Einleitung.

Wenn auch die Forschungen, Entdeckungen und Funde der letzten Jahrzehnte uns ungeahnte Aufschlüsse über die Medizin der orientalischen Völker gebracht und ein zum Teil überraschendes Licht über die vielseitige Ausbildung verbreitet haben, welche die Heilkunde bei den Ägyptern, den Indern, den mesopotamischen Völkern, den Chinesen und Japanern erfahren hat, wenn auch durch die merkwürdigem prähistorischen Funde der Gegenwart die Spuren einer rationellen, auf wissenschaftlicher Grundlage beruhenden ärztlichen Thätigkeit sich bis in die graue Vorzeit verfolgen lassen, so ändert dies nichts an der Thatsache, dass die gesamte moderne europäische Medizin eine Tochter der griechischen Heilkunst ist. Nur die Griechen, nur sie zuerst haben Inhalt und Form der wissenschaftlichen Heilkunde auf eine mustergültige, exakte Weise festgestellt. Die klinische Beobachtung, das naturwissenschaftliche Experiment und die wissenschaftliche Darstellung der gefundenen Thatsachen: das sind die grossen, von den Hellenen gelegten Fundamente, auf denen sich die moderne Heilkunst aufbaut und durch welche sie noch heute mit der griechischen Medizin zusammenhängt. Nehmen wir hinzu, dass schon ein Hippokrates, der dem wahren Arzte die Eigenschaften eines Philosophen vindiciert, die grossartige Stellung der Medizin innerhalb der menschlichen Gesellschaft klar erkannt und ihre vielseitigen Beziehungen zu allen Zweigen des öffentlichen Lebens oft hervorgehoben hat, so tritt uns auch hier moderner Geist entgegen. Was aber vor allem rätlich erscheinen lässt, in einem »Biographischen Lexikon« der Ärzte von den Griechen auszugehen, das ist der Umstand, dass die ältesten Ärzte, als historische Persönlichkeiten genommen, diesem Volke angehören. Denn der sagenhafte Susruta und die historisch zwar beglaubigten Charaka und Vagbhata lebten unzweifelhaft nach Hippokrates, und wir wissen von ihnen wenig mehr als die Namen.

Der eigentliche Stammvater des europäischen Ärztegeschlechtes ist und bleibt Hippokrates, der berühmteste, vielgenannteste aller Jünger des Asklepios, mit dem sich die Neuzeit nicht weniger beschäftigt als dies schon das Altertum und das Mittelalter gethan haben. Denn er hat für die Medizin aller Zeiten entdeckt, was niemals leicht zu entdecken war, was immer im Gewirre der Systeme wieder verloren zu gehen droht: den kranken Menschen! In den Schriften der unter dem Namen des Hippokrates uns erhaltenen Sammlung tritt uns dieser kranke Mensch zuerst greifbar und lebendig entgegen und erhebt sich mitten aus dem Dunkel der mystischen »Krankheit«, jener Sphinx, die noch heute nicht enträtselt worden ist. Das Verdienst der Bezeichnung des kranken Menschen als des wahren Objektes einer wissenschaftlichen Heilkunst knüpft sich für uns an den Namen des Hippokrates, des Grossen, wie ihn die dankbare Nachwelt genannt hat (geboren auf der Insel Kos um 460–450 v. Chr., gestorben um 370 v. Chr. zu Larissa in Thessalien). Die unter seinem Namen erhaltene Sammlung medizinischer Schriften gehört den verschiedensten Zeiten an, und mit annähernder Sicherheit lassen sich nur wenige Abhandlungen dem [5] Hippokrates selbst zuschreiben, wie die berühmten »Aphorismen«, die Schrift über die alte Heilkunde, das erste und dritte von den sieben Büchern der Epidemien, das Prognostikon, die Abhandlung über die Diät in akuten Krankheiten (de victu in acutis), die sämtlichen chirurgischen Schriften und endlich der berühmte Essay über »Klima, Wasser und Örtlichkeiten« (de aëre, aquis et locis). Der in diesen Schriften, aber auch im übrigen Corpus Hippocraticum niedergelegte Schatz medizinischer Weisheit ist ein ungeheurer. Hippokrates ist der Begründer der sogenannten Humoralpathologie, welche mit den Begriffen des Blutes, des Schleimes, der schwarzen und der gelben Galle operiert. Daneben spielen auch nach dem Vorgange der jonischen Naturphilosophen die vier Elemente (Luft, Erde, Wasser, Feuer) und das Pneuma eine Rolle. Fast alle Krankheiten beruhen auf Störungen in der Mischung der vier eben genannten Kardinalsäfte, besonders auf der Prävalenz des Schleimes und der gelben Galle. Es giebt drei Stadien der Krankheit: Apepsie (Roheit), Pepsis (Kochung oder Reifung) und Krisis (Ausscheidung). Die Krisis erfolgt an den sogenannten kritischen Tagen, welche seitdem in der Medizin eine grosse Rolle gespielt haben. Den Hauptanteil an der Heilung der Krankheiten hat die φύσις oder Naturheilkraft. Trotzdem hat Hippokrates eine für alle Zeit mustergültige individualisierende Therapie begründet, welche nicht sowohl die Krankheit, als vielmehr den kranken Menschen unter sorgfältigster Beobachtung der Krankheitssymptome ins Auge fasst und die Semiotik, Diätetik und Aetiologie in gleicher Weise für ihre Zwecke ausgebildet hat. Therapeutischer Fundamentalsatz des Hippokrates: Nützen oder nicht schaden. Die berühmtesten Heilmittel waren die Ptisane, Hydromel, Oxymel, Milch, Wein, Abführmittel, Brechmittel, Diaphoretica, Diuretica, Blutentziehung durch Schröpfköpfe und Phlebotomie. Die Chirurgie der Hippokratiker ist eine hochentwickelte; die Lehre von den Frakturen und Luxationen mustergültig dank den gerade in der Osteologie hervorragenden Kenntnissen. Selbst Spuren der modernen Antiseptik hat man in den hippokratischen Schriften gefunden. In der speziellen Diagnostik und Krankheitslehre beschäftigten sich die Hippokratiker besonders mit den Krankheiten der Atmungsorgane (Pneumonie, Pleuritis, Empyem, Phthisis pulmonum), wobei sie bereits die Auskultation anwendeten (Succussio Hippocratis.) Tabes, Epilepsie (νόσος ἱερή), Nieren- und Blasenleiden, Malaria, Typhus u.a. werden beschrieben, auch die Uroskopie in ausgedehnter Weise angewendet. Endlich finden sich Schriften über Augen- und Frauenkrankheiten in dem Corpus Hippocraticum. Unvergänglich ist die Deontologie der Hippokratiker, welche in dem berühmten »Eid der Asclepiaden« gipfelt. –

Während nach dem Tode des Hippokrates seine unmittelbaren Nachfolger, die sogenannten Dogmatiker den ersten Versuch machten, ein theoretisches System der Medizin auf der Grundlage der Lehren ihres Meisters zu errichten, hat Aristoteles (384–323) durch seine exakten naturwissenschaftlichen Beobachtungen die Heilkunde bedeutend gefördert. In seiner Lehre von den gleichartigen und ungleichartigen Teilen finden wir die ersten Andeutungen der allgemeinen Anatomie oder Gewebelehre. Auch mit der Embryologie hat sich Aristoteles bereits beschäftigt. Diese Bestrebungen des grossen Naturforschers fanden Anklang und Nachahmung in Alexandria, wo vor allem Herophilus (ca. 300 v. Chr.) und Erasistratus († 280 v. Chr.) durch Sektionen menschlicher Leichen die anatomischen Kenntnisse bedeutend bereichert haben (Gehirn, Angiologie, Splanchnologie). Der erstere hat ausserdem die Pharmakologie begründet und soll ein tüchtiger Gynäkologe gewesen sein. Von Erasistratus rührt der Begriff der Plethora her. Diese empirische Richtung der alexandrinischen Ärzte wurde zu einem System erhoben durch die empirische Schule, deren Hauptprinzipien in den sogenanntem »empirischen Dreifuss« (Beobachtung, mündliche Überlieferung, Übergang zu einer neuen Erfahrung[6] durch Analogieschluss) zusammengefasst wurden und bis in die römische Kaiserzeit hinein ihren Einfluss übten, wo neue medizinische Systeme ins Leben traten. Nach Rom war die griechische Heilkunde durch Archagathus (218 v. Chr.) und vor allem durch den berühmten Asklepiades von Bithynien (geb. 124 v. Chr.) verpflanzt, den eigentlichen Gründer der methodischen Schule und der sogenannten Solidarpathologie, welche, gestützt auf die atomistischen Lehren des Epicur und im Gegensatze zur hippokratischen Humoralpathologie die Krankheiten aus Störungen in den festen Teilen des Körpers und in den Bewegungen der Atome ableitet, die Lehre von der Naturheilkraft verwirft und dem Arzte die Hauptrolle bei der Therapie zuerteilt, die dieser nach dem Grundsatze »tuto, cito, jucunde« ausüben soll. Besonders bemerkenswert ist Asklepiades wegen seiner Wertschätzung der physikalisch-diätetischen Therapie, die er zuerst in systematischer Weise zur Anwendung brachte (Gymnastik, Massage, Hydrotherapie) Von ihm rührt auch die Einteilung der Krankheiten in akute und chronische her. Diese Lehren wurden weiter ausgebildet von den späteren Methodikern (Themison von Laodicea, Thessalus u.a.), welche in ihre solidarpathologischen Anschauungen den Begriff des Tonus (übermässig gesteigert = Status strictus; übermässig vermindert = Status laxus; gemischt = Status mixtus) aufnahmen, d.h. die Fähigkeit der festen Teile sich auszudehnen und zusammenzuziehen, sowie die Lehre von den Sympathien, den sogenannten »consensuellen« Beziehungen zwischen verschiedenen Organen. Diese Grundlehren wurden als die κοινότητες oder Communitäten der Methodiker bezeichnet. – Um diese Zeit war es, dass zwei Römer den Versuch machten, die medizinischen und naturwissenschaftlichen Kenntnisse ihrer Zeit in encyklopädischen Werken zusammenzufassen. Dies waren Celsus und PliniusAulus Cornelius Celsus, der in der Übergangsepoche von der vorchristlichen zur christlichen Zeit lebte und wahrscheinlich kein Arzt war, hat uns in seinen »acht Büchern über die Medizin« eine unschätzbare Sammlung des gesamten medizinischen Wissens seiner Zeit hinterlassen, welche besonders für die Kenntnis der Alexandrinischen Schule höchst wertvoll ist. Berühmt ist besonders die Einleitung, in welcher Celsus der alexandrinischen Einteilung der Heilkunst in die Diätetik (Heilung durch rationelle Lebensweise), Pharmaceutik (Heilung durch Medikamente) und Chirurgie (Operation) gedenkt und alle nicht auf Thatsachen sich stützenden Theorien verwirft. Das erste Buch enthält die Diätetik, das zweite allgemein pathologische, diagnostische und therapeutische Darlegungen. Mit dem dritten Buche beginnt die spezielle Pathologie, die Celsus unter dem Gesichtspunkte der allgemeinen und lokalen Krankheiten einteilt. Zu den ersteren zählen die epidemischen Fieber, Wassersucht, Schwindsucht, Epilepsie, Aussatz, Apoplexie, Gelbsucht. Die lokalen Erkrankungen, besonders die Lungen- und Verdauungskrankheiten werden im vierten Buche behandelt. Die letzten vier Bücher enthalten Chirurgie, Ophthalmologie und Geburtshülfe in trefflicher Darstellung (Allgemeine chirurgische Therapie, Wundbehandlung, Hydrophobie, Carcinom in Buch V; chirurgische Lokalpathologie in Buch VI; Akiurgie in Buch VII, wo Bruchoperation, Bruchbänder, Seitensteinschnitt, plastische und Augenoperationen beschrieben werden, auch der Wendung auf die Füsse zum erstenmale gedacht wird; Buch VIII enthält die Knochenkrankheiten, Frakturen und Luxationen). Neben dem Werke des Celsus ist die für die Medizin nur wenig Ausbeute liefernde gewaltige »Naturgeschichte« des Cajus Plinius Secundus (23–79 n. Chr.) von geringerer Bedeutung. – In den ersten Jahrhunderten der römischen Kaiserzeit traten besonders die aus Kleinasien gebürtigen griechischen Aerzte hervor. Von dem Cilicier Athenaeus wurde die Schule der Pneumatiker begründet, welche das luftförmige Pneuma für die Erklärung der Krankheitsursachen heranzog und in Archigenes aus Apamea in Syrien ihren bedeutendsten Vertreter fand, der eine vortreffliche[7] Schrift »über den Puls« verfasste. Die Zänkereien zwischen den Pneumatikern und Methodikern hatten zur Folge, dass einsichtige Ärzte, des unfruchtbaren Streites der verschiedenen Systeme müde, als Eklektiker nur die wirklich brauchbaren und praktischen Ergebnisse derselben sich aneigneten, während zu gleicher Zeit die verschiedenen medizinischen Disziplinen durch einzelne Männer bedeutend bereichert wurden. Unter diesen ist vor allem zu nennen Pedanius Dioskorides, der Verfasser der um das Jahr 77–78 n. Chr. erschienenen berühmten »Materia medica«, der ersten uns erhaltenen Pharmakologie des Altertums, welche neben einer Aufzählung und Beschreibung sämtlicher damals gebrauchten Medizinalpflanzen bereits verschiedene chemische Bereitungsmethoden metallischer Mittel enthält. – Thessalus aus Tralles schuf die sogenannte metasynkritische Methode, eine Art von Stoffwechselkur bei chronischen Konstitutionskrankheiten und Soranus aus Ephesus (100 n. Chr.) war der bedeutendste Gynäkologe des Altertums, dessen Schrift über die Frauenkrankheiten wir die hauptsächliche Kenntnis der Geburtshülfe und Gynäkologie jener Zeit verdanken, wie derjenigen seines zu derselben Zeit lebenden Landsmannes Rufus die Kenntnis der damaligen Anatomie. Als einsame Grösse ragt Aretaeus von Kappadocien (2. Jahrhundert n. Chr.) hervor, berühmt durch die wunderbare Klassicität seiner Krankheitsschilderungen (Aussatz, Aura epileptica, Diabetes), durch die Feinheit seiner Beobachtungen und durch seine Kenntnisse auf dem Gebiete der normalen und pathologischen Anatomie (Darmgeschwüre bei Ruhr; gekreuzte Wirkung der Hirnnerven).

Die gesamten medizinischen Kenntnisse des Altertums sind zusammengefasst in den zahlreichen Schriften des Claudius Galenus, des grössten Arztes nach Hippokrates (geb. zu Pergamus 130 n. Chr., lebte grösstenteils in Rom, starb 201, wahrscheinlich in Pergamus). Von seinen Schriften (beste Ausgabe von C.G. Kühn, Leipzig 1821–1828, 22 Bände) sind die bedeutendsten 1. Neun Bücher de anatomicis administrationibus (anatom. Hauptwerk). 2. De nervorum dissectione. 3. Siebzehn Bücher De usu partium corporis humani (physiolog. Hauptwerk). 4. Sechs Bücher De locis affectis (patholog. Hauptwerk). 5. Methodus medendi oder Megatechne (therapeutisches Hauptwerk). 6. Ars parva oder Mikrotechne (Compendium der allgemeinen Pathologie und Therapie). 7. Verschiedene pharmakologische Werke (elf Bücher De simplicium medicamentorum temperamentis et facultatibus; zehn Bücher De compositione medicamentorum secundum locos; sieben Bücher De compositione medicamentorum secundum genera; De antidotis). Dazu noch zahlreiche andere Abhandlungen aus allen Gebieten der Medizin, so dass das Ganze eine grossartige Encyklopädie der Heilkunde bildet, welche in echt modernem Sinne die Anatomie und Physiologie sowie das Experiment zur Erklärung und Therapie der Krankheiten heranzieht. Galen erblickt das Leben im Pneuma, welches in drei Arten eingeteilt wird: 1. Pneuma psychikon im Gehirn, Ursache der Empfindung und Bewegung, 2. Pneuma zotikon im Herzen und den Arterien, Ursache der Blutbewegung, Wärmeverteilung und Regulierung, 3. Pneuma physikon in der Leber, vermittelt Blutbereitung, Ernährung und Stoffwechsel. Das im Wesen gleiche, nur nach seinem Sitze verschieden funktionierende Pneuma besitzt drei Grundkräfte, eine anziehende (Virtus attractiva), entleerende (Virtus expulsiva) und verarbeitende (Virtus digestiva). Diese Grundkräfte finden sich in allen vier Grundstoffen eines Organes. Daneben besitzt das ganze Organ noch eine spezifische Kraft. In der Anatomie hat Galen besonders die Neurologie gefördert (Unterscheidung der einzelnen Teile des Gehirns, 7 Hirnnerven, Sympathicusganglien etc.); in der Physiologie hat er zuerst Durchschneidungen des Rückenmarks und der Nerven vorgenommen (Aphonie nach Recurrensdurchschneidung). Er unterscheidet drei Arten von Verdauung (in dem Magen, der Leber, den Organen bezw. im Blut).[8] Der im Dünndarm bereitete Speisebrei gelangt durch die Pfortadervenen in die Leber, wo er in Blut verwandelt wird. Die Milz zieht die dicken und erdigen Nahrungsbestandteile an und bildet die schwarze Galle. Durch die Lebervenen und die obere Hohlvene geht das in der Leber bereitete Blut zum rechten Herzen, wird dort der unbrauchbaren Stoffe entledigt, welche bei der Ausatmung durch die halbmondförmigen Klappen der Arteria pulmonalis aus dem Körper entfernt werden. Das so gereinigte Blut strömt durch Öffnungen der rechten Herzscheidewand in den linken Ventrikel, vermischt sich hier mit dem durch die Lungenvenen zugeführten Pneuma und gelangt so in den Körper. Ob Galen den Kreislauf gekannt hat, ist zweifelhaft; aber er weiss, dass linkes Herz und Arterien bluthaltig sind. Er unterschied zahllose Arten des Pulses. Den Atemmechanismus erklärte er aus der Muskelkontraktion am Thorax. In der allgemeinen Pathologie war Galen im wesentlichen Humoralpathologe, wobei er aber das Blut besonders berücksichtigt. Krankheit ist andauernde Veränderung in der Zusammensetzung der festen und flüssigen Teile. Es giebt vier einfache Dyskrasien, die heisse (Plethora), die kalte (Abnormitäten des Schleims), die feuchte und trockene; vier zusammengesetzte, die heiss-feuchte (Veränderungen der gelben Galle), die heiss-trockene, kalt-feuchte, kalt-trockene (Prävalenz teils des Schleims, teils der schwarzen Galle). Im Nervensystem giebt es motorische und sensible Störungen und solche der Intelligenz. Die Krankheiten verlaufen in vier Stadien (Anfang, Zunahme, Höhe, Abnahme). Von Galen rühren die fünf berühmten Kardinalsymptome der Entzündung her. Die Krankheiten zerfallen in 1. in solche der vier Humores, 2. in solche der gleichartigen Teile, 3. in Organkrankheiten. Aus der speziellen Pathologie Galen's ist seine Differentialdiagnose zwischen Pneumonie und Pleuritis, seine ausführliche Beschreibung der verschiedenen Formen der Phthise sowie deren Therapie (Klimatotherapie) hervorzuheben. Er kennt die Beziehungen der Gicht zur Steinkrankheit und hat interessante Bemerkungen über die Pathogenese der Nervenkrankheiten, der Lähmungen und Spasmen, und des Ascites. Für die Therapie giebt es nach Galen drei Indicationen: 1. die Indicatio causalis (Beseitigung der Ursache), 2. Indicatio temperamentalis (Beseitigung der Dyskrasie), 3. Indicatio morbi (Beseitigung der Krankheitssymptome). Die Arzneimittel werden auf die subtilste Weise nach ihren den Temperamenten entsprechenden Qualitäten eingeteilt und in den umfangreichsten Kompositionen verabreicht. Daneben wendet Galen Schröpfköpfe, Aderlässe, Blutegel, Salbungen, Binden der Glieder, Friktionen an, wobei er zwischen dem revulsiven und derivatorischen Verfahren unterscheidet. Auch die physikalisch-diätetische Therapie wird im grössten Umfange herangezogen. In der chirurgischen Therapie hat Galen besonders die Zahnheilkunde berücksichtigt.

Die nachgalenische Medizin des Altertums und Mittelalters steht unter dem Zeichen der Kompilation und der blinden Verehrung des grossen pergamenischen Arztes. Unter dem Einflusse der religiösen Bewegungen fand das mystische Element (Neuplatoniker, Mönchsmedizin etc.) Eingang in die Heilkunde. Dem gegenüber sind Kompilatoren wie Caelius Aurelianus (4. Jahrhundert nach Chr.) und die byzantinischen Ärzte Oribasius (325 bis 403), Aëtius (6. Jahrhundert), Alexander von Tralles (525–605), Paulus von Aegina (7. Jahrhundert), Simeon Seth (11. Jahrhundert), Nicolaus Myrepsus und Johannes Actuarius aus dem 13. Jahrhundert von grösster Wichtigkeit, zumal da sie auch wie Alexander von Tralles, Aëtius und Paulus, der besonders die Chirurgie förderte, die Heilkunde durch eigene Beobachtungen bereicherten.

Es blieb den Arabern vorbehalten, die Traditionen der klassischen Medizin aufzubewahren, sie durch ihre wissenschaftliche Thätigkeit in eigentümlicher[9] Weise weiter zu pflegen und so die Neubelebung der im Galenismus erstarrten Heilkunde des Mittelalters vorzubereiten. Unter den arabischen und arabischjüdischen Ärzten ragen als die grössten hervor Rhazes (850–930), Verfasser des gewaltigen »Continens«, eines grossen Sammelwerkes der arabischen Medizin und der ersten Monographie über Masern und Blattern (Liber de variolis et morbillis), Abulkasim (um 1000 n. Chr.), der grösste arabische Chirurg (Darmnaht, Odontologie, Blasenkrankheiten) und Avicenna, der »Fürst der Ärzte«, der durch seinen »Kanon«, einen ungeheuren Folianten, dem Mittelalter eine Art von medizinischem Gesetzbuche geliefert hat. Er wurde 980 n. Chr. nahe bei Bochara geboren und starb um 1037 in Persien, wo noch jetzt sein Grabmal gezeigt wird. Sein Kanon, ausgezeichnet durch seine subtile dialektische Einteilung (in Traktate, Fen (Plur-Fanun), Doctrinae oder Summae und Kapitel), enthält zahlreiche interessante neue Beobachtungen über Hautkrankheiten, Neurosen u.s.w., sowie eine vortreffliche Diätetik der Wöchnerinnen und Neugeborenen. Ein grosser Diätetiker war auch der berühmte arabisch-jüdische Arzt Maimonides (1135–1204), der auch auf dem Gebiete der Toxikologie sich auszeichnete, ebenso wie Ibn el Beitar († 1248) auf dem der Pharmakologie, wie überhaupt die Chemie von den Arabern in ungewöhnlichem Maasse gefördert wurde (Geber).

Inzwischen wurde in Europa der Versuch gemacht, die Medizin durch die Befreiung von dem geistlichen Einflüsse zu neuem Leben zu erwecken. Dies geschah in der salernitanischen Schule, die freilich auch nicht über den Galenismus hinauskam, aber doch ihre besonderen Eigentümlichkeiten in einigen uns erhaltenen Litteraturprodukten erkennen lässt, z.B. dem berühmten »Regimen sanitatis Salernitanum«, einer Sammlung von diätetischen Vorschriften, und dem »Antidotarium« des Nicolaus Praepositus (um 1140), einem weitverbreiteten Schulbuch der Pharmacie und Therapie (sowie den medizinischen Gedichten des Aegidius Corboliensis im 13. Jahrhundert). Der hervorragendste salernitanische Arzt ist Constantinus Africanus (2. Hälfte des 11. Jahrhunderts), welcher zuerst die europäischen Ärzte mit den medizinischen Schriften der Araber bekannt machte, indem er sie ins Lateinische übersetzte, worin er Nachfolger fand in Gerardus Cremonensis (1114–1187) und dem jüdischen Arzte Ferraguth (Ende des 13. Jahrhunderts). Die Kirche machte gegen diese Emanzipationsbestrebungen Front, indem sie unter Benutzung der aristotelischen Dialektik die Medizin im kirchlichscholastischen Sinne bearbeiten liess, was die sogenannten »Aggregatores«, »Conciliatores« und Concordanzen-Schreiber in der besten Weise besorgten. Albertus Magnus (1193–1280), Thaddaeus von Florenz (1223–1303), Petrus Aponensis (1250–1315), Matthaeus Sylvaticus († 1342), Johannes von St. Amand (13. Jahrhundert), Gilbert Anglicus (13. Jahrhundert), Bernhard von Gordon (um 1300), Verfasser des berühmten »Lilium medicinae« u.a. sind die Hauptrepräsentanten der scholastischen Medizin.

Der Humanismus, die Rückkehr zum Studium der griechischen Sprache und Litteratur im Originale, die grossen Entdeckungen und Erfindungen führten jene Wiedergeburt der Wissenschaft herbei, welche unter dem Namen der Renaissance bekannt ist. Die Vorzeichen dieser auch für die Medizin glänzenden Periode sind schon in der kurz vorhergehenden Epoche bemerkbar, welche man als die Prärenaissance bezeichnet und in welcher Männer wie Roger Baco, Arnold von Villanova (1235–1312), Vertreter einer vernünftigen Hygiene und Diätetik, und Petrarca (1304–1374) die Wissenschaften in einem freieren Geist bearbeiteten. In der Medizin kam dies besonders den durch die Araber und Scholastiker so sehr vernachlässigten Disziplinen der Anatomie und Chirurgie zu gute, in welchen sich Männer wie der Magister Ricardus, Mondino de Luzzi (1275–1326), die »Vier Meister«, Hugo Borgognoni[10] († 1250), Bruno von Longoburgo, Teoderico Borgognoni (1205–1298), Wilhelm von Saliceto (2. Hälfte des 13. Jahrhunderts), Verfasser einer an interessanten Beobachtungen reichen »Chirurgie«, Lanfranchi († 1306), Heinrich von Mondeville († 1320), Jehan Yperman, Heinrich von Pfolspeundt (um 1460), die Familie Vianeo (plastische Operationen) u.a. auszeichneten. Der grösste Chirurg aus der Zeit der Prärenaissance ist Guy de Chauliac (geb. 1300), dessen Lehrbuch der Chirurgie neben Abulkasim bis zum 16. Jahrhundert fast die einzige Autorität bildete (»Inventorium et collectorium artis chirurgicalis medicinae« 1363) und eine berühmte Schilderung des »schwarzen Todes« enthält.

Im Zeitalter der Renaissance wurde die Medizin ausser durch die oben genannten Momente hauptsächlich beeinflusst durch das Auftreten neuer und gewaltiger Seuchen, der Syphilis (eingeschleppt aus Amerika durch die Spanier), des englischen Schweisses und des Typhus exanthematicus, sowie durch das von den sogen. »philologischen Medizinern« (Winther von Andernach, Cornarus, Leonh. Fuchs, A. Foësius) inaugurierte Originalstudium der griechischen Aerzte nach neuen Ausgaben und endlich durch die stärkere Pflege der Naturwissenschaften (Botaniker wie Tragus, Tabernaemontanus, L. Fuchs, Otto Brunfels, Conrad Gessner, A. Cesalpini, Alpino; Mineralogen wie G. Agricola; Physiker: Kepler; Chemie: Libavius, Sala). Den glänzendsten Aufschwung nahm in dieser Zeit die Anatomie, namentlich durch die Thätigkeit des Andreas Vesalius, unter dessen Vorläufern Alessandro Achillini (1463–1512; Schädelknochen), Zerbi, A. Benedetti (1460–1525; topographische und pathologische Anatomie), Jacopo Berengario Carpi (1470–1530; Kehlkopf, Herz, Thränendrüsen, Nieren, Leber), Jacques Dubois, Guido Guidi († 1569; Canalis Vidianus), G. Canani (Atlas der Myologie) u.a. zu nennen sind. Andreas Vesal wurde 1515 in Brüssel geboren, studierte seit 1533 in Paris Medizin, beschäftigte sich früh mit zootomischen und anatomischen Untersuchungen, wurde 1537 Professor in Padua, wo er zahlreiche anatomische Irrtümer des Galen nachwies, viele Sektionen menschlicher Leichen machte und seine beiden Lehrbücher herausgab. Er folgte dann einem Rufe als Leibarzt Karl's V., blieb in gleicher Eigenschaft bei Philipp II. und starb 1564 auf einer Fahrt nach Jerusalem. Vesal's grossartiges Werk »De humani corporis fabrica libri septem« (Basel 1543) zerfällt in sieben Bücher (1. Knochen und Knorpel; 2. Bänder und Muskeln; 3. Gefässe; 4. Nerven; 5. Eingeweide, Geschlechtswerkzeuge; 6. Herz; 7. Gehirn und Sinnesorgane) und ist mit mehr als 300 vortrefflichen Stahlstichen von Johann Stephan von Kalkar, einem Schüler Tizian's, geschmückt. Der Wert dieser Schrift beruht hauptsächlich auf dem Nachweis der galenischen Irrtümer. So stellte er die wahre Anzahl der Knochen des Brust- und Kreuzbeines fest; leugnete die von Galen angenommene Existenz eines »Herzknochens«, beschrieb sehr genau das Labyrinth des Ohres, das Keilbein, Peritoneum, Mediastinum, Cardia und Pylorus, den Fornix und vieles andere,[11] was bis dahin gar nicht oder nur unvollkommen bekannt gewesen war. Auch als Arzt zeichnete sich Vesal in hervorragendem Maasse aus. Gleichzeitig mit und nach Vesal erstand ein ganzes Geschlecht bedeutender Anatomen. Bartolommeo Eustacchi (ca. 1500–1574), noch ein Anhänger des Galen, beschrieb zuerst den Ductus thoracicus und die nach ihm benannte Tuba Eustacchii. G. Ingrassia (1510–1580) zeichnete sich als Osteologe aus, Realdo Colombo († 1559) ist ein Vorläufer Harveys durch seine Beschreibung des kleinen Blutkreislaufes. Aranzio (1530–1589; Ductus venosus Aranzii), Varolio (1543 bis 1575; Pons Varolii), Botallo (geb. 1530; Ductus arteriosus B.), G. Falloppio (1523–1562; Tuba F.; Entwickelung der Zähne und Knochen, Ligamentum F.), Fabrizio ab Aquapendente (1537–1619), Koyter (1534 bis 1600), Casserio (1561–1616; Nervus perforans C.; Stimm- u. Gehörorgan), J. Vesling (1598–1649), A. van der Spieghel (1578 bis 1625; Lobus Spigelii), Felix Platter (1536 bis 1614), Caspar Bauhin (1560–1624; Bauhinsche Klappe), S. Alberti (1540–1600; Thränenwerkzeuge), Pieter Paaw (1564 bis 1617; Osteologie) u.a. haben ebenfalls auf dem Gebiete der anatomischen Forschung bedeutende Leistungen aufzuweisen. Als Vorläufer von Harvey sind noch Paolo Sarpi und Miquel Serveto (1509–1553) zu nennen.

Unter dem Einflusse des Auftretens neuer Krankheiten, hauptsächlich der Syphilis, entwickelte sich in der praktischen Medizin eine reformatorische Bewegung, gefördert von Ärzten wie G. Fracastori (1483–1553), Johannes Lange (1485–1565), Pierre Brissot (1478–1522; Streit über den Aderlass), Felix Platter (Einteilung der Krankheiten in Functiones laesae, Vitia, Profluvia et Retentiones), Antonio Benivieni († 1502; Pathologische Anatomie), Peter Foreest (1522–1597), Crato von Krafftheim (1519–1586) u.a., die sich zum Teil in scharfer Weise gegen die Lehren der Araber wendeten und auf die Beobachtung sowie das Studium der griechischen Quellen zurückgingen, auch, wie der treffliche Johann Weier (1515–1588) gegen den Hexenglauben, gegen den Aberglauben in jeder Form auftraten, der besonders durch Mystiker wie Cardano (1501–1576), Agrippa von Nettesheim vertreten wurde. Der Hauptrepräsentant dieser mystischen Richtung in der Medizin des 16. Jahrhunderts ist Theophrastus Bombastus Paracelsus ab Hohenheim, der zu Einsiedeln in der Schweiz am 10. November 1493 geboren wurde und nach einem unsteten Wanderleben am 24. September 1541 in Salzburg starb, nachdem er eine Zeit lang (1526–1527) in Basel als Professor der Medizin gewirkt hatte. Paracelsus war ein Feind des Galenismus, hat aber selbst zahlreiche mystische und neuplatonische Ideen in seine zahlreichen in kerniger deutscher Sprache verfassten Schriften eingeführt. Trotzdem war er durch und durch Empiriker und hebt den Wert der genauen Beobachtung des Kranken oft hervor. Seine Theorie der Krankheiten ist eine chemische (Salz, Schwefel, Quecksilber als Grundstoffe des Körpers). Aber das Stoffliche bildet nicht das eigentliche Wesen der Dinge, sondern der ihnen eingepflanzte »Archaeus« oder »Quinta essentia« spielt diese Rolle. So enthält auch jeder Arzneistoff sein »Arcanum«, das besonders wirksame Prinzip, welches mit Hilfe der [12] Tinkturen, der spirituösen Extrakte gewonnen werden kann. Von Paracelsus stammt auch die Lehre von den Signaturen der Arzneipflanzen (Morbus terebinthicus, helleborinus). Sein grösstes Verdienst ist die Einführung neuer chemischer Mittel in die Therapie sowie seine eifrige Befürwortung einer innigen Verbindung zwischen Chirurgie und innerer Medizin. Die Anhänger des Paracelsus, die sogenannten »Paracelsisten« verbreiteten die Lehren des Meisters unter dem Namen der spagirischen (hermetischen) Medizin, wie Adam von Bodenstein († 1576), Oswald Croll (1560 bis 1609) u.a.

Unter den übrigen medizinischen Disziplinen erstand der Chirurgie ein Reformator in dem Franzosen Ambroise Paré (1517–1590), der die bisher übliche Polypragmasie aus der Chirurgie verbannte, bei Schusswunden anstatt des Ausglühens mit heissem Öl eine vernünftige expectative Therapie in Anwendung zog, sehr rationelle Indikationen für die Trepanation aufstellte, die Gefässnaht von neuem eindringlich empfahl und auch auf die Thoracocenthese wieder aufmerksam machte. Ferner verbesserte Paré die plastischen Operationen und verwendete zuerst Bruchbänder. Unter seinen Schülern ragt besonders hervor Pierre Franco (1505–1562), ein berühmter Lithotom, der die Sectio alta zuerst vollzogen hat. Auch Nicolaus Habicot (1550–1624) war ein tüchtiger Chirurg und Anatom. Paré sowohl wie sein Schüler Jacques Guillemeau (1550–1630) haben sich durch die Wiedereinführung der Wendung auf die Füsse ein grosses Verdienst um die Geburtshilfe erworben, die durch die ersten Ausführungen des Kaiserschnittes ebenfalls bereichert wurde.

Die von Baco von Verulam (1560 bis 1626) ersonnene inductive Methode der wissenschaftlichen Untersuchung sowie der durch die Philosophie des Cartesius (und Spinoza) begünstigte Aufschwung der Naturwissenschaften (Boyle, Kircher, Glauber) und die Erfindung des Mikroskops, mit dessen Hülfe besonders Leeuwenhoek (1632–1732) seine grundlegenden anatomischen und zoologischen Untersuchungen (Linse, Infusionstierchen) machte, bewirkten eine weitere Erhöhung des wissenschaftlichen Niveaus der Heilkunde, die vor allem durch die Entdeckung des Blutkreislaufes auf eine feste Basis gestellt wurde. William Harvey (2. April 1578 bis 3. Juni 1657) gebührt das Verdienst dieser unsterblichen Entdeckung, welche er durch jahrelange Forschungen und Experimente exakt begründete und endlich im Jahre 1628 in seiner berühmten Schrift »Exercitatio anatomica de motu cordis et sanguinis in animalibus« der[13] Welt bekannt machte. Das Buch enthält im ersten Teile eine Kritik der Galenischen Lehren, im zweiten eine klassische Darstellung der Verhältnisse des Kreislaufes, die er vollkommen richtig erkannte, wenn ihm auch die Kapillaren noch unbekannt waren. Schnell fand die neue Lehre, deren Wichtigkeit für die gesamte Physiologie bald sich geltend machte, Eingang und wurde durch Männer wie Nicolaus Steno (1638–1686; Muskelnatur des Herzens), Richard Lower (1631 bis 1691; Innervation des Herzens; Tuberculum Loweri), Alfonso Borrelli (1608–1679; Anwendung der Gesetze der Statik auf den Blutkreislauf), Raymond Vieussens (1641–1717; Begründer der Lehre von den Herzkrankheiten; Isthmus V.), Stephan Blancaard (1650–1702; Injektionen der Gefässe), Friedrich Ruysch (1638 bis 1731; Injektions-Arbeiten, Membrana Ruyschiana) weiter ausgebaut. Durch die Entdeckung des Kapillarkreislaufes hat Marcello Malpighi (1628–1694) die Harvey'sche Lehre am meisten gefördert. Dieser grosse Naturforscher, auch einer der Entdecker der Pflanzenzellen, hat ferner über den Bau der Lungen richtigere Anschauungen verbreitet, indem er Untersuchungen über die Verzweigungen der Bronchien anstellte. Weitere Entdeckungen auf dem Gebiete der Lehre von den Gefässen und der Zirkulation machten Aselli (1581–1626; Chylusgefässe), Rudbeck (1630–1702; Lympfgefässe), Thomas Bartholinus (1616–1680; Lymphgefässe), Conrad Victor Schneider (1614–1680; Physiologie der Lymphe; Werk »de catarrhis«), Anton Nuck (1650–1692; Drüsen und Lymphgefässe), [14] Thomas Willis (1622–1675; Blutgefässe des Gehirns; Circulus Willisii), J.J. Wepfer (1620–1695; Verlauf und Verzweigung der Carotiden), John Mayow (1645–1679; Physiologie der Atmung) u.a.

Noch auf einem zweiten wichtigen Gebiete der Physiologie hat Harvey anregend gewirkt, nämlich auf dem der Zeugung und Entwickelung. In seinen »Exercitationes de generationibus animalium« (1651) stellte er den fundamentalen Satz auf: Omne vivum ex ovo. Reignier de Graaf (1641 bis 1673) erkannte in dem Ovarium den Sitz der Bildung der Eier, Swammerdam (1637–1680) und Redi (1626–1694) untersuchten die Verhältnisse der Fortpflanzung bei den niederen Tieren, wobei letzterer die »Generatio aequivoca« aufs heftigste bekämpfte. Vallisnieri (1662–1730) studierte die Bedeutung des Eies für die Entstehung des Foetus. Die Anatomie der männlichen Geschlechtsorgane erfuhr durch Nathanael Highmore (1613–1684) und durch die 1677 erfolgte Entdeckung der Samentierchen durch Joh. Ham eine bedeutende Förderung.

In der praktischen Medizin des 17. Jahrhunderts lassen sich drei Hauptrichtungen unterscheiden. Die erste war die mystisch-naturphilosophische, als deren Hauptrepräsentant Johann Baptista van Helmont (1577 bis 1644) zu betrachten ist. Derselbe hat seine Anschauungen hauptsächlich in seiner Schrift »Ortus medicinae« entwickelt (1648). Die beseelte Natur wird nach van Helmont im Menschen als besondere Lebenskraft »Archaeus« personifiziert, der wieder in den »Archaeus insitus« (von aussen eingepflanzt) und den »Archaeus influus« (angeboren) zerfällt. Eine krankhafte Veränderung des Archaeus, die sogenannte »Idea morbosa«, bewirkt die Entstehung von Krankheiten. Indem van Helmont diese Theorie an den verschiedenen Krankheiten erläutert, kommt er zu manchen interessanten Ergebnissen, wie zu der Auffassung einer chemischen Pathogenese der Krankheiten, dem Nachweise von Gärungsvorgängen, die dabei eine Rolle spielen u.a.m., was an moderne Betrachtungsweise erinnert. – Ebenfalls naturphilosophischen Anschauungen huldigte Daniel Sennert (1572–1637), ein Erneuerer des Atomismus und Verfasser eines sehr beliebten grossen Handbuches der praktischen Medizin.

Die zweite Richtung in der Medizin dieser Zeit verfolgt das Ziel, die Chemie und Physik als Grundlagen für ein System der Heilkunde zu benutzen. Es waren dies die sogenannten Chemiatriker und Iatrophysiker. Der bedeutendste Chemiatriker ist Franz de le Boë Sylvius (1614–1672). Er betrachtete als die Basis der Medizin die Anatomie, Physiologie und klinische Beobachtung, war ein Anhänger Harveys und förderte durch eigene Arbeiten die Anatomie des Gehirns (Fossa Sylvii), ist aber weniger glücklich in der Aufstellung seines chemischen Systems der Medizin, in welchem die Begriffe der »Fermentation« (alle Arten von Umwandlungsvorgängen), der »Spiritus volatiles« und »animales«, der ins Blut dringenden »acrimonia« (Schärfen), besonders derjenigen der Galle, eine Rolle spielen. Seine Therapie besteht, entsprechend diesen Ansichten, hauptsächlich aus Brech- und Abführmitteln und sogenannten Alterantia (umstimmenden Mitteln). Sein Schüler Thomas Willis (1622 bis 1675) erweiterte die Theorien des Meisters, indem er hauptsächlich die Wirkung der »Spiritus« in den Vordergrund stellte und sie als feine Körper, tropfbare Flüssigkeit auffasste, auch von einer »Dyskrasie« derselben spricht, die zu einer abnormen Thätigkeit der Nerven führen kann, welche von fieber haften Erscheinungen begleitet ist. Willis hat zuerst den Begriff des »Nervenfiebers« gebildet. – Die iatrophysische Richtung fand besonders in Italien ihre Anhänger. Als Begründer derselben gilt Santorio Santoro (Sanctorius, 1561–1636), dessen »Ars de statica medicina« die Resultate 30 jähriger exakter Versuche mit Thermometer, Hygrometer, Wage über die physikalischen Verhältnisse des Körpers enthält und vor allem den Begriff der schon den Alten[15] (Theophrast) bekannten »Perspiratio insensibilis« genau bestimmt, deren Unterdrückung viele Krankheiten verursache, so dass Sanctorius vor allem Diaphoretica in solchen Fällen empfahl. – Neben Lorenzo Bellini (1643 bis 1704; Anatomie der Nieren; Blutstockung Hauptursache der Krankheiten) ist der hervorragendste Nachfolger des Sanctorius: Giorgio Baglivi (1668 bis 1707), Professor in Rom, der die ganze Medizin in Physik auflöste, das Gefässsystem mit hydraulischen Maschinen, die Atmung mit der Thätigkeit eines Blasebalges, die Drüsen und Eingeweide mit Sieben verglich. Die Bewegung hängt von einem Nervenprinzip ab. In der Praxis war Baglivi in keiner Weise Theoretiker, sondern Anhänger eines rationell empirischen Verfahrens.

Dieser letztere Standpunkt wird am reinsten vertreten durch die dritte medizinische Richtung, die Hippokratiker, als deren Prototyp Thomas Sydenham (1624–1689) anzusehen ist. Ein echter Praktiker tritt er in seinen Schriften für sorgfältige klinische Beobachtung, genaue objektive Untersuchung des Kranken ein und empfiehlt vor allem diätetische Behandlungsmethoden. Er lieferte vortreffliche symptomatologische Diagnostiken (Rheumatismus, Gicht, Krupp, Pleuritis, katarrhalische Pneumonie, Erysipel, Hysterie) und differenzierte die Symptome nach ihrer Ätiologie in die wesentlichen (als eigentliche Folge der Materia peccans), die accidentellen (Folge des Heilbestrebens der Natur) und die artifiziellen (Folge des ärztlichen Eingreifens). Zum erstenmale findet sich bei diesem genialen Arzte der Begriff des Krankheitsprozesses. Die epidemiologischen und Witterungseinflüsse werden ausgiebig berücksichtigt (»Constitutio epidemica«; Frühlings-, Sommer- u.s.w. Krankheiten). Als Therapeut bediente er sich neben der Diätetik hauptsächlich des Aderlasses, des Opium und der Abführmittel. – Mit den Hippokratikern des 17. Jahrhunderts beginnt auch die Zeit der klinischen Monographien und kasuistischen Sammelwerke, durch welche seitdem das Studium der einzelnen Krankheiten so sehr gefördert worden ist. So hat ein Landsmann Sydenham's, Richard Morton (1635–1698), ein glücklicher Praktiker, sich durch seine berühmte »Phthisiologia seu exercitationes de phthisi libri III« (1689), welche zahlreiche Krankengeschichten enthält, grosse Verdienste um die Lehre von der Lungenschwindsucht erworben. Ebenso enthält seine »Pyretologie« sehr interessante kasuistische Mitteilungen über Fieber und akute Infektionskrankheiten. Morton empfahl auch die Chinarinde als vortreffliches Heilmittel bei Fiebern. Zu gedenken ist auch der Sammlung kasuistischer Beobachtungen von G.M. Lancisi (1654–1720) sowie der »Monita et praecepta medica« (1751) von Richard Mead (1673–1754), einem Anhängers von Sydenham, der auch über die Pest in kontagionistischem Sinne schrieb. Die Monographien des 17. Jahrhunderts erstreckten sich sogar schon auf die Krankheiten einzelner Stände und Berufsarten. Die bedeutendste Abhandlung über dieses Gebiet lieferte Bernardino Ramazzini (1633–1714) in seiner »De morbis artificum diatribe«. – Die Chirurgie und Geburtshilfe des 17. Jahrhunderts fanden ihre hervorragendsten Vertreter in Fabritz von Hilden (1560–1634), der schon einen Eisensplitter mittels des Magneten aus[16] dem Auge extrahiert, in François Mauriceau (1637–1709), erstem Geburtshelfer an der Maternité des Hôtel-Dieu in Paris, der sein riesiges Beobachtungsmaterial in den beiden Werken »Traité des maladies des femmes grosses« und »Observations sur la grossesse et sur l'accouchement« niedergelegt hat, die Wendung auf die Füsse wieder einführte, die Touchirkunst ausbildete und die Therapie des Wochenbettes und der Neugeborenen, sowie eine rationelle Verwertung der Anatomie und Physiologie für die Geburtshilfe beförderte, welchem letzteren Punkte auch Hendrik van Deventer (1651–1724) seine Aufmerksamkeit zuwendete, durch seine Arbeiten über die Anatomie des Beckens. Die Geburtszange soll schon im 17. Jahrhundert von der Familie der Chamberlen erfunden und gebraucht worden sein.

Die Aufklärung und die empiristisch-materialistische Philosophie (Locke, Holbach, La Mettrie) des 18. Jahrhunderts haben die Entwickelung der Naturwissenschaften und der Medizin im ganzen recht günstig beeinflusst. Aber auch ein Idealist wie Leibniz (1646 bis 1716) hat in der Medizin dieses Jahrhunderts Spuren seines Denkens zurückgelassen, indem der sogenannte »Dynamismus« wesentlich sich an die Monadologie anlehnte. Leibniz selbst bekundete stets ein grosses Interesse für die Heilkunde und stand mit den grössten Ärzten in Verkehr. Er wies auf die Bedeutung der Meteorologie für die Medizin hin, regte die Abfassung medizinal-statistischer und hygienischgeographisch-topographischer Berichte an, betonte den Wert der Mathematik, Physik und Mikroskopie für die Medizin, ebenso die Bedeutung medizin-historischer Studien und medizinischer Journale. Am allerwichtigsten scheint ihm die Chemie zu sein, sowohl für die Lehre vom Stoffwechsel als auch für die Pathogenese der Krankheiten. Diese Hilfswissenschaften der Medizin nahmen übrigens im 18. Jahrhundert bereits einen glänzenden Aufschwung dank der Thätigkeit eines Euler, Bernouilli, Newton, Franklin, Galvani, Volta, G.E. Stahl, Priestley, Lavoisier, Scheele, Hales u.a. Hierher gehört auch der Aufschwung der deskriptiven Naturwissenschaften (Linné, Buffon).

Die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts beherrschten in der praktischen Medizin die drei grossen Systematiker Hoffmann, Stahl und Boerhaave. Friedrich Hoffmann (1660–1742), Professor in Halle, hat in seiner »Medicina rationalis systematica« die Vernunft und Erfahrung (Ratio et experimentum) als die beiden Pfeiler der Heilkunde aufgestellt. Die Lebenserscheinungen sind Folgen mechanischer Bewegung, die sich als »Tonus«, als Kontraktion und Dilatation der festen Teile äussert und durch ein vom Gehirn und Blute ausgehendes »Nervenfluidum« hervorgerufen wird. Gestörter Tonus ist Krankheit (Laesio naturalium motuum). Fieber ist Krampf der Gefässe, Magen und Darmkanal haben besondere konsensuelle Beziehungen zum Nervensystem. Ein tonischer Zustand ist ferner die Ursache der Blutungen, Katarrhe, lokalen Entzündungen, Neuralgien. Chronische Krankheiten beruhen auf Atonie. Die Therapie wirkt also durch Antispasmodica, Roborantia, Tonica, Sedativa,[17] Evacuantia, Alterantia. Bei chronischen Krankheiten bediente sich Hoffmann mit Vorliebe der Reizmittel (Wein, Kampher, China, Äther, Hoffmanns Tropfen, Balsamum vitae Hoffmanni und anderer nach ihm benannter Arzneimittel). Hoffmann hat auch die Mineralwässer eingeführt. – Der grosse Gegner Hoffmanns ist Georg Ernst Stahl (1660–1734), Professor in Halle und Leibarzt in Berlin, der Begründer des »Animismus«, welcher die Anima als Erhalter des Organismus und Regulator aller Lebensvorgänge annimmt. Diese Idee wird in seiner Schrift »Theoria medica vera« entwickelt, welche im übrigen bezüglich der Pathogenese der Krankheiten humorale Anschauungen zum Ausdruck bringt und die Plethora als die Hauptursache der meisten Erkrankungen anspricht, gegen welche die Anima die Blutungen als therapeutisches Mittel in Anwendung bringt. Diese Blutstockung sitzt im Kindesalter meist im Kopf, im Jünglingsalter in der Brust und beim Manne in den Bauchorganen. Die wohlthätige Wirkung der Hämorrhoidalblutungen hat Stahl in der Schrift »De venae portae porta malorum hypochondriaco-splenitico-suffocativo-hystericohaemorrhoidariorum« erörtert. Das Fieber ist nach Stahl ein Heilungsvorgang. Er verwirft daher Antifebrilia und wendet mit Vorliebe Evacuantia an. – Der dritte grosse Systematiker des 18. Jahrhunderts ist Hermann Boerhaave (1668–1738), Professor in Leyden, der erste, welcher regelmässigen klinischen Unterricht erteilt und dadurch der »communis totius Europae praeceptor« wurde (Haller). Boerhaaves Hauptwerke sind die berühmten »Aphorismi de cognoscendis et curandis morbis (editio van Swieten)« und die »Institutiones medicae in usus annuae exercitationis domesticos« (von Haller ediert). Boerhaaves System ist ein eklektisches. Seine allgemein biologischen Anschauungen nähern sich denen Hoffmanns, werden aber durch iatrochemische Gedanken modifiziert. Letztere vermischen sich in der Pathologie mit iatrophysischen Ansichten. Den Krankheiten der festen Teile stehen die Säftefehler (Plethora; Acrimonia) gegenüber, oder beide sind kombiniert. Fieber ist eine Folge der gesteigerten Herzkontraktion und vermehrten Widerstandes der Kapillargefässe. Boerhaave bediente sich schon des Thermometers zur Messung der Körpertemperatur. Seine Therapie war im wesentlichen eine diätetischexspektative. – Boerhaaves grosse Bedeutung liegt in der Ausbildung zahlreicher Schüler, vor allem der beiden grössten: van Swieten und Albrecht von Haller.[18]

Gerard van Swieten (1770–1772), Professor in Wien, ist der Begründer der älteren Wiener Schule, der Reformator des medizinischen Unterrichts in Wien, welcher dann für Europa vorbildlich wurde. In seiner Hauptschrift »Commentaria in Hermanni Boerhaave aphorismos de cognoscendis et curandis morbis« findet sich eine reiche Kasuistik. Besonders die Syphilis ist ganz vortrefflich abgehandelt und ihre Therapie durch die nach van Swieten benannte Sublimatlösung (Liquor v. Sw.) bereichert. – Zu den hervorragendsten Mitgliedern der älteren Wiener Schule gehören der von van Swieten berufene Anton de Haën (1704–1776), dessen »Ratio medendi in nosocomio practico Vindobonensi« (1758 bis 1779), ein klinischer Jahresbericht, von dauerndem Werte ist und die ersten systematischen Fiebermessungen und Verwertungen der Sektionsergebnisse für die Klinik enthält, ferner Joseph Leopold Auenbrugger (1722–1809), der Begründer der modernen physikalischen Diagnostik (in seiner Schrift »Inventum novum ex percussione thoracis humani ut signo abstrusos interni pectoris morbos detegendi«) durch die Erfindung der Perkussion, endlich Anton Stoerck (1731–1803), ein bedeutender Pharmakologe und Toxikologe, und Max Stoll (1742–1787), der den sogenannten »biliösen Typus« der Krankheiten (z.B. Biliöse Pneumonie) aufstellte und in seiner »Ratio medendi in nosocomio practico Vindobonensi« (1779 bis 1790) ebenfalls vortreffliche klinische Jahresberichte lieferte.

Der grösste Schüler Boerhaaves ist der geniale Physiologe Albrecht von Haller (1708–1777), Professor in Göttingen, wohl der gelehrteste Arzt seit der Zeit des Galen, dessen auch bibliographisch höchst wertvolle Arbeiten das ganze Gebiet der Medizin und Naturwissenschaften umfassen. Die vorzüglichsten Schriften Hallers sind 1. Die Kommentare zu den Institutionen von Boerhaave (1739–1744); 2. »Primae lineae physiologiae« (1747), ein Lehrbuch der Physiologie; 3. Die »Elementa physiologiae corporis humani« (8 Bde., 1757), das grossartigste Fundamentalwerk über die Physiologie; 4. »Icones anatomicae«; 5. Die grossen »Bibliotheken« (Botanik, Anatomie, Chirurgie), sowie Ausgaben von Klassikern. – Die »Elementa physiologiae« sind die erste systematische, auf eigene Experimente des Verfassers gegründete und die gesamte bisher vorliegende Litteratur erschöpfende Darstellung des Inhaltes der Physiologie. Am meisten ragen darin die Untersuchungen über[19] das Gefässsystem und die Nervenphysiologie hervor. Haller hat den von Glisson (1597–1677) aufgestellten Begriff der Irritabilität genauer definiert. Er wies nach, dass jeder tierische Organismus zwei Formen von Bewegungen aufweist, erstens eine durch blosse Elastizität bedingte, die nicht allein den Muskeln, sondern auch anderen Geweben zukommt, und zweitens die spezifische Kontraktionsfähigkeit der Muskeln, die derselbe auch unabhängig vom Nerveneinfluss besitzt. Letzterer ist der normale Reiz für die willkürliche Bewegung der Muskeln. Auch der Begriff der Sensibilität, des ausschliesslich an die Nerven geknüpften Empfindungsvermögens, stammt von Haller. – Neben und beeinflusst von Haller haben zahlreiche Forscher die anatomischen und physiologischen Disziplinen gefördert. B.S. Albinus (1697–1770), Professor in Leyden, hat sich besondere Verdienste erworben durch seine musterhaft ausgestatteten Ausgaben älterer anatomischer Klassiker (Vesal, Fabricius ab Aquapendente, Eustacchi) und durch seine herrlichen anatomischen Atlanten, sowie durch osteologische und myologische Monographien. G.B. Morgagni (1682–1771) in Padua schrieb vortreffliche »Adversaria anatomica«, ist aber vor allem als Schöpfer der pathologischen Anatomie berühmt, welche in seinem Werke »De sedibus et causis morborum per anatomen indagatis libri quinque« ihre erste systematische Darstellung und Begrenzung erfahren hat. Ferner sind als Anatomen und Physiologen zu nennen Antonio Scarpa (1752–1832; Osteologie, Sinnesorgane, Lehre von den Knochenbrüchen), Domenico Cotugno (1736–1822), Johann Gottfried Zinn (1727 1759; Zonula Zinnii), Johann Friedrich Meckel (1724–1774; Ganglion Meckelii), Joh. Nathanael Lieberkühn (1711 bis 1765; Injektionspräparate; Lieberkühn'sche Krypten), Samuel Thomas von Soemmering (1755–1830; berühmtes Werk »Vom Baue des menschlichen Körpers«, Gehirnanatomie, Atlanten), Caspar Friedrich Wolff (1735 bis 1794; »Theoria generationis«, Gegner der Präformations-, Anhänger der Epigenesislehre), Lazzaro Spallanzani (1729–1799; Verdauungsphysiologie, Bekämpfung der Lehre von der Generatio aequivoca), Stephen Hales (1677–1761; Begründer der Hämostatik), William Hewson (1739–1774; Bewegung und Gerinnung des Blutes) und last not least die beiden Gebrüder Hunter. John Hunter (1728–1793), Professor in London, war einer der grössten Chirurgen und Anatomen seiner[20] Zeit, Gründer des weltberühmten anatomisch-zoologischen Museums (enthielt 14000 Präparate bei Hunters Tode), Schöpfer der experimentellen Pathologie in England, bereicherte die Medizin durch zahlreiche Beobachtungen und Heilmethoden (Hunter'scher Schanker, Gubernaculum Hunteri, Lehre vom Descensus testiculorum, den Herniae inguinales congenitae, Unterbindungsmethode bei Aneurysmen, Studium der Entzündung und des Blutes, der venerischen Krankheiten). – Sein Bruder William Hunter (1718–1783), ebenfalls Professor in London, hauptsächlich Anatom (»Anatomy is the only solid foundation of medicine«), als welcher er zwanzig Jahre an seinem berühmtesten Werke, der »Anatomy of the human gravid uterus« (1774, 34 herrliche Tafeln) arbeitete. Von ihm stammt der Name »Decidua« und die Unterscheidung einer Decidua vera und reflexa. Von Bedeutung sind auch die Bemühungen William Hunters, die Anatomie für die praktische Medizin nutzbar zu machen.

Hallers Lehre von der Sensibilität und Irritabilität beherrschte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sowohl die allgemeine Pathologie als auch die Klinik und gab Anlass zu verschiedenen medizinischen Theorien. Verwertet ist zum Teil die Irritabilitätslehre in dem pathologischen System von H.D. Gaub (1704–1780), welches in seinen berühmten »Institutiones pathologiae medicinales« (1758) enthalten ist. Grundlage der Pathologie ist nach Gaub die Physiologie in Verbindung mit der Anatomie. Krankheit ist Kampf der Natur gegen die Schädlichkeiten, welche sie hervorgerufen haben. Es giebt einfache und zusammengesetzte Krankheiten sowohl der festen Teile wie der Säfte. Die Krasenlehre spielt bei Gaub eine wichtige Rolle. Die Säftekrankheiten sind entweder abnorme Verdünnungen (tenuitas), Verdickungen (tenacitas) oder Schärfen (acrimonia). Die Krankheiten der festen Teile haben zur Ursache eine Rigidität oder Debilität der Faser. Gaub hatte schon richtige Vorstellungen über die Natur der Kontagien. Verderblich war seine krass symptomatologische Auffassung des Krankheitsprozesses. – Nach Pagel (»Geschichte der Medizin« I, 291) kommt die Haller'sche Irritabilitätslehre in drei verschiedenen Richtungen in der klinischen Medizin zum Ausdruck. Ein Teil der Forscher fasste ganz in Widerspruch mit der Hallerschen Theorie die Irritabilität als Folge der Sensibilität auf, d.h. man sah[21] die Reizbarkeit als beginnend mit der Empfindlichkeit an, warf beides als »Nerventhätigkeit« zusammen und baute hierauf die nervosistische Theorie der Krankheit auf (Cullen). Eine zweite Gruppe fasste den Begriff der Reizbarkeit, unter den ebenfalls die Sensibilität subsumiert wurde, bedeutend allgemeiner und verschwommener als Haller (John Brown, und die »Erregungstheorie«). Drittens stellte man Irritabilität und Sensibilität unter die Herrschaft einer höheren Kraft, die alle Lebensvorgänge hervorrufe, der sogenannten »Lebenskraft« (Vitalismus).

Der Begründer des »Nervosismus« ist der Schotte William Cullen (1712 bis 1790), Professor in Edinburg, der mit Alexander Monro (1697–1767; Chirurg und Anatom; Heilung der Hydrocele durch Injektionen) die Edinburger Schule berühmt gemacht hat. In seinen »first lines of the practice of physick for the use of students« entwickelt er den Grundgedanken, dass das Nervensystem die Quelle alles Lebens sei, die Ursache und der Regulator aller biologischen Erscheinungen. Eine Alteration desselben bewirkt auch Veränderungen in den übrigen Körperfunktionen. Das erkrankte Nervenprinzip funktioniert entweder zu stark (Spasmus) oder zu schwach (Atonie). Das letztere ist häufiger als das erstere. Fieber sind meist atonische Krankheiten. »Synocha« nennt Cullen dasjenige Fieber, bei dem die Reaktion von seiten des Nervensystems zu stark ist, »synochus«, bei dem sie weder zu stark noch zu schwach ist. Entzündung ist Folge einer lokalen Reizung. Auch der Rheumatismus ist eine Entzündung. Cullen unterscheidet Nervenkrankheiten im engeren Sinne, örtliche Krankheiten, Geschwülste und in konsequenter Weise Kachexien, die primär ohne Beteiligung des Nervensystems in den Säften entstehen. Cullens Therapie lief auf Stärkung des Nervensystems, Steigerung oder Schwächung der Reaktion, Bewahrung der Säfte vor Fäulnis heraus. Die Medikamente wirken auf die Nerven, namentlich die des Magens. Diätetik ist sehr wichtig. Bei chronischen Krankheiten empfiehlt sich körperliche Übung und Vermeidung der Fleischspeisen. – Ein zweites Produkt der Haller'schen Irritabilitätslehre ist die durch den Schotten John Brown (1735–1788) begründete Erregungstheorie oder der Brownianismus, dargestellt in den »Elementa medicinae« (1778). Brown konstatiert als allgemeine Eigenschaft lebendiger Wesen die »Erregbarkeit« d.h. die Fähigkeit,[22] durch äussere »Reize« zu einer Thätigkeit angeregt zu werden. Die Wirkung des Reizes auf die Erregbarkeit ist die »Erregung«. Leben kann nur bei dem Vorhandensein von Erregbarkeit und von Reizen bestehen, ist also eine Art von künstlichem Zustand, der von den Reizen abhängig ist. Häufige Erregung erschöpft die Erregbarkeit. Seltene Reize führen zu einer Anhäufung von Erregbarkeit. Gesundheit ist also ein mittlerer Grad von Erregbarkeit. Krankheit ist Verminderung oder Anhäufung derselben. Tod ist Folge eines gänzlichen Mangels oder einer übermässigen Anhäufung von Erregbarkeit. Krankheit ist entweder sthenisch (zu heftige Erregung durch zu intensive Reize) oder asthenisch (zu schwache Erregung durch Mangel an Reizen oder durch zu heftige Reize; das erstere ist direkte, das zweite indirekte Asthenie). Die eine sthenische Krankheit hervorrufenden, abnorm starken Reize sind hohe Temperatur, kräftige Nahrung, Fleisch, Wein, Gewürze, Aether, Opium, Moschus, starke Gemütsbewegungen, Gifte, viel Blut, zu reichlicher Chylus u.a. Schwache Reize sind Kälte, vegetarische Ernährung, Mangel an Körperbewegung, Blutungen, Evacuantia u.a. Die meisten Krankheiten sind asthenische. Die Diagnose des sthenischen oder asthenischen Zustandes wird durch Puls, Temperatur u.a. gestellt. Die Therapie verfolgt das Ziel, bei sthenischer Beschaffenheit die Erregung zu vermindern, bei asthenischer sie zu vermehren. – Browns Lehren fanden eine enthusiastische Aufnahme und weitere Ausbildung durch Männer wie Benjamin Rush (1745–1813), Johann Andreas Röschlaub (1768–1835), welcher die »Erregungstheorie« in Deutschland populär machte und sie dahin erweiterte, dass er annahm, dass das Bestehen des Lebens nicht nur von der inneren Irritabilität, sondern von der äusseren Organisation abhängig sei. Der Organismus übt auch auf Reize eine Gegenwirkung aus (Incitabilität). In Italien erfuhr der Brownianismus durch Giovanni Rasori (1762–1837) eine eigentümliche Modifikation in der Lehre vom »Contrastimulo« neben dem Brownschen »Stimulo«. Ähnliche Anschauungen vertrat Giacomo Tommasini (1768–1846).[23]

Der Vitalismus fand besonders in Montpellier eine Heimstätte. Schon Sauvages (1706–1767) hatte den Versuch gemacht, die Stahl'sche »Anima« und die hippokratische φύσις mit einander zu verbinden. Wichtiger ist seine »Nosologia methodica sistens morborum classes juxta Sydenhami mentem et botanicorum ordinem« durch die Systematisierung der speziellen Pathologie und Therapie (I. Vitia, II. Fieber, III. Entzündungen, IV. Krämpfe, V. Krankheiten mit Atembeschwerden, VI. Debilitates, VII. Dolores, VIII. Psychosen, IX. Widernatürliche Ausflüsse, X. Kachexien). Théophile Bordeu (1722–1776) ist der hauptsächlichste Theoretiker des Vitalismus, der die hippokratische φύσις als »La nature« wieder auferstehen lässt, welche ihren Sitz in allen Teilen und Organen hat und ihnen die ihnen eigentümliche Organisation und Funktion erteilt. Auf diese Funktion und Organisation der einzelnen Teile und ihre Abhängigkeit von der Organisation eines Keimes aufmerksam gemacht zu haben, ist das grosse Verdienst Bordeus, der die Wichtigkeit der Kenntnis der Zusammensetzung der einzelnen Teile wohl erkannte. Die Werke Bordeus wurden von Anselm Richerand (1779–1840) herausgegeben, von dem der Ausdruck »Force vitale« stammt. Ein Schüler von Bordeu war ferner Paul Joseph Barthez (1734 1806). Er bezeichnet in seinen »Nouveaux éléments de la science de l'homme« (1778) als Ursache aller Lebenserscheinungen das »principe vital«, das jedem Teile die ihm eigentümliche Sensibilität und Beweglichkeit erteilt. Jeder Teil hat aber auch eine »Force de Situation fixe« d.h. die Eigenschaft, die ursprüngliche Lage und Ausdehnung zu bewahren bezw. bei Veränderungen dahin zurückzukehren. Philippe Pinel (1755–1826), der berühmte Reformator der Psychiatrie, hat in seiner »Nosographie philosophique« (1789) die analytische Methode in die pathologische Forschung eingeführt, d.h. die Krankheiten und ihre Symptome analytisch bis in ihre letzten Elemente, die Erkrankungen der einzelnen Teile der Organe und der Gewebe, verfolgt. Was Pinel nur unvollkommen ausführte, hat Franz Xaver Bichat (1771–1802), Arzt in Paris, vollendet. Er ist der Begründer der allgemeinen Anatomie, der Lehre von den Geweben im gesunden und kranken Zustande. Bichat teilt die Lebensvorgänge[24] ein in animale (Empfindung und Bewegung) und organische (Verdauung, Ernährung, Fortpflanzung), wie dies in seinen »Recherches physiologiques sur la vie et la mort« (1801) im einzelnen ausgeführt ist. Sein Hauptwerk ist die »Anatomie générale appliquée à la physiologie et à la médicine« (1801), in dem er 21 einfache Gewebe unterscheidet und zeigt, dass in den einzelnen Organen nur einzelne Gewebe erkranken können und dass die einzelnen Gewebe in bestimmter Weise erkranken.

Die praktische Medizin des 18. Jahrhunderts hat trotz der Herrschaft der Systeme sich erfreulich weiter entwickelt. Johann Peter Frank (1745–1821), Verfasser des »Systems einer medizinischen Polizei« verfasste ein lange Jahre weitverbreitetes Lehrbuch der klinischen Medizin »De curandis hominum morbis epitome« (1792), das hippokratisch-sydenhamische Grundsätze vertritt. John Huxham (1694–1768) erwarb sich um die Lehre von den epidemischen Krankheiten und akuten Exanthemen grosse Verdienste. Ausgezeichnete Praktiker waren Paul Gottlob Werlhof (1699–1767; Morbus Werlhofii), Nils Rosén von Rosenstein (1706–1773; Kriebelkrankheit), Everard Home (1763–1832; Krupp), John Pringle (1707–1782; Militärmedizin), Johann Georg Zimmermann (1728 bis 1795; Ruhr, »Erfahrung in der Arzneikunst«), J.J. Plenck (1738–1807; berühmtes Lehrbuch der Hautkrankheiten), Joh. Ernst Wichmann (1740–1802; Aetiologie der Krätze), Simon André Tissot (1728–1797; Epilepsie, Onanie), John Fothergill (1712–1780; Tic douloureux) u.a. Vor allem glänzt hier der Name Edward Jenners (1749–1823), des Entdeckers der Kuhpockenimpfung (1796).

Unter den berühmten Chirurgen und Geburtshelfern des 18. Jahrhunderts sind zu nennen Jean Louis Petit (1674–1750; Knochenkrankheiten), Pierre Joseph Desault (1744–1795; Begründer der chirurgischen Anatomie), François Chopart (1743–1795; Chopart'sche Fussresektion), Antoine Louis (1723–1792; Speichel- und Thränenfistel, Bronchotomie, Fungus durae matris), Lorenz Heister (1683–1758; Reformator der deutschen Chirurgie), Zacharias Platner (1694–1747), Christian Ludwig Mursinna (1744–1823); Samuel Schaarschmidt (1709–1747; Militärchirurgie), J. Chr. A. Theden (1714–1797), Joh. Goercke (1750–1822; Gründer der Berliner Pepinière), der berühmte August Gottlieb Richter (1742–1812), Professor in Göttingen, dessen »Anfangsgründe der Wundarzneikunst« (1782–1804) das beste Lehrbuch der[25] Chirurgie in jener Zeit waren, William Cheselden (1688–1752; Sectio alta), Charles White (Resektion des Oberarmkopfes), Percival Pott (1713–1788; malum Pottii), Benjamin Bell (1749–1806; Lehre von den Geschwüren), Michele Troja (1747 bis 1827; Regeneration der Knochen; Augenkrankheiten als Spezialdisziplin), Jean Louis Baudelocque (1746 bis 1810; Beckenmessung), William Smellie (1680 bis 1763; Smellie'scher Handgriff), Thomas Denman (1733 bis 1815; künstliche Frühgeburt, spontane Wendung), Johann Georg Roederer (1726–1763; Geburtshindernisse, Anatomie des Fötus, Lehrbuch der Geburtshülfe), G.W. Stein der Ältere (1737–1803; Verbreitung der Zange), während mit Lukas Joh. Boër (1751 bis 1835) in Wien bereits eine neuere Periode beginnt.

Der Uebergang vom 18. zum 19. Jahrhundert vollzieht sich vor allem unter dem Einflusse der Philosophie (Kant), speziell der Naturphilosophie (Schelling, Steffens, Ringseis u.a.), sowie unter demjenigen der chemischen und galvanischen Theorien (Fourcroy, Beddoes, Rollo, Baumès, Joh. Chr. Reil u.a.), endlich des Mesmerismus und der Homöopathie, kurz die theoretisch-mystisch-philosophische Richtung gewinnt in erschreckendem Masse das Übergewicht.

Die Homöopathie wurde begründet durch Samuel Hahnemann (1755 bis 1843), der aus einer Notiz in Cullens »Materia medica« über die wechselfieberähnliche Symptome hervorrufende Wirkung der Chinarinde die Anregung zur Aufstellung seines Systems empfing, dessen Kern der Gedanke ist, dass die Wirksamkeit der Arzneimittel darauf beruht, dass sie ähnliche Symptome, wie[26] die betreffende Krankheit selbst, hervorrufen. Das Axiom der Homöopathie lautet: Similia similibus. Besonders diejenigen Medikamente sind als Heilmittel anzusehen, welche schon im gesunden Individuum den betreffenden Krankheiten ähnliche Symptome hervorrufen. Der weitere Ausbau dieser Lehre findet sich in den drei Haupt werken Hahnemanns, dem »Organon der rationellen Heilkunde« (1810), den »chronischen Krankheiten, ihre eigentümliche Natur und homöopathische Heilung« und der »Reinen Arzneimittellehre« (1811 1820). Jede Krankheit ist nach Hahnemann Verstümmelung der Lebenskraft. Des Arztes Aufgabe ist das Heilen, das sich mit Kenntnis der blossen Krankheitssymptome begnügen darf. Versuche an Gesunden belehren über die Symptome, welche die Medikamente im Körper hervorrufen. Der alten Art der Heilung, einen dem krankhaften Zustand entgegengesetzten hervorzurufen (»Contraria contrariis«, Allöopathie) setzt Hahnemann die Homöopathie entgegen, d.h. die Methode, durch ein Arzneimittel einen dem vorhandenen Krankheitszustand möglichst ähnlichen zu erzeugen, um die Lebenskraft umzustimmen. Zu diesem Zwecke müssen die Symptomenkomplexe der einzelnen Krankheiten und die durch Medikamente hervorgerufenen Symptome sorgfältig studiert werden. Auch muss man Arzneigemische vermeiden und nur einfache Arzneien anwenden. Letztere wirken am besten in möglichst grosser Verdünnung. Hahnemann lässt aus den »Urtinkturen«, kräftigen spirituösen Extrakten des Mittels, die Verdünnungen herstellen. Je verdünnter, »potenzierter«, desto wirksamer ist das Mittel und kann erst dann seine eigentliche »Dynamis« entfalten. Bei flüssigen Substanzen empfiehlt Hahnemann die 30. Potenz: 2 Tropfen der Urtinktur werden mit 98 Tropfen Spiritus verdünnt, hiervon 1 Tropfen mit 99 Tropfen Spiritus verdünnt u.s.f., das Ganze 30 mal. Bei trockenen Substanzen verreibt man ähnlich mit Milchzucker. –[27] Aus der allgemein-pathologischen Anschauung Hahnemanns ist noch bemerkenswert, dass er die chronischen Krankheiten auf drei Haupterscheinungsformen zurückführt: 1. Syphilis, 2. Feigwarzenkrankheit (Sykosis), gegen die Thujasaft in decillionfacher Potenz nützt, 3. Psora, eine alte Erbkrankheit der Menschheit.

Nicht viel besser als dieser Magier der Materie hausten auf dem Gebiete der Medizin die naturphilosophischen Ärzte wie Lorenz Oken (1779–1851), der Gründer der Naturforscherversammlungen, der aber doch um die Embryologie einige Verdienste sich erwarb, Salomo Steinheim (1789 bis 1866), K.W. Stark (1787–1845) u.a., während andere zur Naturphilosophie neigende Ärzte wie K.F. Kielmeyer (1765 bis 1844), der Lehrer Cuviers, Ignaz Döllinger (1770 bis 1841), Chr. H. Pander (1794 bis 1865), K.F. Burdach (1776–1847), C.G. Carus (1789 bis 1869), Emil Huschke (1797 bis 1858) besonders auf dem Gebiete der Anatomie und Embryologie bedeutende Leistungen aufzuweisen haben. Als ein Zweig der naturphilosophischen Richtung in der Medizin muss auch Franz Joseph Gall's (1758–1828) Schädellehre (Kranioskopie, Phrenologie) betrachtet werden, die nicht nur jede einzelne Verstandes- und Gefühlsäusserung in einzelnen Teilen des Gehirns lokalisierte, sondern auch eine jedem einzelnen Gehirnteil entsprechende Beschaffenheit des über ihm liegenden Teiles des Schädels annahm. So solle man durch Betrachtung und Betastung des[28] Schädels Aufschlüsse über die geistige und moralische Individualität des Menschen gewinnen können, eine Lehre, die von Joh. Christoph Spurzheim (1776–1832) weiter ausgebildet wurde. Nicht unerwähnt bleibe Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840), der Schöpfer der neueren Anthropologie. Unter den Forschern dieser Periode auf dem Gebiete der Anatomie und Physiologie sind zu nennen Christian Gottfried Ehrenberg (1795–1876), verdienter Mikroskopiker, dessen Schrift »Die Infusionstierchen als vollkommene Organismen« (1838) für die Entwickelung der Bakteriologie von Bedeutung ist, ferner Charles Bell (1774–1842), der in seinem Buche »An idea of new anatomy of the brain etc.« (1811) den Nachweis führte, dass die hintern mit einem Ganglion versehenen Wurzeln der Spinalnerven allein die Empfindung, die vordem allein die Bewegung vermitteln. Sein Landsmann Marshall[29] Hall (1790–1857) lieferte ebenfalls die wichtigsten Beiträge zur Physiologie des Nervensystems. Vor allem ist ihm die Entdeckung der Reflexbewegungen zu danken. Ferner untersuchte er die Wirkung des Strychnins, die Physiologie der Sprache, schrieb Abhandlungen über den Mechanismus des Erbrechens, die künstliche Respiration, das Hydroencephaloid der Kinder u.a.m. Thomas Young (1773–1829), ein ärztlicher Polyhistor und bedeutender Physiker sowie Aegyptologe, hat die Lehre von der Accommodation des Auges gefördert und andere wertvolle Beiträge zur Physiologie des Auges geliefert. In der praktischen Medizin ist vor allem zu gedenken des Vaters der sogen. »physiol. Medizin«[30] Fr. J.V. Broussais (1772–1838) in Paris, einer Richtung, die jedoch durch die physikal. Untersuchungsmethode glücklicherweise sehr bald überwunden wurde. Ihre Begründer sind J.N. Corvisart (1755–1821; Erneuerer der Perkussion), René Théophile Hyacinthe Laënnec (1781–1826), der durch sein Werk »De l'auscultation médiate« die Lehre von der Auskultation begründete, G.L. Bayle (1774–1816; »Recherches sur la phtisie pulmonaire« 1810), L.J.B. Cruveilhier (1791–1874; berühmter pathologischer Anatom), Paul Brétonneau (1771–1862; klassische Arbeiten über Diphtherie), P. Ch. A. Louis (1787–1872; medizinische Statistik; Arbeiten über Typhus), M. Baillie (1761–1823; pathologischer Anatom). In der Chirurgie: John Abernethy (1764–1831; Unterbindung der Iliaca externa), Astley Cooper (1768–1841), Professor in London, einer der grössten Operateure (Unterbindung der Aorta abdominalis), dessen Lehrbuch »The first lines of the practice of surgery« (1813) sich weiter Verbreitung erfreute, John Cheyne (1777–1836; Pädiater, Cheyne-Stokes'sches Phänomen), K.F. von Graefe (1787–1840; partielle Resektion des Unterkiefers, Unterbindung des Truncus anonymus, Wiederbelebung der plastischen Operationen, Studien über Angiektasien, ägyptische Augenkrankheit, Gaumennaht, Lithotripsie, Erfinder des Compressoriums der Meningealarterien, des Ligaturstäbchens), Johann Friedrich Dieffenbach (1792–1847), Professor in Berlin, einer der grössten Chirurgen aller Zeiten, der der Schöpfer der modernen plastischen Chirurgie genannt werden kann (»Chirurgische Erfahrungen, besonders über die Wiederherstellung zerstörter Teile des menschlichen Körpers nach neuen Methoden« Berlin 1829 bis 1834), auch die Lehre von der Bluttransfusion bedeutend gefördert hat, die Methode der subkutanen Tenotomie vervollkommnete und vor allem durch die Schieloperation (»Über das Schielen und die Heilung desselben durch die Operation« Berlin 1842) sich die grössten Verdienste erwarb. Ein klassisches Werk ist seine »Operative Chirurgie« (Leipzig 1845–1848, 2 Bde.). Dieffenbach erlebte noch den Anfang einer neuen Periode in der Chirurgie, die durch die Entdeckung der anästhesierenden Wirkung des Äthers inauguriert wurde. William Thomas Green Morton (1819–1868), ein amerikanischer Zahnarzt in Boston, hatte nach verschiedenen Versuchen am 30. September 1846 die erste glückliche Äthernarkose bei einer Zahnextraktion vollzogen und diese Methode auch mit Erfolg bei grösseren Operationen angewendet. Sir William Lawrence (1783–1867), Professor in London, entfaltete eine glänzende Lehrthätigkeit und publizierte zahlreiche Arbeiten auf dem Gebiete der Chirurgie und Ophthalmologie; Benjamin Travers (1783–1858), Chirurg und Ophthalmolog, führte den Gebrauch der Mercurialien bei Iritis ein, studierte die Vorgänge nach Unterbindung grösserer Gefässe, die Darmeinklemmung, versuchte[31] in seinen Schriften »An inquiry into that disturbed state of the vital functions usually denominated constitutional irritation« (1824) und »A further inquiry, concerning constitutional irritation and the pathology of the nervous system« (1834) ein rationelles System der chirurgischen Pathologie zu errichten. James Wardrop (1782–1869) vervollkommnete die Brasdorsche Methode der Operation des Aneurysma (»On aneurism and its cure by a new Operation« 1828) und hat die pathologische Anatomie des Auges begründet »An essay on the pathology (morbid anatomy) of the human eye« 2 Bände, (Edinb. 1808). Endlich ist noch zu nennen der geniale Guillaume Dupuytren (1778–1835) in Paris, einer der bedeutendsten Chirurgen des 18. Jahrhunderts.

Als Begründer der modernen Toxikologie und einer neuen Aera der gerichtlichen Medizin ist M.J.B. Orfila zu betrachten (1787 bis 1853). Seine beiden Hauptschriften sind der »Traité de toxicologie générale« (1813–1815) und der »Traité de médecine légale« (1818). Orfila hat bereits den neuerdings wiedererkannten Arsengehalt des menschl. Körpers nachgewiesen.

Unter den deutschen Klinikern und Praktikern aus der Übergangszeit vom 18. zum 19. Jahrhundert sind noch zu nennen J.H.F. von Autenrieth (1772 bis 1835), Professor in Tübingen, der bedeutendste Schüler J.P. Franks, ein tüchtiger Anatom und Physiolog, der auch am Krankenbette der objektiven Beobachtung und Untersuchung huldigte. Der Name »Abdominaltyphus« stammt von ihm. Sein »Handbuch der speziellen Nosologie und Therapie« (1831–1836, 2 Bände) war sehr beliebt. Wohl der erstaunlichste[32] Eklektiker war Christoph Hufeland (1762–1836), dessen berühmtes »Journal der praktischen Arzneikunde« (1795–1841, 98 Bände) ein Tummelplatz sämtlicher medizinischer Richtungen und Systeme war. Das grösste Verdienst Hufelands war sein Eintreten für die Vaccination (»Aufforderung an alle Ärzte Deutschlands in betreff der Kuhpocken« 1801; Gründung eines Impfinstitutes in Berlin) sowie seine »Stiftung für notleidende Ärzte und Ärztewitwen«. Die berühmtesten Schriften Hufelands sind die »Ideen über Pathogenie« (1795), die »Makrobiotik« (1796) und das »Encheiridion medicum« (1836). – Vorzüglich als glücklicher Praktiker weit und breit bekannt war Ernst Ludwig Heim (1747–1834), »der alte Heim«, Arzt in Berlin, der grösste Diagnostiker seiner Zeit. – Peter Krukenberg (1788 bis 1865), Professor in Halle, war einer der hervorragendsten Kliniker, ebenfalls Eklektiker, der die exakten Untersuchungsmethoden in seiner deswegen berühmten Klinik in vollem Umfange zur Anwendung brachte.

Zum Schlusse ist noch eines Mannes zu gedenken, der auch für die Medizin und ihre theoretischen Grundlagen von grösster Bedeutung ist. Charles Darwin (1809–1882), der berühmte Verfasser der »Entstehung der Arten« und Urheber der Descendenztheorie, die nicht bloss für die Embryologie, sondern auch für die allgemeine Pathologie neue Standpunkte und Probleme geschaffen hat.[33]

Quelle:
Pagel: Biographisches Lexikon hervorragender Ärzte des neunzehnten Jahrhunderts. Berlin, Wien 1901, S. IV4-XXXIV34.
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