b) Freundlichkeit

[87] Im gesellschaftlichen Verkehr, im Umgang und in der Vereinigung zu Unterhaltung und Geschäft gelten die einen als Allerweltsfreunde; das sind die, die anderen zuliebe alles für gut befinden, in keinem Punkte Einsprache erheben, sondern meinen, sie müßten denjenigen, mit denen sie zusammentreffen, jede peinliche Empfindung ersparen. Diejenigen, die im geraden Gegensätze zu ihnen in jedem Punkte Widerspruch erheben und sich nicht[87] im mindesten darum kümmern, ob sie anderen auch keinen Verdruß bereiten, nennt man übellaunig und bärbeißig. Daß nun beide bezeichneten Verhaltungsweisen tadelnswert sind, darüber ist kein Zweifel, und ebensowenig darüber, daß die Mitte dazwischen das Gebotene wäre, wonach man dasjenige billigt, was zu billigen Pflicht ist, und in der Weise wie es Pflicht ist, und in gleichem Sinne verfährt, wo man etwas mißbilligt. Einen besonderen Ausdruck hat man für diese Mitte nicht; nächstverwandt ist sie der Freundlichkeit. Denn wer diese mittlere Linie einzuhalten die Fertigkeit besitzt, das ist der, den wir als den ehrlich gesinnten Freund bezeichnen, indem wir nur noch hinzunehmen, daß er uns in seinem Innern freundlich gesinnt ist. Von der Freundesgesinnung unterscheidet sich seine Art darin, daß bei ihm der Gefühlsaufwand und die liebevolle Zuneigung für die Genossen keine Rolle spielt. Denn nicht aus Zuneigung oder Abneigung verhält er sich zu allen Einzelheiten in der gebührenden Weise, sondern auf Grund seiner Charakterbestimmtheit. Er wird ganz das gleiche Verfahren Unbekannten wie Bekannten, Vertrauten wie Fremden gegenüber innehalten, und nur in jedem einzelnen Falle sich danach richten, wie es sachlich angemessen ist. Denn allerdings ist die Verpflichtung, Rücksichten zu nehmen und niemand Verdruß zu bereiten, fremden Menschen gegenüber nicht ganz dieselbe wie eng vertrauten Menschen gegenüber.

Wir haben im allgemeinen bemerkt, daß ein so gesinnter Mann im Umgang sich benehmen wird wie man sich benehmen soll, und daß er, indem er immer das sittlich Gebotene und das Ersprießliche im Auge behält, darauf abzielen wird, keine peinlichen, sondern vielmehr erfreuliche Empfindungen wachzurufen. Denn im Grunde handelt es sich dabei immer um die angenehmen und verdrießlichen Empfindungen, wie sie im geselligen Umgang sich ergeben. Wenn sich ihm das Streben, einen angenehmen Eindruck hervorzurufen, als unsittlich oder schädlich erweist, so wird er es unterdrücken und sich nicht scheuen, auch unangenehme Empfindungen ausdrücklich zu erregen. Und so wird er die Handlung eines anderen, die Bedenken, und nicht geringes Bedenken, erregt oder gar Schaden einträgt, während der eingelegte Widerspruch doch nur eine geringe Verdrießlichkeit hervorruft, nicht billigen, sondern seiner Mißbilligung offenen Ausdruck verleihen. Im Umgang wird er zwischen hochgestellten und gewöhnlichen Leuten, zwischen näheren und entfernteren Bekannten wohl zu unterscheiden wissen und ebenso die sonstigen Verschiedenheiten beachten. Er wird jeder Klasse von Menschen das erweisen, was ihr gebührt, und während er es an sich vorziehen[88] möchte, mit den anderen sich mitzufreuen, und sich lieber davor hüten möchte Verdruß zu erregen, wird er doch die Folgen, wenn sie irgend schwerer ins Gewicht fallen, ins Auge fassen, / ich denke dabei an das sittlich Gebotene und das Ersprießliche, / und um einer erfreulichen Folge willen, die sich weiterhin als eine beträchtliche erweisen möchte, wird er eine kleine Verdrießlichkeit zu erregen kein Bedenken tragen.

So benimmt sich der, der die rechte Mitte innehält; einen Ausdruck um ihn zu bezeichnen gibt es nicht. Von denen, die sich nur immer beliebt machen wollen, heißt derjenige, der nur darauf zielt sich angenehm zu erweisen, ohne daß ihn ein fremdartiges Motiv triebe, ein gefälliger Mensch; wer es tut um einen Vorteil zu erlangen wie Geld und Geldeswert, ein Schmeichler; dagegen wem nichts recht zu machen ist und wer alles übel nimmt, den haben wir schon als den übellaunigen und bärbeißigen Menschen bezeichnet. Da es aber für das mittlere Verhalten keinen eigenen Ausdruck gibt, so stellt sich der Gegensatz als der zwischen den beiden Extremen dar.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 87-89.
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