c) Rechter Mut von vollkommener Art

[63] Wenn die Mannhaftigkeit ein Verhältnis zu Zuversicht einerseits und zu Befürchtung andererseits bedeutet, so ist das Verhältnis doch nicht zu beiden von gleichem Range; das Verhalten dem gegenüber was Furcht erregt, ist dabei von überwiegender Bedeutung. Denn mannhaft ist eher der, der sich dem zu Fürchtenden gegenüber unerschrocken zeigt und sich hier auf die rechte Weise verhält, als wer sich dem gegenüber recht benimmt, was zur Zuversicht Anlaß gibt. Mannhaft wird man, wie wir gezeigt haben, deshalb genannt, weil man schlimmen Lagen gegenüber standhält. Darum wird denn auch die Mannhaftigkeit zum Anlaß, viele Schmerzen auf sich zu nehmen, und so erntet sie berechtigten Beifall. Denn es ist schwerer Schmerzliches zu ertragen als sich das was Vergnügen macht zu versagen.

Indessen könnte man meinen: das Ziel, das die Mannhaftigkeit ins Auge faßt, sei doch erfreulich; es trete nur dies Erfreuliche hinter dem zurück, was sich ringsum herandrängt. So ist es ja auch bei den gymnastischen Wettkämpfen[63] der Fall. Denn der Ausgang, den der Faustkämpfer im Auge hat, sein Ziel, ist etwas Erfreuliches, Kranz und Ehrenerweise; allerdings die Schläge, die er empfängt, tun weh, besonders wenn die Kämpfer wohlbeleibt sind, und die ganze Sache macht Beschwerde wie jede Anstrengung. Weil nun dergleichen Unannehmlichkeiten in Menge vorhanden sind, der Zweck aber sich dagegen geringfügig genug ausnimmt, so scheint kein besonderes Vergnügen dabei zu sein. Wenn es nun mit dem was die Mannhaftigkeit mit sich bringt, ebenso steht, so werden Tod und Wunden dem mannhaft Gesinnten schmerzlich sein, und er wird sie nur mit Widerstreben über sich ergehen lassen; er wird sie aber auf sich nehmen, weil es sittlich geboten und das Gegenteil verwerflich ist. Ja, je mehr er jede sittliche Eigenschaft besitzt und je glückseliger er ist, desto mehr wird er sich über den Tod betrüben. Denn für einen solchen Mann hat das Leben den größten Wert; er ist sich klar bewußt, daß er der größten Güter verlustig gehen wird, und das ist etwas tief Schmerzliches. Aber trotzdem, ja eher deshalb nur noch desto mehr, ist er mannhaft, weil er das in kriegerischem Tun zu erwerbende Verdienst höher stellt als alle jene Dinge. Also ist es doch nicht richtig, daß jede Art von sittlicher Betätigung Lust mit sich bringt, oder doch nur sofern ein erreichtes hohes Ziel Quelle der Freude wird. Vielleicht hindert deshalb nichts die Annahme, daß Männer von der oben bezeichneten Beschaffenheit nicht gerade die besten Kriegsknechte abgeben, sondern daß man zu diesem Zwecke besser solche Leute verwendet, die zwar minder mutvoll sind, die aber sonst nichts zu verlieren haben. Denn solche Leute bieten sich bereitwillig den Gefahren dar und tragen für geringen Lohn ihre Knochen zu Markte.

So viel über die Mannhaftigkeit. Nach dem was wir dargelegt haben, wird es nicht schwer sein, ihr Wesen in den Hauptzügen zu erfassen.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 63-64.
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