Charcot, Jean Martin

Charcot, Jean Martin
Charcot, Jean Martin

[316] Charcot, Jean Martin, geb. 29. November 1825 zu Paris, zeigte schon als Knabe die grösste Neigung zur Medizin, doch fast ebenso grosse Vorliebe zur Malerei; schliesslich entschied er sich jedoch für das ärztliche Studium. Er wurde 1848 Interne des hôpitaux, 1853 Chef de clinique, und promovierte 1853 mit einer These über Arthritis nodosa. Seit 1856 fungierte Ch. als Arzt des Centralbureaus der Pariser Hospitäler, seit 1862 an dem grossen Frauen-Krankenhause (Hospiz) der Salpêtrière; hier hielt er von 1866 bis 78 regelmässig alljährliche Vorlesungen über chronische Krankheiten, über Krankheiten der Greise und besonders über Krankheiten des Nervensystems, welch letztere seinen Namen vorzugsweise berühmt machten. Seit 1860 Agrégé, erhielt er 1872 den Lehrstuhl der pathologischen Anatomie an der Pariser medizinischen Fakultät, in welcher Eigenschaft er alljährlich die offiziellen theoretischen und praktischen Kurse der pathologischen Anatomie zu halten hatte. Seine bedeutenden Leistungen auf dem Gebiet der Nervenpathologie veranlassten schliesslich die derzeitige französische Regierung, eine neue Professur für Klinik der Nervenkrankheiten an der Salpêtrière eigens für ihn zu creiren, welche Stelle er am 1. Januar 1882 antrat und bis zu seinem auf einer Reise in Morvan 18. August 1893 erfolgten Ableben in segensreichster Weise als Lehrer wie als Forscher verwaltete. Ch.'s wissenschaftlich-litterarische Thätigkeit war eine sehr ausgebreitete, die Zahl und Bedeutung seiner Publikationen ist ausserordentlich gross. Letztere sind zum Teil in zahllosen kleineren, von ihm selbst oder seinen Schülern herrührenden Journalmitteilungen enthalten; die meisten in den drei unter seiner Ägide begründeten und von ihm mitredigierten[316] Zeitschriften: Archives de physiologie normale et pathologique seit 1868, Archives de neurologie seit 1880, Revue mensuelle de médecine et de chirurgie seit 1877 (als Revue de médecine seit 1878). Auf dem Gebiete der Nervenkrankheiten sind vor allem zwei höchst bedeutende Schöpfungen hervorzuheben: die epochemachenden »Leçons sur les maladies du système nerveux faites à la Salpêtrière« (Paris 1874; 4. Auflage 1880; in viele Sprachen übersetzt, deutsch von B. Fetzer in zwei Abteilungen, Stuttgart 1874 und 1878) – ferner die von der Acad. des sciences mit dem Prix Monthyon 1880 gekrönten »Localisations dans les maladies du cerveau et de la moelle épinière« (1. Abt., Localisations dans les maladies du cerveau, Paris 1876; 2. Abt. 1880; deutsch ebenfalls von Fetzer in zwei Abteilungen, 1878 und 1881). Ferner zahlreiche unter seiner Anleitung erschienene Publikationen seiner Schüler Ordenstein, Bourneville, Gombault, Ballet, Pitres, Féré u.a., und besonders zwei Hauptwerke, die »Iconographie photographique de la Salpêtrière (service de M. Charcot)« von Bourneville und Regnard (3 Bde., Paris 1876 bis 80) und die »Études cliniques sur l'hystéro-épilepsie ou grande hystérie« von Richer (Paris 1881). Charcot ist eine der »grandes gloires« der französischen Nation. Als in seiner Eigenartigkeit hochbedeutender Vertreter der Nervenpathologie hat er fast in alle wichtigeren Spezialgebiete derselben schaffend, umgestaltend, vielfach bahnbrechend eingegriffen, dieselben ebenso mit Thatsachen bereichert, wie mit einer Fülle wertvoller Ideen und Anregungen befruchtet. Es sei hier namentlich auf seine genialen, überall neue Ausblicke eröffnenden Arbeiten über Hysterie (hysterische Hemianästhesie und Ovarie, Hystero-Epilepsie, hysterische Katalepsie u. Lethargie u.s.w.) verwiesen; ferner auf die nicht minder fruchtbringenden Forschungen[317] über herdweise und disseminierte Sclerose, Paralysis agitans, Tabes dorsalis und die von Ch. zuerst beschriebene sogenannte Tabes spasmodica (symmetrische und amyotrophische Seitenstrangsklerose). Weltbekannt sind auch die durch ihn veranlassten und durch seine Schüler fortgeführten Untersuchungen über die Burq'-sche Metalloskopie und Metallotherapie. Neben dem Forscher und Schriftsteller steht in mindestens gleicher, wenn nicht überragender Bedeutung der klinische Lehrer. Zu den Vorlesungen, welche Ch. in der Regel zweimal wöchentlich in der Salpêtrière hielt und die zeitweise von 500 bis 600 Zuhörern besucht wurden, stellten die Ärzte aller Kulturvölker ein beträchtliches Kontingent; viele derselben führte ausschliesslich die Begierde, Ch. kennen zu lernen und zu hören, nach Paris. Die Charcot'sche Abteilung ist für Forschungs- und Unterrichtszwecke reichhaltig ausgestattet, mit einem Museum, einem Laboratorium, einem eigenen photographischen Atelier, sowie mit grossartigen Einrichtungen für Elektrotherapie. – Nach seinem Tode erschienen fast in allen Zeitungen der Welt Nekrologe; eine Auswahl aus denselben ist bei Gurlt in Virch. Arch. 135, S. 560 gegeben. Am 4. Dezember 1898 wurde in der Salpêtrière sein Denkmal enthüllt, bei welcher Gelegenheit seine Verdienste aus beredtem Munde mannigfach gepriesen wurden.

Quelle:
Pagel: Biographisches Lexikon hervorragender Ärzte des neunzehnten Jahrhunderts. Berlin, Wien 1901, Sp. 316-318.
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