Musik im Privatleben

[658] Unterschied sich somit das öffentliche Musikleben Londons in fast allen Theilen sehr wesentlich von dem deutschen, so war dieß in noch weit höherem Maße bei dem privaten der Fall. Von einer Pflege der Musik in den Familien fast aller Lebenssphären, wie in Berlin, Wien, München, Dresden etc., wo Fürstinnen im geselligen Kreise sangen und regierende Herren stolz darauf waren, mit großen Künstlern Arm in Arm zu schreiten, konnte damals in London keine Rede sein, wo Musik nicht zu den allgemeinen Bildungs-, sondern nur zu den Luxus- und Modeartikeln gerechnet wurde. Das harmlose Musiciren von Dilettanten, um des eignen Behagens willen, wurde fast nirgends gehört. In den Häusern des unteren und mittleren Bürgerstandes erklang kaum ein Ton, und der Reichthum und die Vornehmheit kaufte sich Musik, indem sie die ausgezeichnetsten Künstler in ihre Zirkel luden und deren gut honorirte Leistungen ihren Gästen ganz ebenso vorsetzten, wie ein kostbares Gericht. Der geladene Künstler kaufte sich durch sein Talent aber nicht in den eigentlichen Kreis der Gesellschaft ein, das Adelsdiplom seines Genius von Gottes Gnaden galt hier nicht genug, um ihn würdig zu machen, dasselbe Parquet mit dem jüngst nobilitirten Baronet zu beschreiten. Sein Schaffen war eine Waare wie jede andere, die man von ihm für Geld erwarb, für die man seinem Wissen, Können und seiner Begeisterung aber weder Ehrfurcht noch Dank schuldig war. Er hatte zu leisten, wurde bezahlt und hatte[658] zu gehen, ohne zu den Gästen des Hauses gerechnet worden zu sein. Die insolente Valetaille leistete ihnen in andrer Form als den »Gästen« Dienste und wäre bei der Zumuthung erröthet, ihnen im Salon Erfrischungen zu präsentiren. Die Wirthe begrüßten sie herablassend und wiesen ihnen ihre Plätze an, die in manchen Appartements durch eine Schnur von denen der Gäste getrennt waren. Es genügte ihnen sagen zu können: »der berühmte NN. hat bei uns gespielt, wir bezahlen ihm 30 Liv. Sterl. für den Abend«. Die Gäste aber ignorirten sie und ihre Leistungen plaudernd und lachend, und wenn einmal eine große Berühmtheit Aufmerksamkeit erregte, so erquickten die insolenten Aeußerungen derselben nicht. Und trotz alles lauten und gern gespendeten Beifalls verließen daher die Künstler die Häuser meist verletzt und empört, nur zu leicht indeß durch das Klingen der leicht verdienten Guineen in ihrer Tasche getröstet. Blos sehr wenige besaßen, zum Unglück, starke Nerven und Derbheit genug, um wie Spohr oder Rossini, unbekümmert um allgemeines Aufsehen, allgemeine Entrüstung und Spott, diese Unsitte und diese, Mangel an tiefer Bildung bekundende Formen, mit rücksichtsloser Faust zu durchbrechen.

Die Wechselwirkung des Mangels an Stolz der Künstler, die sich, um des bequemen Erwerbs willen, diesen Formen fügten, einerseits, und der zum Theil eben darauf basirten Geringschätzung ihres Werths von der andern Seite, erhielt diesen fast barbarischen Zustand des Verhältnisses zwischen Genius, Geld und Gesellschaft sehr lange Zeit. Er war durchaus charakteristisch für die Stellung, welche die Kunst in der Weltanschauung des Engländers einnahm und bezeichnete eine Lücke in dem Kulturleben dieses großen und kraftvollen Volks.

Quelle:
Weber, Max Maria von: Carl Maria von Weber. Ein Lebensbild. Band 2, Leipzig: Ernst Keil, 1866, S. 658-659.
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