2. Der Wesensbegriff der Substanz und des Akzidentellen

[97] Als wir im Eingang die verschiedenen Bedeutungen der Substanz unterschieden, stellte sich uns als die eine dieser Bedeutungen das begriffliche Wesen dar. Dieses müssen wir nun näher ins Auge fassen. Zuerst also wollen wir davon eine ganz allgemeine Bestimmung geben, nämlich die, daß das begriffliche Wesen für jeden Gegenstand das ist, was als das Ansich desselben bezeichnet wird. So bedeutet der Wesensbegriff einer Person nicht das Kunstverständig-sein; denn kunstversändig ist man nicht seinem an sich seienden Wesen nach. Das was einer an sich ist, das also ist sein begriffliches Wesen. Indessen doch nicht alles, was »an sich« heißt. Nicht das Ansich von der Art, wie es bei der Fläche vorkommt, die »an sich« etwas Weißes ist, während der Körper weiß nur durch die Fläche ist; denn Fläche-sein ist nicht Weiß-sein. Aber auch die Vereinigung beider Bestimmungen, der Begriff »weiße Fläche«, ist nicht der Wesensbegriff der Fläche. Und weshalb nicht? Weil hier in der Bestimmung das zu Bestimmende selbst enthalten ist. Ein begrifflicher Ausdruck für das Objekt also, in dem das zu bestimmende Objekt nicht selbst enthalten ist, das ist für jedes Objekt der Ausdruck seines Wesensbegriffes. Und auch wenn der Begriff der weißen Fläche so erklärt wird: sie sei die ebene Fläche, so würde das nur das eine bedeuten, daß Weiß-sein und Eben-sein ein und derselbe Begriff ist.

Nun gibt es solche Verbindung von Subjekt und Prädikat auch im Sinne der anderen Kategorien; denn eine jede derselben, Qualität und Quantität, Zeit,[97] Ort und Bewegung, erfordert ein Substrat. Da ist nun die Frage, ob es für jede solche Verbindung einen Ausdruck des Wesensbegriffes gibt, und ob auch ihnen ein begriffliches Wesen zugrunde liegt, z.B. für den blassen Menschen ein Wesensbegriff des Blasser-Mensch-seins. Gesetzt, es gäbe für »blasser Mensch« einen einfachen Ausdruck, etwa das Wort »Gewand«. Was bedeutet dann das »Gewand-sein«? Zu dem, was als An-sich-seiendes ausgesagt wird, gehört doch gewiß auch dies nicht. Indessen man versteht allerdings unter dem Nicht-an-sich-Sein ein Zweifaches: erstens ist etwas nicht an sich, weil es an einem Substrat Akzidens ist, zweitens aber auch, ohne daß dies der Fall ist. Das eine Mal nämlich heißt etwas nicht an sich seiend, sofern es einem andern anhaftet, was dadurch näher bestimmt wird; das wäre z.B. der Fall, wo jemand den Begriff des Blaß-seins als »blasser Mensch« definieren wollte. Das andere Mal heißt etwas ein nicht an sich Seiendes, sofern im Gegenteil ein anderes ihm anhaftet; so wäre es z.B., wenn jemand »Gewand«, das statt »blasser Mensch« gesetzt ist, als das Blasse definieren wollte. Ein blasser Mensch ist freilich etwas Blasses; aber er ist doch nicht das begriffliche Wesen des Blaß-seins selber.

So bleibt die Frage: bedeutet das »Gewand-sein« ein begriffliches Wesen? bedeutet es dies schlechthin? Doch wohl nicht. Denn das begriffliche Wesen erfordert bestimmtes einzelnes Sein; wo aber das eine von dem anderen ausgesagt wird, da haben wir es nicht mit bestimmtem einzelnem Sein zu tun. So ist der blasse Mensch nicht bestimmtes einzelnes Sein, wenn doch solche bestimmte Einzelheit nur dem zukommt, was selbständig für sich besteht. Mithin ist das begriffliche Wesen jedesmal nur für das gegeben, wofür der Ausdruck die Bedeutung einer Definition hat.

Eine Definition aber ist nicht schon jedesmal gegeben, wo die Bezeichnung und der Begriff zusammenfällt; sonst müßten alle Bezeichnungen auch Definitionen sein. Denn einen Ausdruck gibt es für jeden Begriff, und so würde denn auch das Wort »Ilias« eine Definition bedeuten. Sondern eine Definition ist erst da gegeben, wo ein Ursprünglichstes bezeichnet wird; das aber findet nur da statt, wo die Aussage nicht so geschieht, daß bloß eines als Bestimmung an einem anderen ausgesagt wird.

Demnach ist das begriffliche Wesen für keinen Gegenstand in anderer Weise vorhanden als so, daß eine Art der betreffenden Gattung untergeordnet wird. Denn da liegt offenbar ein ganz anderes Verhältnis vor als das des bloßen Teilhabens an dem anderen oder des Zustandes eines anderen, und es wird dabei auch nicht eines als bloße Bestimmung von einem anderen ausgesagt.[98] Allerdings gibt es von jedem Gegenstande, wie von allem anderen, sofern es dafür überhaupt einen Ausdruck gibt, auch eine Aussage über das Wesen: daß dieses Prädikat diesem Subjekt zukommt, oder auch statt der einfachen Bezeichnung eine eingehendere Beschreibung. Aber das ist noch keine Definition und bezeichnet auch nicht das begriffliche Wesen.

Nun spricht man freilich auch von der Definition ebenso wie von dem Wesen eines Gegenstandes in mehrfacher Bedeutung. Das Wesen bedeutet in dem einen Sinne die Substanz und das Einzeldasein, im anderen Sinne jede andere Art von Aussage: Qualität und Quantität und was es sonst dergleichen gibt. Denn wie das Sein allem zukommt, aber nicht allem in gleichem Sinne, sondern dem einen in ursprünglicher, dem anderen in abgeleiteter Weise, so kommt auch das Wesen der Substanz schlechthin zu, und dem anderen nur in bedingtem Sinne. Denn auch von der Qualität läßt sich das Wesen angeben; also ist auch die Qualität eine Wesensart, wenn auch nicht schlechthin. Es ist damit gerade wie mit dem Nichtseienden. Wie in bezug auf das Nichtseiende manche dem Wortausdruck sich anschließend sagen, auch das Nichtseiende »sei«, wenn auch nicht schlechthin, sondern es sei als Nichtseiendes, so ist es auch mit der Qualität. Gewiß nun muß man auch das wohl im Auge behalten, wie man sich über jedes auszudrücken hat, aber sicherlich mindestens ebenso sehr, wie sich die Sache wirklich verhält.

Soweit wird die Sache durch unsere Erörterung klar gelegt worden sein. Wir können nun das Ergebnis so ausdrücken: auch das begriffliche Wesen kommt ursprünglich und schlechthin nur der Substanz zu, weiter aber auch dem was nicht Substanz ist, und das gleiche gilt von der Wesensbestimmtheit, die nicht das begriffliche Wesen schlechthin, sondern das begriffliche Wesen der Qualität oder der Quantität bedeutet. Denn ein Sein muß man diesen Wesensbestimmungen jedenfalls zuschreiben, entweder so, daß bloß das Wort Sein dabei dasselbe bleibt und seine Bedeutung wechselt, oder so, daß noch ein Prädikat für das Sein hinzugefügt oder abgelehnt wird, etwa in dem Sinne, wie auch das Nicht-Erkennbare ein Erkennbares ist. Das Richtige allerdings ist weder, daß bloß das Wort das gleiche ist, noch die Bedeutung völlig die gleiche ist, sondern ein Verhältnis, wie es etwa im Sprachgebrauche beim Worte »medizinisch« vorliegt. Das Wort wird zwar immer in bezug auf eines und dasselbe verwandt, ohne doch immer eines und dasselbe zu bedeuten, aber keineswegs so, als wäre bloß das Wort dasselbe. So gebraucht man das Wort »medizinisch« vom Körper, von der Operation und vom Geräte; dabei ist doch nicht bloß das Wort das gleiche,[99] auch die Bedeutung nicht eine völlig übereinstimmende, sondern nur die Beziehung auf eines und dasselbe bleibt die gleiche.

Indessen, ob einer vorzieht sich darüber so oder so auszudrücken, darauf kommt nichts an. So viel ist offenbar, daß die Definition im ursprünglichen Sinne, die Definition schlechthin und das begriffliche Wesen nur dem selbständig Bestehenden gilt, und sofern es auch dem andern gilt, dann doch nicht in ursprünglichem Sinne. Denn es ist keine Notwendigkeit, wenn wir dies zugeben, daß eine Definition jedesmal da vorliege, wo die Bezeichnung mit dem Begriffe zusammenfällt; es kommt auf die bestimmte Art der Bezeichnung an. Sie liegt nur dann vor, wenn die Bezeichnung eine innere Einheit und nicht bloß einen äußeren Zusammenhang, wie er etwa in der Ilias vorhanden ist, oder eine äußere Verbindung betrifft, sondern die Einheit in einer der Bedeutungen, die dieses Wort da hat, wo man es in strengem Sinne nimmt. Das Wort Eins aber wird gebraucht wie das Wort Seiendes. Das Seiende bezeichnet einmal das konkrete Einzelwesen, das andere Mal die Quantität und dann wieder die Qualität. Insofern gibt es denn auch einen Begriff und eine Definition vom blassen Menschen und vom Blassen, aber in anderem Sinne als von dem selbständig bestehenden Gegenstand.

Wenn man nun aber die Erklärung eines Akzidens, das der Substanz beigelegt wird, nicht will als Definition gelten lassen, so erhebt sich in bezug auf die Gegenstände, die überhaupt nicht einfach, sondern untrennbar mit anderen verbunden sind, die Frage, für welche von diesen es wohl eine Definition gibt. Denn hier kann die Begriffsbestimmung gar nicht anders als durch solche Beilegung vollzogen werden. Als Beispiel diene eine Nase und die Nasenhöhle, und die Stumpfnase als das, worin beides mitgesetzt ist. Hier ist das eine an dem anderen, und zwar ist die Hohlheit oder die Stumpfheit eine Eigenschaft der Nase nicht als ein äußerlich Hinzukommendes, sondern sie ist es an und für sich, ihrem Begriffe nach, also nicht so wie das Prädikat »blaß« dem Kallias oder wie es »einem Menschen« deshalb zukommt, weil Kallias, dem das Menschsein zugefallen ist, blaß ist, sondern wie »männlich« sich zu Tier, »gleichgroß« sich zu Quantität verhält, überhaupt wie alles das, was man als an und für sich einem anderen zukommend bezeichnet. Dahin gehört alles, was den Begriff oder die Wortbezeichnung für den Begriff schon in sich schließt, dessen Bestimmung es ist, und was sich gar nicht getrennt von diesem verstehen läßt. So kann das Blaß-sein wohl ohne das Mensch-sein verstanden werden, nicht aber das Weiblich-sein ohne das. Tier-sein. Von derartigem nun gibt es entweder überhaupt keinen Wesensbegriff[100] und keine Definition, oder wenn doch, dann gibt es sie wie oben auseinandergesetzt, in anderem Sinne.

Nun erhebt sich aber über denselben Gegenstand eine weitere Frage. Gesetzt nämlich, eine stumpfe Nase und eine hohle Nase sei ein und dasselbe, dann ist auch Stumpfsein und Hohlsein dasselbe. Ist dies aber nicht der Fall, dann darf man, weil es unmöglich ist, das Stumpfnasige zu bezeichnen, dessen Bestimmung es an und für sich ist – denn stumpfnasig heißt eine Art des Hohlseins an der Nase –, die Nase nicht stumpfnasig nennen, oder wenn man sie doch so nennt, so verdoppelt man nur die Bezeichnung: eine hohlnasige Nase; denn die stumpfe Nase bedeutet dann eine Nase, welche hohlnasig ist. Daraus ergibt sich, daß es zum Widersinn führt, wenn man dergleichen Dingen einen Wesensbegriff zuschreibt; denn man verfiele damit in den Fortgang ins Unendliche, weil der stumpfnasigen Nase wieder die Nase mit einem anderen Zusatze als Prädikat beigelegt werden müßte.

Man sieht also: es gibt eine Definition nur von dem was selbständiges Wesen ist. Denn gibt es eine Definition auch von dem anderen, was von dem selbständigen Wesen ausgesagt wird, so muß es notwendig auf Grund dessen geschehen, daß dieses andere dem selbständig Bestehenden beigelegt wird. So ist es der Fall, wenn man das Gerade und Ungerade definieren wollte. Denn das ist nicht ohne den Zahlbegriff möglich, und gerade so wie das Weibliche nicht ohne den Begriff des Tiers. Daß man etwas definiert als zu einem anderen als Prädikat Gehörendes, darunter sind die Fälle zu verstehen, wo es einem geschieht, daß man dasselbe zweimal setzt, wie in den obigen Beispielen. Ist das aber ausgemacht, so gibt es auch keine Definition von Begriffen, die notwendig mit anderen verbunden sind, z.B. von der ungeraden Zahl. Versucht man sie dennoch, so kommt es bloß nicht zum Bewußtsein, daß solche Erklärungen keine streng begrifflichen sind. Gibt es also Definitionen auch für diese Gegenstände, so gibt es sie in anderem Sinne als sonst, oder es gibt sie so, wie wir oben dargelegt haben, daß Definition und Wesensbegriff in engerem und in weiterem Sinne gebraucht werden. Es kann also außer für die Substanzen für nichts eine Definition in strengem Sinne geben und für nichts ein Wesensbegriff vorhanden sein; gibt es Definition und Wesensbegriff auch für anderes, was nicht selbständiges Wesen ist, so hat es hier einen anderen Sinn.

Unser Ergebnis ist also dies, daß die Definition die Bezeichnung des begrifflichen Wesens ist, und daß das begriffliche Wesen entweder allein dem[101] zukommt, was selbständiges Wesen ist, oder daß es doch nur diesem in eigentlichem Sinne, ursprünglich und schlechthin zukommt.

Weiter gilt es nun zu untersuchen, ob begriffliches Wesen und reale Einzelexistenz dasselbe oder zweierlei bedeutet, ein Punkt, der für die Frage nach dem wahrem Wesen von entscheidender Bedeutung ist. Denn gemeinhin meint man, Einzelexistenz sei nichts anderes als das ihr eigene substantielle Wesen, und das begriffliche Wesen wird mit der Substanz des Einzelwesens identifiziert.

Bei dem nun, was als bloß zufallende Bestimmung ausgesagt wird, wird man es doch wohl gelten lassen, daß der Wesensbegriff etwas anderes sei als das Ding selber. Ein blasser Mensch z.B. ist etwas anderes als der Begriff »blasser Mensch«. Denn gesetzt, beides wäre identisch, so würde auch der Begriff »Mensch« und der Begriff »blasser Mensch« Identischsein. Daß ein Mensch von blasser Farbe jedenfalls ein Mensch ist, das erkennen alle an. Fällt nun Mensch und Begriff des Menschen zusammen, so fällt auch blasser Mensch und Begriff des Menschen zusammen; und wenn nun blasser Mensch und Begriff des blassen Menschen auch eines und dasselbe wäre, so wäre auch der Begriff des Menschen identisch mit dem Begriff des blassen Menschen.

Hier könnte man einwenden: der Schluß, daß das, was zufallende Bestimmtheit ist, mit dem Wesensbegriffe zusammenfalle, ist nicht bündig; denn die Termini des Schlusses werden aus dem Grunde nicht identisch, weil der eine als Substanz, der andere als Akzidens gemeint ist. Danach aber könnte es dann den Anschein gewinnen, als ergäbe sich die Identität für die Termini des Schlusses eher dann, wenn sie beide bloß akzidentielle Bestimmungen wären, wie z.B. blaß sein und kunstverständig sein. Aber auch für diese wird niemand den Schluß gelten lassen.

Ist nun aber die Identität des Realen mit seinem Begriff notwendig bei dem vorhanden, was als an sich seiend bezeichnet wird? So wenn wir annehmen, daß es Wesenheiten gibt, die allen anderen Wesenheiten und natürlichen Gebilden vorausgehen, Wesenheiten also wie die, die von manchen Denkern unter dem Namen Ideen gesetzt werden. Danach wäre das Gute an sich verschieden von dem existierenden Guten, das Tier an sich verschieden von dem existierenden Tier, das Seiende überhaupt verschieden von der realen Existenz, und es müßten also außer den gegebenen andere Wesenheiten, Gebilde und Ideen angenommen werden, die als die ursprünglichen Substanzen zu gelten hätten, wenn doch der Wesensbegriff eine Substanz[102] sein soll. Setzt man nun diese Ideen als von dem Realen getrennt – und ich verstehe unter diesem Abtrennen eben dies, daß dem Guten an sich nicht das existierende Gute und dem existierenden Guten nicht das Gute an sich innewohnt –, so gibt es von dem einen, dem Realen, keine Erkenntnis, und das andere, die Ideen, zählt nicht zu dem Seienden. Denn eine Erkenntnis des Realen haben wir dann, wenn wir seinen Wesensbegriff gefunden haben, und das gilt für das Gute und ebenso für alles andere in gleicher Weise. Wenn daher der Wesensbegriff des Guten nicht ein Gutes ist, dann ist auch der Wesensbegriff des Seienden nicht ein Seiendes und der Wesensbegriff des Eins nicht ein Eines, und ebenso wird das Sein jedem Wesensbegriff oder keinem zukommen. Wenn aber nicht einmal der Wesensbegriff des Seienden ein Seiendes ist, so ist auch kein anderer Wesensbegriff ein Seiendes.

Außerdem, was nicht den Begriff des Guten in sich trägt, das ist auch kein Gutes. Es muß also notwendig das Gute und der Begriff des Guten, das Schöne und der Begriff des Schönen eine Einheit bilden, überhaupt alles was nicht von einem anderen ausgesagt wird, sondern an sich seiend und ursprünglich heißt. Es reicht auch völlig aus, wenn nur solches an sich Seiendes vorhanden ist, auch ohne daß man Ideen anzunehmen braucht, und gibt es Ideen, so gilt dasselbe vielleicht in noch höherem Grade.

Zugleich aber leuchtet es ein, daß, wenn die Ideen, wie manche sie setzen, wirklich existieren, das Substrat des Realen nichts Substantielles sein kann. Denn die Ideen sind notwendig Substanzen, also nicht an einem Substrat; wäre aber das Substrat des Realen Substanz, dann müßten die Ideen durch Teilnahme an dem Substrat existieren.

Aus allen diesen Erwägungen ergibt sich, daß das einzelne an sich mit seinem Wesensbegriff eines und dasselbe ist, wo es sich nicht um Akzidentielles handelt, schon weil das Einzelwesen erkennen eben dies heißt, seinen Wesensbegriff erkennen, daß mithin beide notwendig ein Einiges sind, auch wenn man sie im Gedanken auseinanderhält. Was dagegen das als akzidentelle Bestimmung Ausgesagte betrifft, wie »kunstverständig« oder »blaß«, so trifft hier die Aussage, daß Wesensbegriff und Gegenstand identisch sei, wegen der Doppelsinnigkeit nicht zu. Blaß nämlich ist erstens der Gegenstand, dem diese Bestimmung zukommt; »blaß« ist aber auch die akzidentelle Bestimmung selbst; und darum ist Wesensbegriff und Gegenstand wohl in der einen Hinsicht Identisch, aber in der anderen Hinsicht sind sie es nicht. Denn der Begriff des Menschen und der Begriff des Menschen von blasser[103] Farbe ist nicht identisch, aber wohl sind sie darin identisch, daß der Mensch die Bestimmung »von blasser Farbe« erhält. Die Absurdität, die darin liegt, daß man Begriff und an sich Seiendes trennt, würde auch so zur Erscheinung kommen, wenn man für jeden Wesensbegriff einen besonderen Ausdruck einsetzen wollte. Denn das würde außer und neben demselben wieder einen anderen Wesensbegriff und einen anderen Ausdruck erfordern; z.B. für den Wesensbegriff des Pferdes wieder einen anderen Wesensbegriff. Und dem gegenüber, was hindert denn eigentlich, jetzt auf der Stelle und von vornherein den Wesensbegriff als identisch mit dem Gegenstande zu fassen, wenn doch der Wesensbegriff etwas Substantielles ist? Aber in Wahrheit, nicht bloß eines ist der Wesensbegriff und der Gegenstand, sondern auch der Gedanke derselben ist identisch, wie aus unseren Ausführungen hervorgeht. Denn nicht bloß in akzidenteller Weise ist es eins, der Begriff des Eins-seins und das Eins. Außerdem, wären sie verschieden, so geriete man in den Fortgang ins Unendliche. Denn das eine wäre der Wesensbegriff des Eins, das andere wäre das Eins selber, und von diesem würde wieder dieselbe Aussage gelten und so fort. Daß also bei den ursprünglichen, den als an sich seiend geltenden Gegenständen der Begriff des Gegenstandes und der Gegenstand eines und dasselbe ist, ist damit ein ausgemachter Satz. Die sophistischen Widerlegungen dieses Satzes lassen offenbar dieselbe Lösung zu, wie die Frage, ob Sokrates und der Begriff des Sokrates dasselbe ist. Denn an welche Beispiele die Frage, oder an welche die Lösung zufällig anknüpft, das macht für die Sache gar keinen Unterschied.

Die Frage, in welchem Sinne Einzelgegenstand und Wesensbegriff identisch, in welchem Sinne sie nicht identisch sind, ist damit beantwortet.

Quelle:
Aristoteles: Metaphysik. Jena 1907, S. 97-104.
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