sie auch eine Reihe von Zusätzen, wie Seb. Bachs Ernennung zum königlich polnischen Hof-Compositeur (1736), seinen Tod, genauere Notizen über die Schweinfurter und Ohrdrufer Bachs. Auch das »Anno 1735« in Nr. 18 ist erst mit späterer Tinte hinzugefügt, wahrscheinlich als der Besitzer merkte, daß dies Datum zur Bestimmung verschiedener andrer darin nothwendig sei, während er es zuerst fortgelassen hatte, als für das Jahr seiner Abschriftnahme nicht mehr passend. Jedenfalls sind aber diese Zusätze vor 1773 gemacht, dem Todesjahre Lorenz Bachs, das noch nicht aufgeführt ist. Wir wissen noch mehr: die Vorlage, nach welcher Lorenz Bach copirte, war schon nicht mehr Philipp Emanuels Genealogie selber, sondern nur eine Abschrift derselben. Auch diese hat sich noch erhalten, wenngleich fragmentarisch, da sie erst mit Nr. 25 beginnt. Sie ist jetzt im Besitz von Fräulein Emmert in Schweinfurt, [15] einer Seitenverwandten des Geschlechts der fränkischen Bachs, welche die Gefälligkeit hatte, sie mir zur Untersuchung zu überschicken. Aus Nr. 41 derselben geht hervor, daß sie vor 1743 angefertigt ist; sie konnte demnach schon einiges mehr bieten, als Philipp Emanuel. Späterhin erfuhr sie noch Zusätze und erst nachdem dieses geschehen war, diente sie für die Ferrichsche Genealogie als Vorlage. Eine Kleinigkeit, in Nr. 43, hat diese weniger, was aber nicht ins Gewicht fällt und eine absichtliche oder zufällige Auslassung sein kann. Neben den Genealogien wurden in dem Bachschen Geschlechte auch Stammbäume angelegt. Einen solchen, und vielleicht den ältesten, besaß Phil. Emanuel Bach und schickte ihn mit der Genealogie an Forkel. Er ist verschwunden; eine Spur seiner Existenz weist aber die »Beschreibung der königl. ungarischen Haupt-, Frey- und Krönungstadt Preßburg« auf, welche im Jahre 1784 daselbst bei Joh. Mathias Korabinsky erschien. Hier findet sich ein kleiner Stammbaum mit bezifferten Schildchen und dazu eine Liste, welche die Namen von 64 männlichen Bachs enthält; auf S. 110 bemerkt der Verfasser, daß es die Geschlechtstafel »des berühmten Herrn Kapellmeisters Bach in Hamburg« sei. Die Aufnahme derselben in dieses Buch geschah, weil man die Bachs für eine aus Ungarn gebürtige Familie hielt. Einen andern Stammbaum besaß Seb. Bachs Schüler, der Erfurter Organist Johann Christian Kittel: er wurde mit erläuternden Zusätzen von Christian Friedrich Michaelis in der Allgemeinen musik. Zeitung, Band 25, Nr. 12 veröffentlicht; wo er selbst geblieben ist, weiß man nicht. Dagegen besitzt Frl. Emmert in Schweinfurt ein wirkliches Original von einem Stammbaum; er ist sehr sorgfältig gezeichnet und geschrieben und splendid colorirt. Nach seiner Anlage zu schließen muß er etwa zwischen 1750 und 1760 gefertigt sein; dann finden sich darin von andrer Hand und mit andrer Tinte ausgeführt noch einige nachträgliche Zusätze. Um die Fortführung des Stammbaums bis auf unsere Zeit hat sich ein noch lebender Nachkomme des Geschlechts, der Herr Kämmereiverwalter Bach in Eisenach, bemüht. – Für die Geschichte der Vorfahren Seb. Bachs gewährte dieses Material eine schätzbare Hülfe. Es kam nun [16] darauf an, überall die Quellen wieder aufzusuchen, aus denen es geflossen sein mußte, um die gebotenen Daten zu prüfen – wobei es sehr viel zu berichtigen gab – und um die Quellen gründlicher noch auszuschöpfen. Sodann galt es, neues Material herbeizuschaffen. Denn sollte diese Geschichte einen Nutzen haben, so mußten die hervorragendsten Persönlichkeiten zu möglichst greifbaren Individuen herausgearbeitet werden, so mußten sie endlich durch eine möglichst bestimmte Skizzirung ihrer Zeit- und Standesverhältnisse den belebenden Hintergrund erhalten. Ich habe hier versucht zu leisten, was das Material erlaubte. Zu vielem Danke bin ich besonders für diesen Theil meiner Arbeit meinem werthen Collegen Prof. Th. Irmisch verpflichtet, der mit seiner genauen Kenntniß der thüringischen Culturgeschichte jederzeit bereit war, mir hülfreich zu sein. Ich muß das hier um so mehr aussprechen, als grade eine solche Hülfe weniger an hervorspringenden Punkten, wo man ihrer zu gedenken Gelegenheit hätte, sichtbar wird, als sich in allerhand gelegentlichen Winken und Informationen zu äußern pflegt, deren Werth kaum jemand so, wie der, dem sie geleistet wird, zu ermessen vermag. Die Geschichte der Vorfahren weist an einigen Stellen eine ziemliche Fülle genealogischen Details auf. Wenn ich hier die Bitte ausspreche, darin keine unfruchtbare Notizenkrämerei sehen zu wollen, so geschieht es eigentlich in der Hoffnung, damit etwas überflüssiges zu thun. Es liegt auf der Hand, daß für eine »Darstellung« die nackte Behauptung von der seltenen Fülle und Breite des Bachschen Geschlechtes nicht genügt, der Leser muß sie sehen und auch in ihren tieferen und tiefsten Entwicklungsschichten mit erleben. Wem dies trocken und uninteressant erscheinen sollte, der möge bedenken, daß die Schönheit eines Baumes in seinem Stamme, seinen Aesten, Blättern und Früchten besteht, daß aber die Bedingung hierzu gesunde und starke Wurzeln sind. Das genealogische Material ist somit zum größeren Theile und zwar nach einem festen Plane in die Darstellung verarbeitet. Ein Stammbaum, den sich danach jeder leicht entwerfen kann, ist nicht beigegeben, sollte sich jedoch das Bedürfniß [17] nach ihm herausstellen, so wird er nachträglich dem zweiten Bande angeschlossen werden.
Was die Anordnung des Buches im übrigen betrifft, so war es mein Bestreben, eine zusammenhängende, gleichmäßig durchgebildete Darstellung zu geben. Was sich diesem Zwecke nicht fügen wollte und durfte, mußte ausgeschieden werden. So entstanden zwei Anhänge, der eine für streng kritische Untersuchungen, der andere für quellenmäßige Mittheilungen ausgedehnterer Art und einzelne Ergänzungen, die, wenn planmäßig verfahren werden sollte, im Rahmen des Buches selbst ihre Stätte nicht hatten. Man wolle keine Inconsequenz darin sehen, daß dennoch hier und da einige kritische Entwicklungen dem Contexte einverleibt wurden. Es giebt Gegenstände, die in ein Gewebe biographischer, kunst- oder culturhistorischer Beziehungen so fest eingesponnen sind, daß ihre kritische Behandlung unmöglich ist, ohne eine Anzahl von Dingen gleichsam unabsichtlich zu streifen, deren Erwähnung für den allgemeinen Zweck höchst wünschenswerth, wenn nicht gar nothwendig sein kann. Und dann – ist es ein Zufall, daß wir bei so vielen Fragen in Bachs Leben auf Combination angewiesen sind? Mich dünkt, es fällt aus solchen Untersuchungen wohl ein Reflex auch auf die Persönlichkeit des Mannes, der so still, bescheiden und in sich gekehrt dahin lebte, nur den Idealen seiner Kunst nachtrachtend. Auch aus den Quellen unmittelbar ist manches in die Darstellung selbst aufgenommen worden. Es geschah jedoch fast nie, ohne dann dessen Form soweit zu biegen und zu glätten, daß sie dem Uebrigen gleichartig wurde. Der Forderung stilistischer Einheit mußte in diesem Falle die diplomatische Genauigkeit zum Opfer fallen. Dadurch braucht das Charakteristische einer älteren und originellen Fassung keineswegs ganz verwischt zu werden. Um das Gefühl davon zu erwecken genügt oft schon ein einziger ungebräuchlicherer Ausdruck, ja selbst nur eine hier und da abweichende Orthographie; dem Takte des Schriftstellers bleibt es anheim gegeben, hier die richtige Gränze zu finden. Einzig da wurde eine Ausnahme gemacht, wo es sich [18] um die Mittheilung von Bachs eignen Schriftstücken handelte, oder von solchen, die (vrgl. S. 313 f. und 323 f.) seine Aeußerungen referiren. Außerhalb des Contextes aber habe ich mich natürlich der vollständigsten Treue in Beibehaltung der originalen Ausdrucksweise, Orthographie und Interpunction beflissen, auch, wenn ich seltene Druckwerke zu citiren hatte, den Titel mit allen bibliographischen Merkmalen aufgeführt. Der Platz hierfür waren die unter dem Text von Capitel zu Capitel fortlaufenden Anmerkungen. Diese enthalten durchweg nur Quellennachweise und ab und zu eine gelegentliche kürzere Bemerkung, die in einen Anhang zu bringen sich nicht verlohnte, und die, wenn sie überhaupt Bedeutung haben sollte, unter dem frischen Eindrucke des Textes gelesen werden mußte. B.-G. bedeutet die Ausgabe der Bach-Gesellschaft, P. diejenige von C.F. Peters.
In einem Vorworte ist es erlaubt, eine persönlichere Sprache zu führen. Und so will ich denn auch die Empfindungen nicht ganz zurückhalten, mit denen ich dieses Buch bei seinem Hinaustritte in die Welt begleite. Ich entlasse es wie einen Freund, der in einsamen Jahren treu zu mir gestanden, der mit seiner reichen Fülle von Anregungen so vieles ersetzt hat, dessen Entbehrung sonst vielleicht unerträglich geworden wäre, mit seinem unablässigen Hinweis auf das Höchste und Heiligste, was wir besitzen, eine stete Quelle der Erhebung und reinsten Freude war. Vielleicht war er es nur mir, und andre, an die er jetzt herantritt, finden in ihm einen ganz gewöhnlichen Menschen, dessen Umgang wenig lohne, noch weniger erfreue. Niemand weiß das, aber ich hoffe es nicht. Zu fest lebt in mir der Glaube an die stetig wachsende Bedeutung Bachs für die deutsche Nation, der er in all seinem Denken, Thun und Fühlen mit einer Entschiedenheit angehörte, wie kein andrer Künstler mehr. Als meine Vorarbeiten zu einem Werke über Deutschlands größten Kirchencomponisten begannen, dachte ich nicht, daß dessen Veröffentlichung schon in eine Zeit fallen würde, die durch heiße Geisteskämpfe beweist, wie tief, allem widersprechenden Scheine zum Trotz, [19] das religiöse Bedürfniß dem deutschen Volke eingeboren ist. Mehr fast noch als jene glänzenden politischen Errungenschaften verkünden die mächtigen religiösen Regungen, welche das tiefste Wesen unseres Volkes aufwühlen, das Herannahen einer neuen großen Zeit. Und wie immer und überall den Mutterschooß der Kunst die Religion gebildet hat, so wird sie uns auch dieses Mal die Keime zeitigen, aus denen einst die Musik neuen Idealen entgegenwächst. Welche Stellung zu diesen dann Bach einnehmen wird, können wir nicht wissen. Aber weiter als je, scheint mir, findet grade jetzt seine Kunst die Thore zum Einzuge geöffnet. Denn Bachs, des Kirchencomponisten, so oft mißkannte Eigenthümlichkeit liegt darin, daß er die engen Gränzen eines kirchlichen Ideals durch ein allgemein religiöses Empfinden – nicht niederriß, aber in großartigster Weise erweiterte, und entgegenkommend einer solchen maßvollen Freiheit strebt unsere Zeit, unbefriedigt durch eine lange und viel gepriesene allgemeine Religiösität, von neuem festeren kirchlichen Formen zu. Die an Zahl und Inhalt fast unbegreiflich großen kirchlichen Kunstwerke des Mannes, den wir wohl den verkörperten Musikgenius des deutschen Volkes nennen dürfen, können nicht dazu in die Welt gesetzt sein, um nach einer oder wenigen mangelhaften Vorführungen spurlos zu verschwinden. Sie müssen, sie werden im Volke lebendig werden, werden mit ihrem tiefgeschöpften, lauteren Gehalte die Gemüther überall erfüllen, sie dem Göttlichen mit neuer und verstärkter Innigkeit entgegenwenden, Leben und Kunst unserer Zeit mit der Gewalt beeinflussen, die ihrem Werthe entspricht. Möchte ich zur Erreichung dieses großen Zieles einiges beitragen! Es wäre für alle Arbeit ein überreicher Lohn.
Sondershausen, im März 1873.
Philipp Spitta.
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