2. Natur, Notwendigkeit, Einheit, Sein, Substanz

[290] Physis, Natur heißt in einem Sinne alles Werden, Wachsen und Sprießen (eine Bedeutung, als hätte das Wort physis langes υ). In anderem Sinne heißt Natur der ursprüngliche Bestandteil, aus dem das, was ein Wachstum hat, hervorsprießt. Drittens heißt Natur in einem Dinge, das durch innere Anlage existiert, der Keim, die ursprünglich bewegende Ursache, die in dem Gegenstande als solchem wirksam ist. Das Verbum phyesthai, wachsen, gebraucht man aber von allem, was vermittelst eines anderen sprießt, dadurch daß es dasselbe berührt, mit ihm verwächst und ihm zuwächst in der Art wie die Leibesfrucht. Dabei besteht ein Unterschied zwischen dem Verwachsensein mit dem anderen und bloßer Berührung. Denn hier braucht außer den sich Berührenden nicht noch ein drittes vorhanden zu sein; bei dem aber was mit einander verwachsen ist, ist noch ein Einheitliches, was in beiden dasselbe ist; und dieses ist es was bewirkt, daß die beiden sich nicht bloß berühren, sondern mit einander verwachsen sind und im Sinne der Kontinuität wie der Quantität nach eine Einheit bilden, wenn auch nicht der Qualität nach. Man nennt aber Natur auch viertens das Ursprüngliche, woher das, was nicht durch innere Anlage ist, sein Sein und Werden empfängt; dies ist dann gestaltlos und durch eigenes Vermögen nicht veränderbar. So wird bei einer Bildsäule und bei ehernen Gefäßen das Erz, bei hölzernen das Holz als die Natur des Gegenstandes bezeichnet, und ebenso ist es auch bei anderen Dingen. Denn jegliches solches Ding hat[290] sein Bestehen darin, daß seine ursprüngliche Materie sich erhält; – in diesem Sinne bezeichnet man denn auch die Elemente der Dinge, die durch innere Anlage sind, als deren Natur. Als solche nehmen die einen Feuer, andere Erde, Luft oder Wasser oder auch sonst etwas dergleichen an, und zwar die einen nur einzelnes davon, die anderen alles zusammen. Fünftens nennt man Natur wieder in anderem Sinne das innere Wesen der Naturdinge; so diejenigen, die die ursprüngliche Verbindung von Elementen als die Natur bezeichnen oder wie Empedokles sich ausdrückt:


Eine Natur hat keins der seienden Dinge,

Sondern Mischung allein und Scheidung auch des Gemischten,

Und Natur heißt's bloß, weil so es die Menschen benennen.


In diesem Sinne sagen wir von dem, was durch innere Anlage ist oder wird, daß es noch nicht seine Natur erlangt habe, wenn zwar dasjenige bereits existiert, woraus es regelmäßig ist oder wird, es selbst aber noch nicht seine Form und Gestalt besitzt. Ein Gebilde der Natur ist das, wo beide Momente zusammenkommen, wie die Organismen und ihre Glieder. Natur heißt aber auch die ursprüngliche Materie, und diese in zwiefachem Sinne, entweder als die für diesen bestimmten Gegenstand oder die schlechthin ursprüngliche. So ist für die aus Erz gemachten Dinge das ursprüngliche Material in bezug auf sie das Erz; Urstoff schlechthin aber ist möglicherweise das Wasser, wenn alles das was schmelzbar ist Wasser heißen darf. Und andererseits heißt Natur auch die Form und das Wesen, und dies bildet das Ziel des Werdens. In übertragenem Sinne wird dann schlechthin auch alle Wesenheit Natur genannt eben um der Form willen, weil auch die innere Anlage eine Wesenheit ist.

Nach dem Dargelegten bedeutet also Natur im ursprünglichen und eigentlichen Sinne das Wesen dessen, was das Prinzip seiner Bewegung in sich enthält, sofern es ist was es ist. Die Materie wird Natur genannt deshalb, weil sie für ein solches Prinzip empfänglich ist, die Arten des Werdens aber und das Wachsen deshalb, weil es Bewegungen sind, die aus diesem Prinzip stammen. Dieses den durch innere Anlage existierenden Dingen einwohnende Prinzip für ihre Bewegung aber ist in ihnen irgendwie entweder als bloßes Vermögen oder als wirksame Kraft.

Notwendig nennt man dasjenige, was die Bedingung bildet, ohne welche das Leben nicht möglich ist; so ist für einen Organismus Atmung und Ernährung notwendig, weil er ohne dieselben nicht bestehen könnte, und so[291] auch dasjenige, ohne welches es nicht möglich ist, daß etwas was ein Gut ist da sei oder entstehe, oder etwas was ein Übel ist abgewendet oder beseitigt werde; so ist das Einnehmen der Medizin notwendig, um die Krankheit los zu werden, und eine Fahrt nach Regina, um eine Geldsumme zu erheben. Zweitens heißt notwendig das Erzwungene und der Zwang, also dasjenige, was im Gegensätze zu innerem Antriebe und Vorsatz hindernd und aufhaltend wirkt. Das Erzwungene wird als ein Notwendiges bezeichnet, und deshalb ist es schmerzlich, wie denn auch Euenos sagt:


Jeder empfundene Zwang ist ein verdrießlich Gefühl;


und Zwang ist Nötigung; so sagt Sophokles:


Doch ach, der Zwang ist's, was mich nötigt so zu tun.


Die Notwendigkeit gilt als etwas, was keine Überredung abzuwenden vermag, und mit Recht; denn sie bildet den Gegensatz zu derjenigen Bewegung, die aus innerem Vorsatz und vernünftiger Überlegung entspringt. Drittens sagen wir von etwas, es sei notwendig so wie es ist, wenn es unmöglich ist, daß es anders sei als es ist. Diesem Sinne des Wortes gemäß spricht man im Grunde auch sonst überall von Notwendigkeit. Denn wo Zwang herrscht, sagt man, es sei notwendig dies zu tun oder zu leiden, wenn es nicht möglich ist, dem inneren Antriebe zu folgen, eben infolge des Zwanges, der eine Notwendigkeit ergibt, durch die es unmöglich wird, anders zu verfahren. Dasselbe Verhältnis liegt aber auch bei den Bedingungen vor, die für das Leben und für die Güter des Lebens erforderlich sind. Denn wo es unmöglich ist, daß die Güter hier, das Leben dort vorhanden sei, ohne die Erfüllung gewisser Bedingungen, da sind die letzteren notwendig, und diese Art des Grundseins ist eine Art der Notwendigkeit. Viertens fällt unter den Begriff der Notwendigkeit auch das durch den Beweis Festgestellte; denn wenn etwas schlechthin bewiesen ist, so ist es unmöglich, daß sich die Sache anders verhalte. Die Gründe dafür sind die Vordersätze, aus denen sich der Schluß dann ergibt, wenn das Gegenteil derselben unmöglich ist.

Bei manchen Dingen liegt der Grund dafür, daß sie notwendig sind, in etwas außer ihnen; bei anderen Dingen ist es nicht so, sondern sie sind vielmehr der Grund dafür, daß anderes notwendig ist. Daher ist das ursprünglich und eigentlich Notwendige das Einfache. Denn bei diesem ist es ausgeschlossen, daß es vielfache Beschaffenheiten annehme, also auch, daß es sich jetzt so, jetzt anders verhalte; denn damit würde es eben vielfache Beschaffenheiten annehmen. Wenn es also etwas gibt, was ewig und unveränderlich[292] ist, so gibt es für dieses keinen Zwang und keine Störung der inneren Anlage.

Eins heißt etwas teils nach unwesentlichen Beziehungen, teils seines an sich seienden Wesens wegen; nach unwesentlichen Beziehungen, wie in der Verbindung von Koriskos und gebildet zu einem gebildeten Koriskos. Denn ob man von Koriskos und gebildet aussagt, sie seien eins, oder sagt: der gebildete Koriskos, das ist einerlei; ebenso ist es bei gebildet und gerecht und dem gebildeten und gerechten Koriskos. Alles das wird als Eins gesetzt auf Grund unwesentlicher Beziehungen: gerecht und gebildet, weil beide zu einem einheitlichen Gegenstande Prädikate sind, gebildet aber und Koriskos, weil das eine das Prädikat des anderen ist. Und ebenso bildet in gewissem Sinne auch der gebildete Koriskos mit Koriskos eine Einheit, weil das eine der beiden Glieder in der Verbindung Prädikat des letzteren, also gebildet ein Prädikat des Koriskos ist. Der gebildete Koriskos aber macht mit dem gerechten Koriskos deshalb eine Einheit aus, weil das eine Glied in jedem der beiden Ausdrücke Prädikat desselben einheitlichen Subjekts ist. Ganz ebenso bildet es eine Einheit in unwesentlicher Beziehung, wenn man von einer Gattung oder von einem Allgemeinen ein Prädikat aussagt, wie wenn man Mensch und gebildeter Mensch als dasselbe setzt, entweder weil dem Begriffe Mensch als einer einheitlichen Wesenheit das Prädikat gebildet zugefallen ist, oder weil beide Begriffe einem Individuum wie Koriskos als Prädikate zugefallen sind. Indessen bilden beide Begriffe doch nicht ganz gleichartige Bestimmungen; vielmehr der eine bezeichnet etwa die Gattung und also eine Wesensbestimmung, das andere eine bloße Beschaffenheit und einen Zustand der Wesenheit.

Dies ist der Sinn der Aussage, wenn von Einheit in unwesentlicher Beziehung die Rede ist. Spricht man aber von wesentlicher Einheit, so wird damit entweder bezeichnet die räumliche Zusammengehörigkeit, wie ein Bündel durch eine Schnur, Holzplatten durch Aufleimung verbunden sind. Eine Linie wird als einheitlich bezeichnet, auch wenn sie eine gebrochene Linie ist, vorausgesetzt nur, daß ein räumlicher Zusammenhang gegeben ist, und so auch jedes der Glieder des Leibes, wie Bein und Arm. In eben diesen Fällen aber ist in höherem Grade eins, was seiner inneren Natur nach, als was bloß durch künstliche Veranstaltung räumlich zusammenhängt. Räumlich zusammenhängend nennt man aber das, was sich als ein Ganzes bewegt und sich nicht anders zu bewegen vermag; Einheit der Bewegung aber ist da vorhanden, wo die Bewegung unteilbar, und zwar unteilbar der Zeit nach ist.[293]

Räumlich zusammenhängend an und für sich ist das, was nicht bloß durch Berührung eines ist. Werden Holzstücke so gelegt, daß sie einander berühren, so wird man deshalb nicht sagen dürfen, sie seien eines, weder ein Holz noch ein Körper oder sonst ein räumlich Zusammenhängendes. Dagegen nennt man räumlich Zusammenhängendes überhaupt auch dann eines, wenn es eine Biegung aufweist, freilich noch lieber das, was eine solche Biegung nicht aufweist, so die Wade oder die Hüfte eher als das Bein, weil die Möglichkeit besteht, daß die Bewegung des Beines keine einheitliche sei. So ist die gerade Linie in höherem Maße eines als die gebrochene. Die gebrochene Linie, die einen Winkel bildet, nennen wir eine und auch wieder nicht eine, weil es möglich ist, daß ihre Bewegung zugleich und auch daß sie nicht zugleich stattfinde. Dagegen ist die Bewegung der geraden Linie immer eine gleichzeitige, und kein Teil von ihr, der irgendwelche Ausdehnung hat, ist in Ruhe, während der andere in Bewegung ist, wie es bei der gebrochenen Linie der Fall ist.

Wieder in anderem Sinne wird etwas deshalb eines genannt, weil das Substrat seiner Art nach ohne Unterschiede, homogen, ist, und solche Unterschiedslosigkeit besitzt das, worin die Wahrnehmung keine Unterschiede zu finden vermag. Das Substrat ist dabei entweder das nächste oder das entfernteste, wozu man schließlich gelangt. Der Wein wird als eines bezeichnet und das Wasser gleichfalls, sofern es in seiner Beschaffenheit ohne Unterschiede ist. Alle Flüssigkeiten wie Wein, öl, Geschmolzenes werden als eines bezeichnet, weil das letzte Substrat, das allen zugrunde liegt, eines und dasselbe ist; denn auf Wasser oder auf Luft lassen sie sich alle zurückführen.

Eins heißt ferner, was einer und derselben Gattung angehört und sich nur wie verschiedene Arten innerhalb derselben unterscheidet. Alles dies wird eines genannt, weil die Gattung, die den Unterschieden der Arten zugrunde liegt, eine Einheit bildet. So sind Pferd, Mensch, Hund eines, weil sie sämtlich Tiere sind, eine Einheit ganz ähnlich der Einheit dessen, dessen Materie eine ist. Diese Gegenstände werden also das eine Mal in diesem Sinne als eines bezeichnet, das andere Mal werden sie mit Rücksicht auf die höhere Gattung als dasselbe bezeichnet, wenn sie letzte Arten der Gattung sind; so ist das Gleichschenklige und das Gleichseitige eine und dieselbe Figur, weil beides Dreiecke bedeutet, wenn auch nicht dieselbe Art von Dreiecken.

Sodann wird eins genannt das, dessen das bleibende Wesen ausdrückender Begriff ununterscheidbar ist, sofern man ihn mit einem anderen das[294] bleibende Wesen des Gegenstandes ausdrückenden Begriffe vergleicht. Denn an und für sich allerdings ist jeder Begriff in Bestandteile zerlegbar. Auf diese Weise ist etwas auch dann, wenn es vermehrt worden ist, und wenn es abnimmt, eines, weil sein Begriff einer ist, wie der Begriff der Form bei den ebenen Figuren. Überhaupt alles das, bei dem der Gedanke, der das bleibende Wesen erfaßt, keinen Unterschied macht und weder der Zeit noch dem Orte noch dem Begriffe nach eine Trennung setzt, das ist im höchsten Sinne eins, und darunter am meisten wieder das, was selbständiges Wesen ist. Denn im allgemeinen wird das, was keinen Unterschied an sich trägt, eben sofern es ihn nicht an sich trägt, in dieser Beziehung ein einiges genannt. So ist jemand, sofern er keinen Unterschied an sich trägt als Mensch, ein Mensch, sofern als lebendes Wesen, ein lebendes Wesen, und sofern als Größe eine Größe. Das Meiste freilich wird ein Einiges genannt deshalb, weil etwas anderes, was es tut, hat, leidet oder wozu es in Beziehung steht, eines ist; dagegen das ursprünglich als ein Einiges Bezeichnete ist das, dessen Wesen einheitlich ist, und zwar einheitlich entweder dem räumlichen Zusammenhange oder der Art oder dem Begriffe nach. Dagegen zählen wir als eine Vielheit teils was räumlich nicht zusammenhängt, teils dessen Art nicht einheitlich ist oder dessen Begriff nicht einer ist. Weiter sagen wir von etwas das eine Mal es sei eines, wenn es eine Größe und räumlichen Zusammenhang hat, das andere Mal es sei nicht eines, wenn es kein Ganzes bildet, und das heißt, wenn es keine einheitliche Form hat. So würden wir nicht ebenso etwas als eines bezeichnen, wenn wir die Teile irgendwie neben einander liegen sehen, wie etwa die eines Schuhes, es sei denn auf Grund des räumlichen Zusammenhanges, sondern dann, wenn sie so beisammen sind, daß sie einen Schuh bilden und also eine einheitliche Form haben. Darum ist auch die Kreislinie im höchsten Grade einheitlich, weil sie ein Ganzes und in sich Abgeschlossenes bildet.

Der Begriff des Eins ist der Begriff des Prinzips für die Zahl. Denn was das ursprüngliche Maß ist, das ist auch Prinzip. Das oberste Erkenntnismittel, das ist das ursprüngliche Maß für jegliche Gattung. Prinzip also der Erkennbarkeit für jede Gattung ist die Einheit. Allerdings bedeutet Einheit nicht für alle Gattungen dasselbe. An der einen Stelle bedeutet sie den Viertelton, an anderer Stelle den Vokal oder den Konsonanten; für die Schwere ist sie eine andere und wieder eine andere für die Bewegung, aber überall ist Einheit Negation des Unterschiedes, sei es in bezug auf die Quantität, sei es auf die Form. Das was der Größe nach und als Größe unteilbar[295] ist, das was nach allen Richtungen unteilbar und ohne Ort ist, das nennt man eine Monas; was nach allen Richtungen unteilbar ist und einen Ort hat, heißt Punkt; was in einer Richtung teilbar ist, heißt Linie; was in zwei Richtungen teilbar ist, heißt Fläche; was in jeder Richtung und in dreifacher Dimension seiner Ausdehnung nach teilbar ist, heißt Körper. Und umgekehrt ist Fläche das nach zwei Richtungen Teilbare, Linie das nach einer Richtung Teilbare, das nach keiner Richtung der Ausdehnung nach Teilbare Punkt und Monas: nämlich wenn es keinen Ort hat, Monas, wenn es einen Ort hat, Punkt.

Ferner gibt es solches, was der Zahl nach, und anderes, was der Art nach eines ist, anderes, was der Gattung nach, und wieder anderes, was der Analogie nach eines ist. Der Zahl nach eines ist das, dessen Materie, der Art nach das, dessen Begriff einer ist, der Gattung nach das, was unter eine und dieselbe Kategorie fällt, der Analogie nach, was in demselben Verhältnis steht wie ein anderes zu einem anderen. Dabei ist jedesmal die folgende Stufe in der früheren mit enthalten. Also was der Zahl nach eines ist, ist eines auch der Art nach; dagegen ist nicht alles, was der Art nach eines ist, auch der Zahl nach eines. Ebenso ist der Gattung nach eines alles was der Art nach eines ist; was aber der Gattung nach eines ist, ist nicht alles auch der Art nach eines, aber wohl ist es eines der Analogie nach, während was der Analogie nach eines ist, nicht alles auch der Gattung nach eines ist.

Es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß wo man Vielheit sagt, man den Gegensatz zur Einheit meint. Eine Vielheit also heißt etwas deshalb, weil es räumlich nicht zusammenhängt, oder auch, weil seine Materie, entweder als die entfernteste, oder als die nächste, Unterschiede zeigt, und wieder anderes heißt so, weil die das Wesen ausdrückenden Begriffe eine Mehrheit bilden.

Vom Seienden spricht man teils im Sinne dessen was an einem anderen ist, teils im Sinne dessen was an und für sich ist: im Sinne dessen, was an einem anderen ist, z.B. wenn wir von einem der gerecht ist aussagen, daß er auch gebildet sei, oder vom Menschen, daß er gebildet, und vom Gebildeten, daß er ein Mensch sei, eine Aussage, ganz ähnlich derjenigen, wie wenn wir sagen, daß ein Gebildeter ein Haus baut, weil nämlich der Baumeister zufällig auch gebildet oder der Gebildete ein Baumeister ist. Denn da bedeutet die Aussage, dieses Subjekt habe dieses Prädikat, daß letzteres dem ersteren zufällig zukomme, und eben dies ist der Fall auch in den[296] obigen Beispielen. Denn wenn wir sagen, der Mensch ist gebildet, oder der Gebildete ist ein Mensch, der Bleiche ist gebildet, oder der Gebildete ist bleich, so meinen wir bei der einen Aussage, daß beide Prädikate einem und demselben Seienden zugefallen sind, bei der anderen, daß das Prädikat dem Seienden zugefallen ist, und wenn der Gebildete ein Mensch genannt wird, daß diesem, dem Menschen, das Prädikat gebildet zugefallen ist. In derselben Weise wird nun auch vom Nicht-weißen ausgesagt, daß es sei, nämlich weil dasjenige ist, dem es zufällig zukommt, nicht weiß zu sein. Mithin wenn man vom Sein im Sinne des Zufälligen spricht, so geschieht es entweder, weil zwei Bestimmungen beide an demselben Subjekt sind, oder weil die Bestimmung einem Seienden zukommt, oder weil eben das ist, an dem das, wovon ein drittes als Prädikat ausgesagt ist, eine Bestimmung bildet.

Vom an sich Seienden dagegen spricht man in so vielen Bedeutungen, als es Formen der Kategorien gibt; denn so viele Arten dieser Aussage es gibt, so viele Bedeutungen nimmt das Sein an. Nun bezeichnet die eine der Kategorien das Was, die anderen die Qualität, die Quantität, die Relation, das Tun oder Leiden, das Wo und das Wann; das Sein hat also jedesmal dieselbe Bedeutung, wie eine dieser Kategorien. Denn ob man sagt, der Mensch ist ein genesender, oder der Mensch genest, ob man sagt, der Mensch ist ein gehender, schneidender, oder der Mensch geht, schneidet, das macht keinen Unterschied. Und so durchgängig.

Weiter aber bedeutet das Sein und das »ist« auch, daß die Aussage wahr sei, das Nicht-sein aber, daß die Aussage nicht wahr sondern falsch ist, und dies ebenso im bejahenden wie im verneinenden Urteil. Z.B. Sokrates ist gebildet, bedeutet ebenso: dies ist wahr, wie der Satz: Sokrates ist nicht bleich. Dagegen der Satz: die Diagonale ist nicht kommensurabel, bedeutet: dies, nämlich daß sie kommensurabel sei, ist falsch.

Weiter bezeichnet das Sein und das Seiende in den genannten Bedeutungen teils ein ausdrücklich als Potentielles, teils ein als Aktuelles Gemeintes. So sagen wir, etwas sei sehend, sowohl von dem, was ausdrücklich als zu sehen Vermögendes, wie von dem, was als wirklich sehend gemeint ist; das Verstehen schreiben wir ebensowohl dem zu, der den Verstand zu gebrauchen das Vermögen hat, wie dem, der ihn wirklich gebraucht, und das Ruhen ebensowohl dem, was bereits im Zustande der Ruhe sich befindet, wie dem, was das Vermögen hat in Ruhe zu sein. Ganz dasselbe ist der Fall bei den selbständigen Wesenheiten. Wir sagen: der Hermes sei im Steine, in der Linie sei ihre Hälfte, und nennen Korn auch was noch nicht[297] reif ist. Wann aber vom Potentiellen die Rede sein kann und wann noch nicht, darüber ist an anderer Stelle genauer zu handeln.

Unter Usia, selbständig Seiendem, versteht man die einfachen Körper wie Erde, Feuer, Wasser und dergleichen, dann überhaupt Körper und was aus ihnen zusammengesetzt ist, lebendige Wesen und Himmelskörper, sowie ihre Teile. Alles dieses wird Usia, selbständig Seiendes, genannt, weil es nicht von einem Substrat, sondern anderes von ihm ausgesagt wird. In anderem Sinne heißt Usia, was als Grund des Seins solchen Gegenständen, die nicht von einem Substrat ausgesagt werden, innewohnt, wie die Seele im lebenden Wesen. Ferner auch das, was zu Gegenständen von dieser Art als Teil gehört, was sie begrenzt und als bestimmtes Einzelwesen kennbar macht, also dasjenige, mit dessen Aufhebung das Ganze aufgehoben wird, wie nach der Meinung mancher mit der Fläche der Körper und die Fläche mit der Linie aufgehoben wird. Insbesondere schreiben manche der Zahl diese Bedeutung zu; denn wenn sie aufgehoben werde, sei überhaupt nichts, und sie begrenze alles. Weiter gehört dahin das begriffliche Wesen, dessen Definition der Begriff bildet; auch dieses wird als Usia, als selbständiges Sein eines jeglichen bezeichnet.

Es ergibt sich daraus, daß Usia in doppeltem Sinne gebraucht wird; als letztes Substrat, was nicht mehr von einem anderen ausgesagt wird, und zweitens als bestimmtes Einzelwesen, das getrennt für sich besteht. Von dieser Art aber ist die Gestalt und Form eines jeden Dinges.

Quelle:
Aristoteles: Metaphysik. Jena 1907, S. 290-298.
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