c) Wahrhaftigkeit

[89] Auf beinahe dieselben Gegenstände nun bezieht sich auch das mittlere Verhalten zwischen ruhmrediger Vergrößerungssucht und ironischem Verkleinerungsstreben. Auch für dieses gibt es kein eigenes Wort. Es kann aber nicht schaden, auch diese Dinge näher ins Auge zu fassen; denn wir lernen dadurch die sittliche Forderung besser verstehen, indem wir das einzelne durchgehen, und befestigen uns in der Gewißheit, daß das rechte sittliche Verhalten ein Innehalten der rechten Mitte bedeutet, wenn wir sehen, daß es für alle Verhältnisse gleichmäßig gilt.

Davon, wie im geselligen Umgang angenehme und verdrießliche Empfindungen erregt werden, ist die Rede gewesen; wir wollen jetzt von der Wahrhaftigkeit und Unwahrhaftigkeit sprechen, wie sie gleichmäßig im Reden, im Handeln und in der Miene, die man annimmt, hervortritt.

Wer ruhmredig übertreibt, der hat die Absicht, den Schein zu erwecken, als hätte er Eigenschaften, die einem zur Ehre gereichen, während er sie gar nicht oder nur in geringerem Maße hat; wer ironisch redet, sucht umgekehrt die Eigenschaften, die er hat, zu verleugnen oder zu verringern; dagegen der, der in der Mitte zwischen beiden steht, gibt sich wie er ist der Wahrheit gemäß im Leben und in der Rede, indem er sich zu dem bekennt was er wirklich an sich hat, und es weder größer noch kleiner darstellt als es ist. Jede dieser Verhaltungsweisen kann man mit bestimmter Absicht[89] oder ohne solche Absichtlichkeit innehalten. Wo man sich nicht von einer bestimmten Absicht leiten läßt, da redet und handelt und lebt man so wie man innerlich beschaffen ist. Unwahrhaftigkeit ist nun an und für sich etwas Niedriges und Tadelnswertes, dagegen Wahrhaftigkeit edel und löblich. So ist denn auch der, der die Wahrheit sagt, als der, der die Mitte innehält, des Lobes wert; im Gegensätze zu ihm sind diejenigen, die die Unwahrheit sagen, beide tadelnswert, allerdings in höherem Grade der, der es nach Art eines Ruhmredigen tut.

Wir wollen nunmehr von beiden handeln, zuvörderst jedoch von demjenigen, der bei der Wahrheit bleibt. Es ist hier nicht davon die Rede, daß einer bei geschäftlichen Verhandlungen sich wahrhaftig zeigt, noch von einem Verhalten, das unter den Gesichtspunkt der Ungerechtigkeit oder der Gerechtigkeit fällt; / denn das würde eine andere Gattung von sittlichen Eigenschaften betreffen; / sondern von der Wahrhaftigkeit in Wort und Lebensführung in den Fällen, wo kein besonderes Interesse zu wahren ist und wo einer nur seine befestigte Gesinnung bewährt. Ein solcher Mann darf als ein Mann von ehrenwertem Charakter gelten. Denn der Wahrheitsfreund, der auch da wahrhaftig ist, wo keinerlei Interesse ins Spiel kommt, wird da, wo etwas darauf ankommt, erst recht bei der Wahrheit bleiben. Er wird sich vor der Abweichung von der Wahrheit als vor etwas Verwerflichem hüten, wie er sich schon auf Grund seiner Natur davor bewahrte. Ein solcher Mann ist alles Preises wert. Wo er von der Wahrheit abweicht, da neigt er sich eher dazu, in seiner Aussage hinter dem wirklichen Bestande zurückzubleiben; denn das scheint ihm besser angebracht, weil Übertreibung lästig ist. Wer ohne bestimmtes Interesse den Schein erregen will, daß er höheren Wert habe als er wirklich hat, hat zwar eine nahe Verwandtschaft mit niedriger Gesinnung, / denn sonst würde er nicht Freude an der Unwahrhaftigkeit haben, doch erscheint er mehr eitel als schlecht. Tut er's aus Interesse, so ist der nicht übermäßig tadelnswert, der es wie der Renommist des Ruhmes oder der Ehre wegen tut; wer es um Geldes oder um Geldeswertes willen tut, zeigt eine minder anständige Gesinnung. Das großtuerische Wesen beruht nicht auf einer besonderen Anlage, sondern auf ausdrücklichem Vorsatz; denn großtuerisch ist einer vermöge seiner dauernd bewiesenen Haltung, dadurch daß er diesen Charakter angenommen hat, gerade wie auch wer die Unwahrheit sagt, entweder an der Unwahrhaftigkeit selber seine Freude hat oder dabei nach Ansehen oder Gewinn strebt. Diejenigen, die sich großtuerisch benehmen um des Ansehens willen, nehmen[90] den Schein von Eigenschaften an, um deren willen man jemand achtet und glücklich preist: die es des Gewinnes wegen tun, suchen sich den Schein von solchen Eigenschaften beizumessen, von denen auch die Nebenmenschen einen Genuß haben, und deren Nichtvorhandensein sich verbergen läßt, wie die eines kundigen Sehers, eines Weisen oder Arztes. Das ist denn auch meistens der Grund, aus dem die Leute den Schein derartiger Eigenschaften annehmen und damit großtun, und die bezeichneten Motive sind es, die sie dabei leiten. Ihnen gegenüber erscheint der Ironische, der das was er hat in seiner Aussage verkleinert, als ein Mann von gebildeterem Charakter. Denn die Annahme, daß er des Gewinnes halber so spreche, ist nicht gestattet; er will nur das vermeiden, was aufdringlich erschiene. Am meisten lehnen solche Leute das von sich ab, was Ruhm verleiht; so pflegte es ja auch Sokrates zu machen. Leute, die geringfügige und ganz geläufige Eigenschaften zu besitzen vorgeben, nennt man Hans in allen Gassen; ihnen wird am ehesten Geringschätzung zuteil. Bisweilen erscheint es als Großtuerei, z.B. wenn einer sich allzueinfach nach Art der Lakedämonier kleidet. Denn wie in der Übertreibung, so kann man auch in allzuweitem Zurückbleiben sich als großtuerisch erweisen. Wer die Ironie mit verständigem Maße verwendet und sich in bezug auf solches ironisch äußert, was nicht zu klar und offenkundig vor den Füßen liegt, der erscheint als ein feiner und witziger Mensch. Den eigentlichen Gegensatz zum Wahrhaftigen bildet aber augenscheinlich der Ruhmredige; denn er ist der Verkehrtere.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 89-91.
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