b) Das Gerechte im Wiederherstellen

[102] Dies also ist die eine Art des Gerechten; die andere, die noch bleibt, ist die wiederherstellende, wie sie in den geschäftlichen Beziehungen, den frei gewollten und den nicht frei gewollten, zur Erscheinung kommt. Das Gerechte in diesem Sinne trägt einen ganz anderen Charakter als das vorher Behandelte. Denn das Gerechte in der Austeilung dessen was vielen zukommt besteht immer in einem Verfahren, das die vorher charakterisierte Proportion innehält. Wenn eine Geldsumme, an die mehrere einen Anspruch haben, verteilt werden soll, so wird es nach demselben Verhältnis geschehen, in welchem die Beiträge zueinander stehen die jeder geliefert hat; und das Ungerechte, das den Gegensatz zum Gerechten in dieser Bedeutung bildet, ist das was gegen die Proportion verstößt. Das Gerechte dagegen, wie es in den geschäftlichen Beziehungen vorkommt, bedeutet wohl eine Gleichheit, und das Ungerechte eine Verletzung der Gleichheit, aber nicht im Sinne jener Art von Proportion, sondern im Sinne der arithmetischen Proportion. Denn hier macht es keinen Unterschied, ob es ein ehrenwerter Mann ist der einen schlechten, oder umgekehrt ob es ein schlechter Mann ist der einen rechtschaffenen um das seinige gebracht, noch ob ein rechtschaffener oder ein schlechter Mensch den Ehebruch begangen hat; sondern das Gesetz achtet bloß auf den Unterschied in der Größe des Unrechts und des zugefügten Schadens und behandelt die Personen als gleich; es fragt nur, ob der eine Unrecht tut, der andere Unrecht leidet, der eine schädigt, der andere geschädigt worden ist, und darum versucht der Richter aus dem Ungerechten in dieser Bedeutung, welches wider die Gleichheit verstößt, die Gleichheit wiederherzustellen. Hat der eine Wunden empfangen, der andere Wunden ausgeteilt, hat der eine getötet, der andere den Tod erlitten, so ist zwischen dem der die Tat erlitten und dem der sie verübt hat, ein Verhältnis ungleicher Teilung eingetreten, und der Richter versucht vermittels der Strafe die Gleichheit herzustellen, indem er auf der Seite wo der Überschuß an Gewinn ist einen Abzug macht. Denn man spricht aus solchem Anlaß unbedenklich von einem Gewinn, auch wenn das Wort in manchen Fällen eigentlich nicht paßt; z.B. man spricht von Gewinn bei dem, der Wunden ausgeteilt, und von Verlust bei dem, der sie erlitten hat. Aber wenn was einem[102] widerfahren ist dem Maß unterworfen wird, so faßt man das eine als Verlust auf, das andere als Gewinn. Und so ist denn auch hier zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig das Gleiche das Mittlere. Gewinn und Verlust sind einander entgegengesetzt, jener als das Zuviel, dieser als das Zuwenig; das eine als zuviel des Guten und zuwenig des Übels ist Gewinn, das Entgegengesetzte Verlust, dazwischen als das Mittlere das Gleiche und das was wir als das Gerechte bezeichnen. Das wiederherstellende Gerechte wäre demnach das Mittlere zwischen Gewinn und Verlust. Darum nimmt man, wenn man in einen Streit geraten ist, seine Zuflucht zum Richter; zum Richter gehen aber heißt sich an das Gerechte wenden. Denn des Richters Bedeutung ist gleichsam die, das Gerechte in Person zu sein. Man sucht den Richter, wie man das Mittlere sucht; manche Leute nennen ihn geradezu den Mittelsmann, in der Überzeugung, daß einer das Gerechte erlangt, wenn ihm das Mittlere zuteil wird. Das Gerechte ist demnach ein Mittleres, wenn dies doch auch vom Richter gilt. Der Richter stellt Gleichheit her, und wie bei einer in ungleiche Abschnitte geteilten Linie nimmt er vom größeren Abschnitt das Stück hinweg, um das er über die Mitte hinausreicht, und fügt es zum kleineren Abschnitt hinzu. Wenn aber ein Ganzes unter zwei geteilt wird, so sagt man, man habe dann bekommen was einem gebührt, wenn man das Gleiche erhält wie der andere; das Gleiche aber ist das nach arithmetischer Proportion Mittlere zwischen dem Zugroßen und dem Zukleinen. Eben daraus erklärt sich der Ausdruck für das Gerechte (dikaion) er bedeutet die Zweiteilung (dicha) er müßte also eigentlich dichaion, und das Wort für Richter dikastês, eigentlich dichastês lauten. Wenn man nämlich bei zwei gleichen Größen von der einen ein Stück fortnimmt und es der anderen hinzufügt, so ist die letztere um das Zweifache dieses Stückes größer geworden als die andere. Nähme man nur das Stück von der einen fort, ohne es zur anderen hinzuzufügen, so würde die eine Größe die andere nur um dieses Stück übertreffen; so aber ist die vermehrte Größe um dieses eine Stück größer als die Hälfte und die Hälfte wieder um dasselbe Stück größer als der kleinere Teil. Daraus also ersieht man, wie viel man dem der zuviel hat abnehmen und wieviel man dem der zuwenig hat zuweisen muß. Das Stück, um das die Hälfte größer ist als der Anteil dessen der zuwenig hat, muß man diesem zulegen, und das Stück, um das die Hälfte von dem größten Anteil übertroffen wird, muß man von diesem fortnehmen. Gegeben seien drei gleiche Linien:

b) Das Gerechte im Wiederherstellen

[103]

AB, CD und EF; schneidet man von AB ein Stück GB ab, fügt man dann zu EF das Stück FJ = GB hinzu, so ist die ganze Linie EJ um das Stück HF + FJ = 2 GB größer als AG, und um das Stück FJ größer als CD.

Diese Ausdrücke: Gewinn und Verlust, sind von dem freiwilligen Austausch der Güter hergenommen. Gewinn nennt man den Zuwachs an den Gütern, die einer besitzt; Verlust erleiden heißt weniger haben, als man ursprünglich hatte. So ist es bei Kauf und Verkauf und bei den anderen Geschäften, bei denen das Gesetz dem Privatwillen seine Genehmigung gewährt hat. Erlangt man dabei weder einen Überschuß noch eine Minderung, sondern nur eben das was man hingegeben hat, so sagt man, man behalte was man hat und erfahre weder Verlust noch Gewinn. Das Gerechte ist daher in den nicht auf Freiwilligkeit beruhenden geschäftlichen Beziehungen ein Mittleres zwischen Gewinn und Verlust, also dies, daß man nachher das gleiche hat wie vorher.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 102-104.
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