c) Vergeltung, Austausch

[104] Manche sind der Ansicht, auch die Wiedervergeltung, Gleiches für Gleiches, sei ohne weiteres ein Gerechtes. So lehrten die Pythagoreer; sie bestimmten den Begriff des Gerechten schlechthin als die Vergeltung für das einem anderen Zugefügte. Dieser Begriff der Vergeltung paßt aber weder auf das austeilende, noch auf das wiederherstellende Gerechte; obwohl man gemeinhin auch das Gerechte im Sinne des Rhadamanthys mit diesem Begriffe bezeichnen möchte:


Wem widerfährt, was er tat, dem wird das grade, was recht ist.


Beides geht indessen oftmals weit auseinander. So wenn jemand, der ein Amt führt, einen schlägt, dann ist diesem nicht gestattet wieder zu schlagen, und wenn jemand einen der ein Amt hat geschlagen hat, so muß er nicht bloß Schläge wieder erhalten, sondern auch noch sonstige Strafe erleiden. Einen großen Unterschied macht es ferner, ob die Handlung freiwillig oder unfreiwillig war. Aber in dem auf Austausch gerichteten Verkehr ist das, was den Verkehr aufrecht erhält, das Gerechte in dieser Form, die Vergeltung nach Proportion, und nicht die nach einfacher Gleichheit. Vergeltung nach Proportion ist die Bedingung für den Bestand der Staatsgemeinschaft.[104] Denn Vergeltung wird entweder für Übeltat begehrt, und fiele sie hier fort, so wäre es der Zustand der Knechtschaft, falls es keine Vergeltung gibt, oder für Wohltat, und unterbleibt sie hier, so hört jede Art von Hingebung auf; durch solche Hingebung aber erhält sich das Gemeinschaftsleben. Darum stellt man auch den Menschen ein Heiligtum der Huldgöttinnen in den Weg, um den Dank für erfahrene Huld einzuschärfen. Denn das ist des Dankes eigenstes Wesen; wer Huld erwiesen hat, dem muß man wieder dienen und ihm gegenüber selbst wieder mit Hulderweisung von vorne beginnen.

Es ist wie ein Entsprechen nach Art der Diagonalen eines Parallelogramms, die sich kreuzen, was die Wiedervergeltung nach Proportion ausmacht. Man nehme einen Baumeister A, einen Schuhmacher B, ein Haus C und Schuhzeug D. Der Baumeister bedarf dessen was der Schuhmacher produziert, und muß diesem dafür abtreten was er selbst produziert. Ist nun zunächst das nach Proportion Gleiche festgestellt und findet danach der Entgelt statt, so ist dieser Vorgang der von uns bezeichnete. Mangelt es daran, so findet keine Gleichheit statt, und der Austausch läßt sich nicht aufrecht erhalten; denn da hindert nichts, daß das Erzeugnis des einen das des anderen an Wert übertreffe. Es muß also Gleichheit zwischen beiden ausdrücklich hergestellt werden. Dasselbe findet auch auf den anderen Gebieten der Produktion statt. Sie würde unmöglich gemacht, wenn nicht das was der Produzent nach Quantität und Qualität herstellt, von den Konsumenten in gleicher Quantität und Qualität zurückerstattet würde.

Ein Arzt und noch ein Arzt ergeben keine Gemeinschaft des Austausches, aber wohl ein Arzt und ein Landwirt, und überhaupt zwei Personen, die nicht gleich sind; aber zwischen diesen muß dann eine Ausgleichung stattfinden. Darum muß alles, was ausgetauscht werden soll, irgendwie vergleichbar sein. Dazu nun ist das Geld in die Welt gekommen, und so wird es zu einer Art von Vermittler; denn an ihm wird alles gemessen, also auch das Zuviel und Zuwenig: etwa welches Quantum von Schuhzeug einem Hause oder einem Quantum von Lebensmitteln gleich zu setzen ist. Es muß also der Unterschied zwischen dem Schuhzeug und dem Hause oder den Lebensmitteln ebensogroß sein, wie der Unterschied zwischen dem Baumeister und dem Schuhmacher oder dem Landwirt. Findet diese Gleichheit nicht statt, so gibt es keinen Austausch und keinen Verkehr, und diese Gleichheit kann nicht stattfinden, wenn es kein Mittel gibt, das Gleiche zu bestimmen. Es bedarf also eines einzigen allgemeinen Wertmessers, wie vorher gezeigt[105] worden ist. Es ist aber in Wirklichkeit das Bedürfnis, das alles zusammenhält. Gäbe es keine Bedürfnisse oder gäbe es darin kein Gleich wider Gleich, so gäbe es keinen Austausch oder doch keinen von der gegebenen Art. So hat man denn durch Übereinkunft das Geld eingeführt gleichsam als Unterlage für den Austausch der Gegenstände des Bedürfnisses, und den Namen nomisma hat das Geld davon erhalten, daß es nicht der Natur, sondern dem Gesetz (nomos) seine Existenz verdankt und es in unserer Macht steht, es umzuändern und es außer Kurs zu setzen.

Es wird demnach ein Entgelt hergestellt werden, wenn Gleichheit hergestellt ist, so daß der Unterschied, der zwischen dem Landwirt und dem Schuhmacher vorhanden ist, ebenso als Unterschied zwischen dem Produkt des Schuhmachers und dem des Landwirts wiederkehrt. Indessen darf man sie nicht erst dann, wenn sie den Austausch schon vollzogen haben, auf das Schema der Proportion zurückführen wollen, beobachtet man das nicht, so erhält das eine von den beiden äußeren Gliedern die beiden über die Mitte überschießenden Stücke, sondern solange sie noch im Besitze ihrer Erzeugnisse sind. In dieser Weise sind sie gleich, und sie stehen in Verkehrsgemeinschaft, weil diese Gleichheit durch sie hergestellt werden kann. Der Landwirt sei A, das Getreide C, der Schuhmacher B; dann wird sein Produkt D dem Getreide gleichwertig gemacht. Gäbe es keine Möglichkeit, diese Gleichwertigkeit des Entgelts herzustellen, so gäbe es keine Gemeinschaft des Verkehrs. Daß aber das Bedürfnis es ist, was sie zusammenhält wie ein einiges Ganzes, das zeigt sich darin, daß es zu keinem Austausch kommt, wenn sie beide gegenseitig, oder der eine von ihnen, was der andere hat, nicht bedürfen; ebensowenig wie es bei freigegebener Getreideausfuhr dazu kommt, wenn der Produzent des Getreides Wein bedarf und der andere keinen hat.

Es muß also darin eine Gleichheit hergestellt werden. Zum Zwecke des künftigen Austausches, wenn gegenwärtig kein Bedarf vorhanden ist, d.h. also damit der Austausch dann stattfinden kann, wenn der Bedarf eintritt, dient uns das Geld gewissermaßen als Bürge. Denn man muß was man braucht erlangen können, indem man Geld dafür zahlt. Allerdings erfährt das Geld denselben Wandel in der Nachfrage und vermag auch nicht immer den gleichen Wert zu bewahren; indessen, darin liegt seine Bedeutung, daß sein Wert weniger schwankt. Es muß darum alles seinen bestimmten Preis haben; denn nur unter dieser Bedingung wird es immer einen Austausch geben, und wenn diesen, auch eine Gemeinschaft des Verkehrs. Das also ist die Funktion, die das Geld übt; es ist ein Maß, das alle Güter kommensurabel[106] macht und so die Gleichheit herzustellen ermöglicht. Ohne Austausch kein Verkehr, ohne Gleichheit kein Austausch, ohne gemeinsames Maß keine Gleichheit, in Wirklichkeit nun ist es allerdings nicht möglich, daß das was so verschieden ist, kommensurabel werde; aber wohl läßt es sich in einer für das Bedürfnis ausreichenden Weise herstellen. Dazu also muß es ein einheitliches Maß geben und zwar durch Übereinkunft, und deshalb heißt es Geld, nomisma, »was nach Satzung gilt«. Das Geld macht alle Dinge kommensurabel; denn durch Geld werden alle Dinge gemessen. Das Haus sei A, 10 Minen B, das Bett C; dann ist, wenn das Haus 5 Minen wert, mit anderen Worten = 5 Minen ist, A die Hälfte von B. Das Bett C aber sei 1/10 von B: dann ergibt sich daraus, wie viel Betten einem Hause gleich kommen, nämlich 5. Man begreift, daß bevor das Geld existierte der Austausch sich in der letzteren Weise vollzog, denn der Sache nach ist es eines und dasselbe, ob man für ein Haus 5 Betten oder den Preis von 5 Betten hergibt.

Damit hätten wir denn den Begriff dessen was gerecht und was ungerecht ist, bezeichnet. Auf Grund der gegebenen Bestimmungen ergibt sich, daß die gerechte Handlungsweise die Mitte bezeichnet zwischen dem Unrechttun und dem Unrechtleiden. Das erstere bedeutet, für sich zuviel nehmen, das letztere zuwenig bekommen. So ist denn die Gerechtigkeit als Charaktereigenschaft das innehalten der Mitte; aber sie ist es nicht in demselben Sinne wie die anderen Arten der sittlichen Gesinnung, sondern in dem Sinne, daß sie die Mitte des Gegenstandes trifft, während die Ungerechtigkeit die jenseits und diesseits der Mitte liegenden Quanta des Gegenstandes anstrebt. Gerechtigkeit nun ist die Gesinnung, vermöge deren der Gerechte ein solcher Mann heißen darf, der Gerechtes mit bewußtem Vorsatz tut und, wo es sich um das Zuerteilen handelt, für sich im Verhältnis zum anderen, und für den anderen im Verhältnis zum dritten, nicht so verfährt, daß er von dem was begehrenswert ist sich selbst zuviel und dem Nächsten zuwenig zuwendet, und bei dem was eine Schädigung bedeutet es in umgekehrter Weise macht, sondern so daß er das nach Proportion Gleiche innehält für sich und ebenso für den anderen im Verhältnis zu einem dritten. Die Ungerechtigkeit aber ist die dieser entgegengesetzte Gesinnung des ungerechten Mannes, und das bedeutet im Gegensatze zur Forderung der Proportionalität die Richtung auf das Zuviel und das Zuwenig in Vorteil und Nachteil. Daher ist die Ungerechtigkeit selbst ein Zuviel und ein Zuwenig, weil sie auf das Zuviel und Zuwenig gerichtet ist, auf das Zuviel von dem, was ohne weiteres einen Vorteil, und auf das Zuwenig von dem, was einen Nachteil bedeutet,[107] wo es die eigene Person gilt, und ebenso in der Behandlung der anderen, wo es im ganzen auf dasselbe hinausläuft, gleichviel ob die Verletzung der Proportionalität in der einen oder der anderen Richtung geschieht. Wo ein ungerechtes Verfahren vorliegt, da gibt es ein Unrechtleiden, wenn man zuwenig empfängt, und ein Unrechttun, wenn man für sich zuviel nimmt.

Damit darf die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit einerseits, der Ungerechtigkeit andererseits, und ebenso die nach dem Wesen des Gerechten und Ungerechten überhaupt als erledigt gelten.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 104-108.
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