Berlin. Entwickelung der Tonkunst und des Publikums

[282] Wenn große und originale Kunstwerke, gleich bei ihrem Erscheinen, einen durchschlagenden, immensen und allgemeinen Erfolg haben, so ist dieß selten oder nie ausschließlich Folge ihres immanenten Verdienstes, sondern fast immer das Resultat eines glücklichen Zusammenfallens der Richtung ihres Genius mit der Tendenz des Geistes der Zeit. Es ergiebt kein Maß für die Bedeutsamkeit des Genius, ob er mitten in seiner Zeit stehend, ihren höchsten Ideen Ausdruck verleiht, oder der Zeit vorausschreitend, der Heranbilder lünftiger Generationen ist, aber die großen, schöpferischen Geister, die letzteres thaten, wie die meisten, dürfen es der Mitwelt nicht verargen, wenn sie den Offenbarungen nicht zujauchzt, die ihr in einer Sprache gemacht[282] werden, von der sie kaum die Incunabeln gelernt hat und von der sie nur ahnt, daß sie erst in einem halben oder ganzen Menschenalter von Kindern oder Enkeln vollkommen verstanden und geläufig gesprochen werden wird. Die Freude, sich den Lorbeer mit einem Male voll und schattend um die noch jugendliche Stirn gewunden zu fühlen, ist nur den Meistern gegeben, die das Wort in der Kunst fanden, nach dem ihre Zeit suchte, um ihr Hassen und Lieben, Denken und Streben austönen zu können. Sie finden alle Herzen für ihre Saaten geöffnet, jeden Sinn vorbereitet, sie zu verstehen, alle Zungen gelöst, ihr Evangelium zu predigen. Ist nun der Geist der Zeit, dem ihr Schöpferwerk Ausdruck verlieh, selbst klein, mißgebildet, unlebensfähig, so geht es mit ihm zu Grunde und wird nur als Curiosum getrocknet in die Herbarien der Geschichte gelegt; ist er aber groß und bedeutsam, ein Seismos, der ein ganzes edles Volk um eine ganze Staffel der Entwickelung zur Freiheit näher hebt, so lebt auch das Werk mit fort als kräftiger Impuls im großen Organismus der Fortbildung des Menschengeschlechts.

Es ist ein Blick auf die Verhältnisse zu werfen, aus denen hervorgeht, daß Weber als Schöpfer des »Freischützen« zu den Glücklichen gehörte, die mit dem edeln Geiste ihrer Zeit, für den sie schufen, von dem sie jubelnd verstanden wurden, für alle Zeiten leben werden; Verhältnisse, welche zugleich von außen her die Wirkung dieser Oper der eines zündenden Funkens ähnlich machten und Berlin als den alleinigen Ort kennzeichnen, wo ihre Epiphanie so immense Wirkung haben, so blendenden Glanz verbreiten konnte.

Quelle:
Weber, Max Maria von: Carl Maria von Weber. Ein Lebensbild. Band 2, Leipzig: Ernst Keil, 1866, S. 282-283.
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