7. Bestandteil, Teil, Ganzes, Bruchstück

[313] Mit aus etwas sein, bestehen drückt man aus, daß etwas an dem anderen seine Materie hat, und zwar in doppelter Weise: entweder im Sinne der obersten Gattung oder der letzten Art, also das eine Mal, wie alles Flüssige aus Wasser, das andere Mal wie eine Bildsäule aus Erz besteht. Man sagt aber auch, etwas sei, entstehe aus dem anderen als aus seinem ersten bewegenden Grunde. Z.B. woher kommt der Streit? Aus einer beleidigenden Äußerung, weil diese der Ursprung des Streites ist. Andererseits wieder ist etwas aus dem Zusammengesetzten, das aus Materie und Form besteht; so sind die Teile aus dem Ganzen, der Vers aus der Ilias und der Stein aus dem Hause. Denn das Endziel bildet die Form, und vollendet ist, was sein Endziel erreicht hat. Anders wieder bedeutet das »aus etwas sein« ein Verhältnis, wie der Begriff aus Merkmalen, z.B. der Mensch aus dem mit zwei Beinen versehen sein und die Silbe aus den Lauten ist. Hier ist das Verhältnis ein anderes als das zwischen Bildsäule und Erz. Denn da besteht die zusammengesetzte Substanz aus der sinnlich wahrnehmbaren Materie; freilich besteht auch der Begriff aus der begrifflichen Materie. Das wären denn die Bedeutungen des Wortes. Es kann aber auch in jeder der genannten Bedeutungen etwas aus einem Teile des anderen sein, wie aus Vater und Mutter das Kind, aus dem Boden die Pflanze, weil sie aus einem[313] Teile von diesem stammt. »Aus etwas« heißt aber ferner auch zeitlich nach etwas; so wird aus dem Tage die Nacht und aus schönem Wetter stürmisches Wetter, weil das eine nach dem anderen kommt. Bald drückt dies aus, daß das eine, wie in den eben erwähnten Beispielen, sich in das andere umwandelt, bald daß bloß eine zeitliche Aufeinanderfolge stattfindet; so sagt man, die Seefahrt entsprang aus der Tagundnachtgleiche, weil sie nach ihr kam, und aus den Dionysien wurden die Thargelien, weil sie nach den Dionysien kommen.

Teil heißt erstens das, worin etwas was Größe hat auf welche Weise auch immer zerlegt werden kann. Denn jedesmal wird bei einem Quantitativen als solchem das was man von ihm fortnimmt als ein Teil desselben bezeichnet, wie die Zwei als Teil der Drei. In engerem Sinne betrachtet man als Teil eines Quantums nur das, was als Maß für dasselbe dient. Daher gilt die Zwei wohl in jenem Sinne als Teil der Drei, aber nicht in diesem. Weiter wird auch das worin sich die Art zerlegen läßt, wo nicht mehr das Quantitative in Betracht kommt, als Teil der Gattung bezeichnet; so nennt man die Arten Teile der Gattung. Weiter heißen Teile auch die Glieder, in die das Ganze, sei es die Form oder das mit der Form Ausgestattete, zerlegt wird oder woraus es besteht; so ist ein Teil der ehernen Kugel oder des ehernen Würfels das Erz, das heißt die Materie, in der die Form sich ausprägt, aber auch der Winkel. Endlich sind auch die Merkmale in dem Begriffe, der den Gegenstand bezeichnet. Teile des Ganzen. Und so wird auch die Gattung als Teil des Artbegriffs bezeichnet, während vorher in anderer Weise die Art einen Teil der Gattung bildete.

Ein Ganzes heißt das, woran kein Teil fehlt, der zu dem Ganzen seiner Natur nach gefordert wird, sowie das was einen Inhalt so umfaßt, daß dieser eine Einheit bildet. Dies kann in doppelter Weise geschehen. Es kann jeder der umschlossenen Teile eine Einheit für sich bilden, es kann aber auch die Einheit erst aus ihnen werden. Das Allgemeine nämlich, das was man als eine Allheit gemeinsam bezeichnet, ist ein Allgemeines dadurch, daß es eine Vielheit so umfaßt, daß das Ganze von jedem einzelnen ausgesagt wird und alles dieses einzelne als Einzelnes zusammen eine Einheit bildet, wie Mensch, Pferd, Gott sämtlich unter den Begriff lebendes Wesen fallen. Anders das Kontinuierliche und Begrenzte, wo sich aus einer Mehrheit von Bestandteilen eine Einheit ergibt, meistenteils in potentieller, sonst wohl auch in aktueller Weise. In diesem letzteren Falle gehört dahin mehr das was von Natur als das was durch Kunst eine Einheit ausmacht, wie wir schon bei der[314] Erörterung des Begriffs der Einheit dargetan haben; denn Totalität bedeutet eine Art von Einheit. Bei dem ferner, was ein Quantitatives ist mit Anfang, Mitte und Ende, gebraucht man das Wort »alles«, sofern die Lage und Ordnung der Teile keinen Unterschied ausmacht, dagegen das Wort »ganz«, sofern dieser Unterschied vorhanden ist; wo beides eintreten kann, da sind beide Bezeichnungen, die als Ganzes und die als Alles, am Platze. Dahin gehört alles, was in der Veränderung der Ordnung der Teile wohl seine Natur, aber nicht seine Gestalt bewahrt, wie Wachs oder ein Kleidungsstück, die ebensowohl als »alles« wie als »ganz« bezeichnet werden, weil hier beide Bestimmungen passen. Bei Wasser aber und sonstigen Flüssigkeiten wie bei Zahlen gebraucht man wohl das Wort »alles«; aber den Ausdruck »ganz« gebraucht man von der Zahl und von dem Wasser nicht, es sei denn in übertragenem Sinne. Man gebraucht den Ausdruck »sämtlich«, wo das Wort »alles« als von einer Einheit gilt, von den einzelnen Gliedern als getrennten. So wird »alles« von dieser bestimmten Zahl, »sämtlich« von diesen Einheiten darin gebraucht.

Den Ausdruck verstümmelt, Bruchstück, gebraucht man nicht von jedem beliebigen Quantitativen, sondern nur von dem was Teile hat und ein Ganzes bildet. Die Zwei wird nicht unvollständig, wenn man die eine Einheit von ihr wegnimmt; denn bei einer Verstümmelung ist niemals das was übrig bleibt dem gleich was fortgefallen ist. Und das Gleiche gilt von jeder Zahl; denn es gehört dazu, daß die Sache ihrem Wesen nach bestehen bleibt. Damit der Becher verstümmelt heißen könne, muß er immer noch ein Becher sein; die Zahl aber ist dann nicht mehr dieselbe geblieben. Aber weiter, man gebraucht den Ausdruck auch nicht von allem, was aus ungleichartigen Teilen besteht; denn eine Zahl z.B. kann ganz wohl aus ungleichen Teilen bestehen wie 5 aus 2+3. Aber überhaupt, Dinge, bei denen es auf Lage und Ordnung der Teile nicht ankommt, wie Wasser oder Feuer, können nicht verstümmelt werden; sondern dazu wird erfordert, daß der Gegenstand seinem Begriffe und Wesen nach eine bestimmte Ordnung der Teile, und weiter, daß er Zusammenhang habe. Eine Harmonie besteht aus ungleichartigen Teilen in bestimmter Ordnung, und darf doch nicht verstümmelt heißen. Und weiter, auch bei dem, was ein Ganzes ist, reicht es zum Begriff der Verstümmelung nicht aus, daß ihm ein beliebiger Teil geraubt wird; es dürfen weder die für den Bestand des Dinges wesentlichen Teile, noch auch beliebig irgendwo am Ganzen befindliche Teile sein. Ein Becher wird nicht verstümmelt, wenn er ein Loch bekommt, sondern etwa wenn[315] er den Henkel oder den Aufsatz an der Spitze verliert, und ebenso ein Mensch nicht, wenn er ein Stück Fleisch oder die Milz, sondern wenn er etwa eine der Extremitäten einbüßt, und auch hier nicht jede beliebige, sondern eine solche, die ganz weggenommen nicht wieder nachwächst. Ein Kahlköpfiger ist darum noch kein Krüppel.

Quelle:
Aristoteles: Metaphysik. Jena 1907, S. 313-316.
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