D. Brief Gottlieb Widebein's an R. Schumann.

B(raunschweig), 1. Aug(ust) 1828.


Geehrter Herr!


Ihr gütiges Vertrauen hat mir Freude gemacht; wohlan denn Offenheit gegen Vertrauen. – Ihre Lieder haben der Mängel viele, mitunter sehr; allein ich möchte sie nicht sowohl Geistes-, als Natur- oder Jugendsünden nennen, und diese entschuldigt und vergiebt man schon, wenn hin und wieder ein rein poetisches Gefühl, ein wahrhafter Geist durchblitzt. Und das eben ist es denn ja, was mir so wohlgefallen hat.

Wenn ich durch jene Natur und Jugendsünden die sich mir offenbarende Unsicherheit in den eigentlichen Elementen, sowie in dem höheren Studium der Kunst habe andeuten wollen, so hege ich den lebhaften Wunsch, mich Ihnen nach Jahren deutlicher mittheilen zu können. Bis dahin wollen Sie einige andere Bemerkungen nicht ungütig und mißdeutend aufnehmen.

Der schönen Begeisterung im Momente heiliger Weihe sollen wir uns gänzlich übergeben; nachher aber soll der ruhig prüfende Verstand ebenfalls sein Recht haben, und mit seiner Bärentatze dazwischenfahren, um das etwa sich mit eingeschmuggelte Menschliche ohne Gnade hinwegzukratzen. Was wild ist, mag wild aufwachsen; edlere Früchte verlangen Pflege, der Wein aber bedarf nicht sowohl der emsigsten Pflege, als auch des Messers; und wäre beides im schönen Italien, so würde die dortige Himmelsgabe nicht nach Jahren versäuern.

Vor Allem sehen Sie auf Wahrheit. Wahrheit der Melodie, der Harmonie und des Ausdruckes – mit einem Worte auf poetische Wahrheit. Wo Sie diese nicht finden, oder auch nur bedroht sehen, da reißen Sie hinweg und sollt' es Ihr Liebstes sein.

Prüfen Sie zuerst – jedes einzeln – die Declamation, die Melodie, die Harmonie, und dazu den Ausdruck und Geist, der das Ganze vergöttlichen soll – und harmoniren dann alle Theile zusammen, und wird Ihnen wie im Moment, wo zwei aufgezogene Saiten zu einem einzigen Ton verschmelzen: dann kümmern Sie sich nicht um die Welt, Sie haben den Schleier gehoben. Finden Sie aber Zweifel, sie mögen auch sein wie sie wollen, so glauben Sie mir wiederum: Die Sünde hat sich eingeschlichen – –[310]

Sie haben viel, sehr viel von der Natur empfangen; nützen Sie es, und die Achtung der Welt wird Ihnen nicht entgehen. Allein, glauben Sie mir, unser Altvater hat auch hier, wie immer Recht, wenn er sagt; »Dem glücklichsten Genie wird's kaum Einmal gelingen« etc.

Ich bin mit aufrichtigster Werthschätzung


der Ihre.

G. (ottlieb) W. (idebein)

Quelle:
Wasielewski, Wilhelm Joseph von: Robert Schumann. Bonn 31880, S. 309-311.
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