c) Das Unrecht

[111] Ist nun der Begriff des Rechtlichen und des Widerrechtlichen der bezeichnete, so vollzieht man eine unrechtliche oder eine rechtliche Handlung nur so, daß man es mit freiem Willen tut; wenn ohne freien Willen, so ist es so wenig eine unrechtliche wie eine rechtliche Handlung, oder doch beides nur zufälligerweise; denn da tut man was zufällig mit dem Recht zusammentrifft oder ihm widerspricht. Der Charakter einer unrechtlichen wie der einer rechtlichen Handlung bestimmt sich also danach, ob sie mit freiem Willen oder ohne freien Willen getan ist, ist eine Handlung frei gewollt, so erregt sie Mißfallen, und dann ist sie zugleich auch eine unrechtliche Handlung. Es gibt also solches was wider das Recht verstößt und was doch keine unrechtliche, keine schuldvolle Handlung ausmacht, und zwar dann wenn es nicht auch ein frei Gewelltes ist. Frei gewollt aber nenne ich, wie schon früher dargelegt worden ist, dasjenige was einer, als in seiner Macht stehend, mit Wissen tut und frei von Irrtum über die Person, die die Handlung betrifft, über das Werkzeug, womit sie vollbracht wird, und über den Zweck, zu dem sie geschieht: so daß er z.B. weiß, wer es ist, den er schlägt, welches das Werkzeug und welches der Zweck, und daß bei dem allen ebenso der bloße Zufall wie der äußere Zwang ausgeschlossen ist. Ein Zwang von der Art wie wenn ein anderer seine Hand nähme und jemanden damit schlüge, höbe den Willen auf; denn dann läge es nicht in seiner Macht. Der Geschlagene kann andererseits sein Vater sein, jener aber zwar wissen, daß es ein Mensch und einer der Anwesenden ist, und doch nicht wissen, daß es sein Vater ist. Entsprechende Bestimmungen dürfen auch für den Zweck wie für alle Umstände gelten, unter denen die Handlung geschieht.

Was nun auf Grund eines Irrtums geschieht, oder zwar nicht auf Grund[111] eines Irrtums, aber doch so daß es nicht in der Gewalt des Handelnden stand, oder was infolge eines Zwanges geschieht, das ist nicht frei gewollt. Denn wir tun und leiden mancherlei, auch da wo es sich um solches handelt was die Natur mit sich bringt, wovon sich weder sagen läßt, daß es frei gewollt noch daß es nicht frei gewollt ist, wie z.B. daß wir altern und sterben. Bei dem unrechtlichen und bei dem rechtlichen Handeln nun steht es, auch was die Zufälligkeit anbetrifft, ebenso. Es kann einer ein Depositum ohne seinen Willen und aus Furcht zurückerstatten, von einem solchen dürfte man weder sagen, daß er rechtlich handle noch daß er die rechtliche Anforderung erfülle, oder doch nur daß es durch bloßen Zufall so sei. Ebenso muß man von dem, der unter der Macht des Zwanges und wider seinen Willen die Zurückerstattung eines Depositums unterläßt, sagen, es sei nur durch Zufall, daß er unrechtlich handle und tue was wider das Recht ist.

Von unseren freigewollten Handlungen vollziehen wir die einen mit Vorsatz, die anderen ohne Vorsatz; mit Vorsatz diejenigen, die aus vorhergehender Überlegung entspringen, ohne Vorsatz diejenigen, denen eine Überlegung nicht vorhergeht. In dem Verkehr der Menschen untereinander kann also die Schädigung des einen durch den anderen in drei Formen erfolgen. Die eine ist ein Versehen infolge eines Irrtums; da handelte jemand ohne daß er wußte, welche Person noch welche Sache seine Handlung betraf, noch mit welchen Hilfsmitteln oder zu welchem Zwecke er sie vollbrachte. Es meinte etwa einer, er werfe nicht, oder nicht mit diesem Werkzeug, oder nicht diese Person, oder nicht in dieser Absicht; der Erfolg aber war nicht der, um dessen willen er zu handeln dachte; z.B. er handelte nicht um jemand zu verwunden, sondern bloß um ihn zu necken, oder nicht diese Person oder nicht mit diesem Werkzeug. Geschieht nun der Eingriff in fremdes Recht wider das was man voraussehen konnte, so ist es ein bloßer Unfall. Geschieht sie nicht wider solche mögliche Voraussicht, aber doch ohne rechtswidrige Gesinnung, so ist es Fahrlässigkeit; denn ein fahrlässiges Vergehen liegt vor, wo der Anstoß zum Kausalverlauf vom Täter, ein Unfall, wo er von einem Äußeren stammt. Hat er mit Bewußtsein, aber ohne Vorbedacht gehandelt, so ist es ein Unrecht von der Art, wie man es im Zorne und in sonstigen Affekten begeht, die einen Menschen mit Notwendigkeit oder doch der menschlichen Natur gemäß befallen. Wenn man in dieser Weise andere schädigt und sich vergeht, so tut man zwar unrecht und begeht einen Eingriff in fremdes Recht; aber man ist deshalb noch kein Mensch von widerrechtlicher und auch nicht von niedriger Gesinnung; denn die Schädigung[112] ist nicht aus niedriger Gesinnung hervorgegangen. Geschieht sie dagegen mit Vorbedacht, dann zeigt der Täter eine widerrechtliche und niedrige Gesinnung. Mit Recht beurteilt man darum Handlungen im Affekt nicht als vorbedachte; denn der schuldige Teil ist hier nicht eigentlich der der im Affekte handelt, sondern der den Affekt hervorgerufen hat. Dabei wird nun ferner auch nicht über den Tatbestand gestritten, sondern über die Frage, ob der Täter recht getan hat. Denn in Zorn gerät man über eine vermeintlich erfahrene Verletzung. Da streiten nicht, wie bei Rechtsgeschäften, die Parteien, von denen die eine, falls sie nicht aus reiner Vergeßlichkeit handeln, notwendig schlechtgläubig ist, über den Tatbestand; sondern während man über die Sachlage gleicher Meinung ist, streitet man darüber, auf welcher Seite das Recht liegt. Wo einer auf Schädigung des anderen ausgeht, ist Irrtum ausgeschlossen; dort aber glaubt der eine in seinem Rechte geschädigt zu sein, während der andere es bestreitet. Wenn einer vorsätzlich den andern schädigt, dann handelt er unrechtlich, und solchen unrechtlichen Handlungen zufolge ist derjenige der sie begeht ein unrechtlich gesinnter Mann, sofern er in seiner Handlungsweise gegen die Gleichheit nach Proportion oder gegen die einfache Gleichheit verstößt; und ebenso ist einer ein rechtlich gesinnter Mann, wenn sein Vorsatz ausdrücklich darauf gerichtet ist, das Recht innezuhalten. Dagegen dazu daß er das Recht innehält gehört nur dies, daß er frei wollend handelt.

Unter den nicht frei gewollten Handlungen sind solche, denen man eine nachsichtige Beurteilung gewährt, andere, denen man sie versagt. Die Verstöße gegen das Recht, die nicht bloß im Irrtum, sondern auf Grund des Irrtums begangen werden, verdienen solche Nachsicht; diejenigen, die man nicht auf Grund des Irrtums, sondern zwar im Irrtum, aber auf Grund eines Affektes begeht, der weder naturgemäß noch einem Menschen zuzutrauen ist, erlangen solche nachsichtige Beurteilung nicht.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 111-113.
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