Seelischer Prozeß bei Beschäftigung mit dem »Freischützen«

[112] Aber aus den innern und äußern Stürmen des Frühlings 1817, durch die er sich hinter die Wellenbrecher einer gesicherten Stellung hindurchkämpfte, sollte auch der volle Sommer der Entwickelung seines Genius hervorbrechen, für dessen reiche Blumenwelt sein ganzes bisheriges Wirken nur Wurzeln gesenkt und Keime getrieben hatte.

Wie die Rose nicht blühen kann, ehe nicht der Kreislauf des Jahres das Schneeglöckchen aus dem Eise steigen, das Veilchen duften ließ, wie es keinen Erndtesegen giebt ohne Lenzgewitter, so hätte Weber keinen Freischütz schreiben können, wenn er nicht vorher seine süßen Lieder gesungen hätte, durch »Leyer und Schwert« und »Kampf und Sieg« so ganz mit Herz und Geist untrennbar eins mit dem deutschen Volke geworden wäre. Wenn auch seine andern Arbeiten nothwendige Staffeln zur geistig formellen Entwickelung seines künstlerischen Wesens bildeten, so waren es doch, neben seinen Liedern, jene beiden Werke, die in ihm die Fähigkeit vorbereiteten, im »Freischütz« das ganze Herzens leben des deutschen Volkes eben so ganz und voll auszusingen, wie Beethoven dessen Seelenleben in seiner tiefsten Tiefe[112] mit seinen Symphonien tönen und Göthe im Faust den deutschen Geist reden ließ.

Im Faust, den Symphonien und dieser Oper verkörpert sich das synthetische, ideale und reale Element der deutschen Wesenheit. Jedes dieser Werke bildet eine Krystallfläche dieses Edelsteins, welche die ganze deutsche Welt von ihrer Seite wiederspiegelt. Weber's psychische Thätigkeit trat erst vom Tage der ersten Beschäftigung mit dieser Oper an in die Phase der reisen Meisterschaft. Als dieser Tag läßt sich mit Schärfe der 23. Febr. 1817 bezeichnen, wo er den ersten Akt des Textes von Kind erhielt und, beim Ueberlesen desselben, »die Melodien sich zuquellen« fühlte. Von da ab erhielt Weber's geistiges Leben eine neue Form. Alle seine Liebe und sein Streben nahm die Gestalt dieses Werkes an und bekam daher für ihn gleichsam greifbaren Körper und Leben. Letzteres hatte bis dahin aus drei Objecten das Grundgerüst seiner Welt gestaltet, die Kunst, Pflicht und Liebe hießen. An die Stelle des vagen Begriffes der Kunst im Allgemeinen trat, von jenem Augenblicke an, die festumschriebene Idee des »Freischützen«. Was er an Idee und Formkraft besaß, das trug er emsig zum Aufbau dieses Werkes aus der reichen Welt seines innern Lebens zusammen. Er arbeitete nicht zu Zeiten am Schreibtisch sitzend daran, sondern er trug es unter dem Herzen wie die Mutter das Kind; jeder Eindruck von Außen, jeder Lichtblick, jeder Genuß gewann seinen Abglanz in Tönen in dem »Freischützen«; er nährte das Werk wenn er sich nährte und wenn er Blick und Gedanken auf irgend einen Gegenstand richtete, sei es auch der heterogenste gewesen, so streiften dieser Blick und Gedanke doch, zu ihm zurückkehrend, über das Gesammtbild des »Freischützen« hin, emsig suchend, ob nicht irgend ein fördernder Reflex, ein hebender Schatten, ein Druck oder ein Licht davon darauf zurückbleiben dürfte.

Ganz natürlich war es daher, daß seine Liebe, die so unablässig sein Herz erfüllte, auf's Innigste für ihn mit dieser verkörperten Kunst verschmolz und allenthalben Einfluß auf seine Arbeiten äußerte. Sie war zunächst Ursache, daß Weber die Parthie des »Aennchen«, in der er Wesen und Talentrichtung seiner Braut verlebendigt sah, vor Allem[113] lieb gewann, und er ließ in ihrem warmen Lichte auch die Stellen der Oper, bei denen Aennchen mitwirkt, zuerst reisen. Die erste Note, die Weber am Freischützen schrieb (am 2. Juli), gehört in das Duett zwischen Aennchen und Agathe (F dur, II. Akt). Weber sah, wie er selbst versicherte und wie aus unten abgedruckten Briefstellen hervorgeht, unabwendig seine Braut, nicht allein die Rolle darstellend und alle seine Intentionen mit dem, ihr in diesem Genre beiwohnenden, großen Talente zur Geltung bringend, sondern er hörte sie die Sachen auch studirend singen und sah sie bei dem oder jenem den Kopf schütteln, zu dem oder jenem freundlich nicken, und diesen freundlichen Erscheinungen gönnte er oft Einfluß auf seine Entschließungen, wenn es darauf ankam, Stellen gelten zu lassen oder umzugestalten.

Er schrieb den »Freischützen« nicht, sondern er ließ ihn nach und nach aus den Quintessenzen seines Lebens herauskrystallisiren, herauswachsen, Blatt um Blatt und Keim um Keim, aus dem Grunde seines guten, braven, deutschen Herzens, gezeitigt von der Sonne seiner Liebe und gehütet, geleitet und gepflegt von der Hand seines Talentes. Darum hört aber auch das deutsche Volk die Oper nicht wie ein Kunstwerk, das von Außen in's Herz und in den Geist hineinklingt, sondern jeder Deutsche fühlt jeden Ton des Werkes aus seinem Herzen tönen, als habe er ihn selbst erdacht und als könne er nicht anders klingen, als eben so, wie ihn Weber schrieb, wie ja auch der deutsche Buchenwald nicht anders rauschen kann wie er es thut. Spricht dieß doch Friedrich Kind's naive Aeußerung unwillkürlich, doch deutlich aus: »Wie kann man nur die Melodie des ›Jungfernkranz‹ so unmäßig loben! Die verstand sich bei den Worten ›Wir winden Dir etc.‹ ja ganz von selbst und Jeder hätte sie gefunden!« –

Weber hat am »Freischützen« länger gearbeitet, als an irgend einer seiner andern Opern. Zwischen dem Beginne der Seelenarbeit an der Composition, am 23. Februar, und der Niederschrift der ersten Note, 2. Juli, liegen über vier volle Monate unausgesetzter Beschäftigung damit. Es ist kein Musikstück daran, daß er nicht zehnfach im Geiste umgestaltet hat, bis es ihm so klang, daß er sich selbst zurief: »das ist's!« und dann schrieb er es, fast ohne eine Note zu ändern,[114] schnell, sicher und sauber nieder. Daher hat jede Nummer dieser Oper diese zwingende Reise und Selbstverständlichkeit erhalten. Bei keinem seiner Werke ist die specifische Eigenthümlichkeit der Art und Weise seines Schaffens so geltend hervorgetreten, als bei diesem.

Quelle:
Weber, Max Maria von: Carl Maria von Weber. Ein Lebensbild. Band 2, Leipzig: Ernst Keil, 1866, S. 112-115.
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