c) Rechtliche Gesinnung

[115] Was also das Unrechtleiden anbetrifft, so leuchtet ein, daß man Unrecht nicht mit Willen leidet. Nun bleiben aber von dem was wir uns vorgesetzt haben, noch zwei Punkte zu erörtern. Handelt derjenige unrechtlich, der dem anderen mehr zuerteilt als ihm zukommt? oder der andere, der es empfängt? Und zweitens, ist es möglich, sich selbst Unrecht zu tun? Wenn nämlich möglich ist, was wir vorher bezeichnet haben, und wenn derjenige unrechtlich handelt, der dem anderen zuviel zuerteilt, und nicht derjenige, der es empfängt, so tut einer sich selbst Unrecht, wenn er mit Wissen und Wollen dem anderen von dem Seinigen zuviel zuerteilt. So aber verfahren, sollte man denken, gerade rechtlich gesinnte Leute; denn ein billig denkender Mann hat eher die Neigung, für sich zu wenig zu beanspruchen. Oder läßt sich auch das nicht so schlechthin sagen? Ein solcher Mann nimmt ja dafür von einem anderen Gute wo möglich mehr in Anspruch, etwa Ehre oder sonst ein an und für sich wertvolles Gut. Die Lösung liegt in dem was über den Begriff der unrechtlichen Handlung gesagt worden ist. Denn es widerfährt einem nichts wider den eigenen Willen; es ist also kein Unrecht was er deshalb erleidet, sondern wenn irgend etwas, dann doch immer nur eine Schädigung. Offenbar aber ist es jedesmal der Zuerteilende, der Unrecht tut, und nicht der zuviel Empfangende; denn nicht derjenige handelt unrechtlich, bei dem das was wider das Recht ist sich findet, sondern derjenige, bei dem sich der Wille findet, das Widerrechtliche zu tun; dies aber findet sich bei dem, dem die Urheberschaft der[115] Handlung zukommt, und diese kommt dem Zuerteilenden zu und nicht dem Empfangenden.

Ferner spricht man von einem Tun in mehrfachem Sinne. Man sagt von unbeseelten Dingen, daß sie töten; man sagt es von der Hand; man sagt es auch von dem Sklaven, der tut, was ihm sein Herr befohlen hat. Da begeht also einer, während er tut was wider das Recht ist, doch keine unrechtliche Handlung. Wenn ferner jemand im Irrtum über die Einzelheiten des Falles ein Urteil fällt, so vergeht er sich nicht gegen das gesetzliche Recht und sein Urteil ist nicht unrechtlich, es sieht nur aus wie ein unrechtliches Urteil. Denn das eine ist das gesetzliche, das positive Recht, und das andere das natürliche, das materielle Recht. Hat einer dagegen einen ungerechten Spruch wissentlich gefällt, so ist es auch bei diesem ein selbstsüchtiges Streben was ihn leitet, Gunst bei der einen oder Rache an der anderen Partei; also hat derjenige, der aus solchen Gründen einen ungerechten Spruch fällt, ganz so als ob er vom ungerechten Gut einen Teil an sich gebracht hätte, ein Zuviel für sich genommen. Hat doch auch einer, der in solchem Sinne über das Eigentum an einem Acker entschieden hat, nicht den Acker bekommen, sondern Geld.

Die Menschen nun meinen, es stehe in ihrer Gewalt sich gegen das Recht zu vergehen; darum sei es auch leicht, rechtlich zu verfahren. Indessen, so liegt die Sache doch nicht. Allerdings, mit der Frau des Nachbarn Umgang zu haben, seinen Nächsten zu schlagen, jemandem Bestechung in die Hand zu drücken, ist leicht und steht in der Menschen Gewalt; aber dergleichen zu tun wenn man eine feste Charakterbeschaffenheit hat, ist weder leicht noch steht es in der Menschen Gewalt. Ebenso meint man, es sei keine besondere Wissenschaft, zu wissen was Recht und was Unrecht ist, weil es nicht schwierig sei zu verstehen, was die Gesetze bestimmen. Allein darin besteht nicht das Recht, oder es bestellt darin doch nicht hauptsächlich. Sondern wie man handeln und wie man sich beim Zuerteilen verhalten muß, damit eine dem Recht gemäße Handlung zustande komme, das ist die Aufgabe und noch schwieriger als zu wissen was der Gesundheit zuträglich ist. Auch hier ist es leicht zu wissen, was Honig, was Wein, was Nieswurz, was Brennen und Schneiden ist; aber wie man das zum Zwecke der Gesundheit anzuwenden hat, bei welcher Person, zu welcher Zeit, das ist eine so schwere Aufgabe, daß man dazu ein gelernter Arzt sein muß. Aus eben demselben Grunde meint man wohl, es stehe in eines rechtschaffenen Mannes Vermögen, eben sowohl auch widerrechtlich zu handeln; ein rechtschaffener Mann habe[116] nicht desto weniger, sondern eher noch desto mehr, das Vermögen, alle derartigen Handlungen zu begehen, auch mit dem Weibe eines andern zu leben und einen anderen zu schlagen; ein tapferer Mann könne ebensogut den Schild wegwerfen, den Rücken kehren und beliebig wohin davon laufen. Indessen ein feiger Mensch sein, oder widerrechtlich leben, das bedeutet doch nicht solche Handlungen begehen, oder bedeutet es doch nur als beiläufige Folge; sondern es bedeutet so handeln auf Grund einer bestimmten Gesinnung, wie auch Arzt sein und gesund machen nicht heißt schneiden oder nicht schneiden, Arzenei verordnen oder nicht verordnen, sondern diese bestimmte Beschaffenheit haben.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 115-117.
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