a) Lust und Schmerz

[64] Nach ihr soll nun die Besonnenheit, die Erhabenheit über den niederen Trieb, an die Reihe kommen. Diese beiden scheinen nämlich die Formen zu sein, in denen die nicht vom Gedanken geleiteten menschlichen Vermögen sittlichen Wert erlangen. Daß die Besonnenheit die rechte Mitte bezeichnet im Genuß dessen was Gefühle der Lust bereitet, haben wir bereits dargelegt. Die Beziehung auf das, was Schmerz bereitet, ist dagegen eine weniger enge und hat nicht die gleiche Bedeutung. Denselben Gegenständen gegenüber[64] tritt nun auch die Ausgelassenheit in die Erscheinung. Welches die Genüsse sind, um die es sich dabei handelt, das gilt es uns nunmehr zu bestimmen. Dabei sollen zunächst die geistigen Genüsse von den leiblichen unterschieden werden, solche wie Lust an der Ehre, Lust am Lernen. Da hat beide Male jeder seine Lust an dem, wozu ihn seine Neigung zieht, und nicht der Leib ist es, sondern vielmehr das Gemüt, das des Genusses teilhaftig wird. Diejenigen, die sich der Freude an dergleichen ergeben, nennt man weder besonnen noch ausgelassen, und ebensowenig diejenigen, die an anderen Genüssen sich ergötzen, die auch nicht leibliche Genüsse sind. Leute die Geschichten gern hören oder sie gern erzählen und ihre Tage sonst mit beliebigem Zeitvertreib verbringen, nennt man gedankenlos, aber ausgelassen nennt man sie nicht, und ebenso diejenigen, die sich dem Arger über Geldangelegenheiten oder gute Bekannte hingeben. Die Besonnenheit zeigt sich vielmehr leiblichen Genüssen, doch auch diesen nicht allen gegenüber. Wer sich an solchem freut, was dem Gesichtssinn erfreulich ist, wie Farben, Gestalten, Malereien, heißt weder besonnen noch ausgelassen. Und doch möchte man annehmen, daß es auch an diesen Dingen eine Freude gibt im gebotenen Maße, und auch eine solche im Übermaße und in zu geringem Maße. Das gleiche gilt von den Genüssen des Gehörssinnes. Wer an Musik oder Schauspiel eine übermäßige Freude hat, den wird niemand ausgelassen nennen, noch wird man dem, der sich daran im rechten Maße freut, Besonnenheit zuschreiben; ebenso ist es bei den Freuden des Geruchssinnes, es sei denn, daß begleitende Umstände das Urteil beeinflussen. Wer den Duft von Äpfeln, Rosen oder Räucherwerk gern hat, den nennt man nicht ausgelassen; eher könnte man den so nennen, der den Duft von Salben oder von Speisen liebt. Denn an dergleichen haben allerdings genußsüchtige Menschen ihre Freude, weil es ihnen die Erinnerung an die Gegenstände ihres Gelüstens wachruft. Indessen auch andere Leute, wenn sie Hunger haben, kann man am Geruch von Speisen sich weiden sehen. Genüsse dieser Art eifrig zu suchen ist ein Zeichen von Genußsucht; denn um solche Gelüste zu haben, muß man ein Mensch von der genannten Beschaffenheit sein. Bei den Tieren wird durch diese Empfindungen kein Lustgefühl vermittelt, es sei denn infolge begleitender Umstände. Der Hund hat seine Lust nicht am Geruch des Hasenfleisches, sondern am Fressen desselben, und der Geruch hat ihm dabei nur auf die Spur geholfen. Ebenso bereitet dem Löwen nicht die Stimme des Rindes, sondern die gute Speise Vergnügen; an der Stimme merkte er nur, daß die Beute in der Nähe war, und insofern gereichte sie ihm zur Lust; ebenso hat er auch[65] seine Freude nicht an dem Anblick des Hirsches oder der wilden Ziege, sondern daran, daß er an ihnen seine Nahrung haben wird.

In dem Verhalten zu solchen Genüssen also, die uns mit den Tieren gemeinsam sind, zeigt sich besonnenes Maßhalten und Ausschweifung; darum haben sie etwas an sich, was an die Art von Sklaven und Tieren erinnert. Dahin zählen insbesondere die Genüsse, die dem Tastsinn und dem Geschmackssinn angehören. Der Geschmack kommt dabei allerdings nur wenig oder überhaupt kaum in Betracht. Der Geschmack hat die Bestimmung, über Flüssiges sein Urteil abzugeben; so nutzen ihn diejenigen, die die Weinsorten zu prüfen und die Speisen zuzubereiten haben. Aber der eigentliche Grund des Genusses ist doch nicht der Geschmack, oder er ist es wenigstens nicht für den Lüstling, sondern das Wohlgefühl, und das beruht bei Speisen, bei Getränken wie bei der geschlechtlichen Lust ganz auf dem Tastsinn. Ein Leckermaul wünschte sich deshalb einmal einen Schlund zu haben, der länger sei als der eines Kranichs, nur um das Vergnügen des Tastsinns dann länger genießen zu können. Dieser Sinn ist demnach derjenige, der am allgemeinsten unter allen den Anlaß zu Ausschweifungen bietet, und so scheint er mit Recht der verächtlichste zu sein, weil er uns nicht zukommt sofern wir Menschen sind, sondern sofern wir mit den Tieren Ähnlichkeit haben. Daran seine Freude zu haben und sich am meisten daran genügen zu lassen, hat auch wirklich etwas Tierisches. Denn die edelsten unter den Genüssen, die der Tastsinn vermittelt, sind dabei gerade ausgeschlossen; so diejenigen, die nach dem Ringkampfe durch Reiben und Erwärmen hervorgebracht werden. Worauf es dem Lüstling ankommt, das ist nicht das Wohlgefühl, das den Leib als Ganzes angeht, als vielmehr das bestimmter einzelner Stellen des Leibes.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 64-66.
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