Ruhe in Hosterwitz 1823

[477] Nach der unerhörten Anspannung der Arbeitskräfte im Winter, die ihn sogar fast ganz verhindert hatte, der ihm so lieben Geselligkeit zu pflegen und ihn selbst zu einem gewöhnlich ziemlich stillen Gaste in seinem kleinen Kreise machte, zog Weber mit unbeschreiblichem Behagen am 10. Mai auf das Land. »Oh Hosterwitz, oh Ruhe! Ruhe!« Ruhen nannte er die »Euryanthe« schreiben, Ruhen hieß ferner, in der Zeit vom 1. Juni bis 24. Juli drei Singspiele und eine Oper einstudiren, zu jeder Probe drei Meilen zurücklegen und außerdem in hundert Tagen noch achtunddreißig Mal Dienst in Kirche und Theater haben! Das mußte Weber seine Erholungszeit nennen!! Die Oper war Isouard's »Joconde«, die mit neuer Besetzung am 1. Juli in Scene ging. Von den Singspielen erschien »Adele von Boudoy«, hier in »Cordelia« umgetauft, mit Musik von Conradin Kreuzer, am 29. Juni, worin Wilhelmine Schröder an Kraft und Ausdauer der Stimme Unglaubliches leistete, da die Cordelia das ganze Stück fast allein spielt1; dann folgte am 13. Juli »Der Unsichtbare« von Ed. Eule, und endlich auf dem Theater zu Pillnitz aufgeführt »Il Sarto declamatore« von Orlandi.

Während Wilhelmine Schröder's großes Talent in Dresden der Agathe Form und Klang lieh, erschienen die bescheidenen Gaben ihrer Schwester, Betty, in Wien in der Parthie der »Preciosa«, welches Schauspiel dort am 5. Juli über die Bretter des Theaters an der Wien ging. War es doch, als ginge dieses Phantasiegemälde überall den großen Schöpfungen Weber's als lieblicher Morgenstern voraus. Trotz einer Verschwörung junger, vornehmer Zierbengel, die dem ersten deutschen Werke ein Fiasco bereiten wollten und beim ersten Beifall zischten und lärmten, drang die gute Sache durch, das Stück hatte mit Hervorruf, da capo mehrerer Stücke etc., einen ausgezeichneten Succeß.

Das war eine Labe für Weber's Künstlerseele, die manchen tiefen Zug aus dem Becher des Ruhms und der Liebe des Publikums bedurfte,[478] um die Spannkraft zu der Arbeit an der neuen Schöpfung zu behalten, die nicht allein an Dimension seine früheren Werke sämmtlich überstieg, sondern mit der er sich auch auf bisher unbetretene, seiner Natur nicht so befreundete Pfade begab.

Die Energie und Seelenspannung, mit der er in der Zeit vom 1. Mai bis 29. August jede Stunde, die ihm sein Dienst oder die nothwendige Geselligkeit ließ, dem Werke oblag, die Unablässigkeit, mit der sein Geist in dieser Zeit nur in dem erwählten Tondrama lebte, konnte nicht anders als aufreibend auf seinen physischen Organismus wirken.

In dieser Zeit sahen Caroline und der, damals auch in Hosterwitz wohnende Benedikt, oft schon früh vor sechs Uhr, wenn sie in die Laube im Garten traten, wo gewöhnlich das gemeinschaftliche Frühstück eingenommen wurde, am offnen Fenster seines Arbeitszimmers das bleiche Haupt des Meisters über das Notenpapier gebeugt, oder ihn von einem kurzen Morgenspaziergange heimkehren. An allen Tagen, die ihm sein und der mitzuversehende Dienst des kränkelnden Morlacchi freiließ, arbeitete er sechs bis acht Stunden unablässig an der Oper und gönnte der gepreßten Brust nur selten, bei langsamem Wandeln am Elbufer oder durch ein Waldthal, die Erquickung tiefer Athemzüge balsamischer Luft. Mehr als einmal rief er, aus dem heißen Arbeitszimmer in den Garten tretend und die Arme ausdehnend, aus: »Ich wollt' ich wär' ein Schuster und hätte meinen Sonntag, und wüßte nicht Gix noch Gax von C dur und C moll!!«

Die Oper, an der er zugleich componirte und instrumente, schritt bei diesem gewaltigen Aufwande angespannter genialischer Arbeitskraft ungemein schnell fort.

Quelle:
Weber, Max Maria von: Carl Maria von Weber. Ein Lebensbild. Band 2, Leipzig: Ernst Keil, 1866, S. 477-479.
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