F. Auszug aus einem Briefe Franz Liszt's.

– – »In Leipzig verkehrte ich mit Schumann tagtäglich (zu Anfang des Jahres 1840 nämlich) und tagelang – und mein Verständniß[317] seiner Werke wurde dadurch ein noch vertrauteres und innigeres. Seit meinem ersten Bekanntwerden mit seinen Compositionen spielte ich in den Privatzirkeln Mailands, Wiens etc. mehrere davon, ohne aber zu vermögen, die Zuhörer dafür zu gewinnen. Sie lagen glücklicher Weise der damalig absolut täuschenden flachen Geschmacksrichtung viel zu ferne, um daß man sie in den banalen Kreis des Beifalls hätte hineinzwingen können. Dem Publikum schmeckten sie nicht, und die meisten Klavierspieler verstanden sie nicht. Selbst in Leipzig, wo ich in meinem zweiten Concert im Gewandhaus den Carneval vortrug, gelang es mir nicht, den mir gewöhnlich zukommenden Applaus zu erringen. Die Musiker nebst denen, die als Musikverständige galten, hatten (mit wenig Ausnahmen) noch eine zu dicke Maske über die Ohren um diesen reizenden, schmuckvollen, in künstlerischer Phantasie so mannigfaltig und harmonisch gegliederten Carneval zu erfassen. Späterhin zweifle ich nicht, daß dies Werk in der allgemeinen Anerkennung seinen natürlichen Platz zur Seite der 33 Variationen über einen Diabelli'schen Walzer von Beethoven (denen er meiner Meinung nach sogar an melodischer Erfindung und Prägnanz voransteht) behaupten wird. Das mehrmalige Mißlingen meiner Vorträge von Schumann'schen Compositionen, sowohl in kleineren Zirkeln als auch öffentlich, entmuthigten mich dieselben in meinen so rasch aufeinanderfolgenden Concert-Programmen – die ich theils aus Zeitmangel, theils aus Nachlässigkeit und Ueberdruß meiner klavierspielerischen ›Glanz-Periode‹ nur in äußerst seltenen Fällen selbst angab, und bald diesem bald jenem zur beliebigen Wahl überließ – aufzunehmen und festzuhalten. Das war ein Fehler, den ich später erkannt und wahrhaft bereut habe, als ich einsehen gelernt hatte, daß für den Künstler, der dieses Namens würdig sein will, die Gefahr, dem Publikum zu mißfallen, eine weit geringere ist als die, sich durch dessen Launen bestimmen zu lassen – und dieser Gefahr bleibt jeder ausübende Künstler insbesondere preisgegeben, wenn er nicht entschieden und principiell den Muth faßt, für seine Ueberzeugung ernstlich und konsequent einzustehen, und die von ihm als die Besseren erkannten Sachen vorzuführen, mag es den Leuten gefallen oder nicht.

Gleichviel also, in welchem Grade meine Zaghaftigkeit in Betreff Schumann's Klaviercompositionen durch den alles beherrschenden Tagesgeschmack vielleicht zu entschuldigen wäre, habe ich, ohne es zu vermeinen, dadurch ein schlechtes Beispiel gegeben, welches ich kaum wieder gut zu machen im Stande bin. Der Strom der Angewohnheit[318] und die Sklaverei des Künstlers, der zur Erhaltung und Verbesserung seiner Existenz und seines Renommés auf den Zuspruch und den Applaus der Menge angewiesen, ist so bändigend, daß es selbst den besser Gesinnten und Muthigsten, unter welche ich den Stolz habe, mich zu rechnen, äußerst schwierig wird ihr Besseres Ich vor allen den lüsternen, verworrenen, und trotz ihrer großen Zahl, unzurechnungsfähigen Wir zu wahren.«[319]

Quelle:
Wasielewski, Wilhelm Joseph von: Robert Schumann. Bonn 31880, S. 317-321.
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