d) Unrecht gegen den Einwilligenden

[113] Eine Schwierigkeit könnte man darin finden, ob die Begriffe Unrecht erleiden und Unrecht tun hinlänglich genau bestimmt worden sind, und zunächst ob ein Fall denkbar ist, wie Euripides ihn schildert, der sich seltsam genug so ausdrückt:


Die eigne Mutter tötet' ich, ein kurzes Wort!

Wollend gleich ihr? nicht wollend die nicht wollende?


Denn ist es wirklich möglich, mit seinem Willen schuldvolles Unrecht zu[113] leiden? Oder geschieht es nicht vielmehr immer wider Willen, gerade wie andererseits das schuldvolle unrechtliche Handeln immer mit Willen geschieht? Und sollte es sich damit immer auf diese oder jene Weise verhalten, so daß es immer gewollt oder nicht gewollt wäre, wie das unrechtliche Handeln immer frei gewollt ist? oder ist es bald frei gewollt, bald nicht? Die gleiche Frage erhebt sich dann auch in dem Fall, wo einem sein Recht wird. Denn alle Erfüllung des Rechts geschieht frei wollend, und es liegt deshalb die Annahme nahe, daß der Gegensatz auf beiden Seiten der gleiche sei und daß ungerecht behandelt werden und sein Recht erhalten beides entweder frei gewollt oder nicht gewollt sei. Indessen scheint es undenkbar, auch da wo einem sein Recht wird, daß es einem immer mit seinem Willen geschehe; denn es kommt vor, daß einem sein Recht wird, ohne daß er es will.

Weiter kann man auch die Frage aufwerten, ob jedem das Unrecht, das ihm widerfahren ist, durch eine unrechtliche Handlung widerfahren ist, oder ob es mit dem Erleiden eines Unrechtes ebenso ist wie mit dem Zufügen. Denn in beiden Fällen, ob einem Unrecht widerfährt oder ob einer es anderen zufügt: die Möglichkeit ist immer gegeben, daß man das Recht nur zufällig treffe oder erlange, und offenbar ist es beim Unrecht ganz ähnlich. Bedeutet doch in seinem Handeln das Recht verletzen nicht dasselbe, wie unrechtlich handeln, und Unrecht erfahren nicht dasselbe wie eine unrechtliche Handlung erleiden. Das gleiche gilt wo die Rechtsvorschrift erfüllt wird und wo einer sein Recht erlangt. Denn es ist unmöglich, daß einer eine unrechtliche Handlung erleide, wo nicht einer ist, der unrechtlich handelt, oder daß einer rechtlich behandelt werde, wo nicht einer da ist, der rechtlich verfährt. Bedeutet aber unrechtlich handeln ohne weiteres, frei wollend einen anderen an seinem Rechte kränken, und bedeutet dies frei wollend tun so viel wie es mit Kenntnis der Person, des Werkzeugs und der Art und Weise tun; schädigt ferner wer sich nicht zu beherrschen weiß sich selbst mit freiem Wollen: so würde dieser mit Willen Unrecht leiden, und mithin wäre es möglich, daß einer sich selbst Unrecht tue. Es ist aber auch dies eine der aufgeworfenen schwierigen Fragen, ob einer sich selbst Unrecht zuzufügen vermag, und andererseits könnte auch der Fall vorkommen, daß einer der sich nicht in der Gewalt hat, mit seinem Willen von einem anderen mit dessen Willen geschädigt wird, und so wäre es wieder möglich, mit Willen Unrecht zu leiden. Oder sollte etwa die Begriffsbestimmung des wissentlichen Unrechts nicht zutreffend sein, sondern sollte es noch des Zusatzes bedürfen, daß wenn einer mit Kenntnis der Person des[114] Werkzeugs und der Art und Weise den andern schädigt, es auch noch gegen den Willen des anderen geschehen muß? Es kommt nun wohl vor, daß jemand mit Willen an seinem Recht geschädigt wird und Unrecht erleidet; aber niemand erleidet mit Willen eine unrechtliche Handlung. Denn niemand, auch nicht der Mensch ohne Selbstbeherrschung, hat den Willen, Unrechtliches zu erdulden; er handelt nur gegen seinen eigenen Willen. Denn niemand will etwas, dem er nicht einen Wert beilegt, und auch der Unenthaltsame tut bloß nicht, was er zu tun für geboten hält. Wer aber das Seinige weggibt, wie Homer erzählt daß Glaukos es dem Diomedes gegenüber getan habe, »Gold für Erz, was hundert an Wert, für solches was neun wert«, dem widerfährt kein Unrecht. Denn wohl steht es bei ihm fortzugeben; aber eine unrechtliche Behandlung zu erfahren, das steht nicht bei ihm; sondern dazu gehört, daß einer da sei, der eine unrechtliche Handlung begeht.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 113-115.
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