g) Billigkeit

[117] Das Erörterte fordert seine Ergänzung in einer Ausführung über den Begriff der Billigkeit und des Billigen und über das Verhältnis der Billigkeit zur Gerechtigkeit und des Billigen zum Gerechten. Genauere Erwägung zeigt, daß das Billige weder schlechthin dasselbe ist wie das Gerechte, noch der Gattung nach davon verschieden ist. Zuweilen gewinnt das Billige und der billiggesinnte Mann unsere Zustimmung, so daß wir den Begriff mit unserem Beifall auch auf andere Gebiete übertragen und es als das Gute über haupt fassen und das in höherem Grade der Billigkeit Entsprechende als das Bessere anerkennen. Zuweilen aber erscheint es, indem man sich streng an das Wort hält, unstatthaft, daß das Billige Zustimmung verdienen soll, wenn es doch wider das Gerechte ist. Entweder sei das Gerechte nichts wert, oder das Billige sei nicht gerecht, wenn es ein anderes ist als das Gerechte; oder wenn beide wertvoll seien, so seien sie dasselbe. Das etwa sind die Erwägungen, aus denen sich die Bedenken, die das Billige erregt, ergeben. Indessen, wenngleich das alles in gewissem Sinne richtig ist, es ist doch kein eigentlicher Gegensatz zwischen beiden. Das Billige, indem es besser[117] ist als eine gewisse Art des Gerechten, ist selbst ein Gerechtes; es ist nicht, als gehörte es einer anderen Gattung an, besser als das Gerechte. Es ist also Gerechtes und Billiges dasselbe, und während beide wertvoll sind, ist das Billige das Höherstehende von beiden.

Was die Schwierigkeit dabei ausmacht, ist dies, daß das Billige wohl ein Gerechtes ist, aber nicht das Gerechte im Sinne des positiven Gesetzes, sondern im Sinne einer Verbesserung des nach dem Gesetze Gerechten. Der Grund liegt darin, daß jedes Gesetz eine allgemeine Bestimmung ist, manche Fälle aber nicht nach einer solchen allgemeinen Bestimmung richtig behandelt werden können. In solchen Fällen nun, wo man eine allgemeine Bestimmung festsetzen muß und eine solche doch nicht zutreffend abzugeben vermag, erfaßt das Gesetz den Durchschnitt der Fälle, wohl wissend, was darin für ein Fehler begangen wird. Und doch verfährt es deshalb nicht weniger richtig. Denn der Fehler liegt nicht am Gesetz, auch nicht am Gesetzgeber, sondern in der Natur der Sache. Das Material für alles praktische Verhalten ist nun einmal von dieser Beschaffenheit. Wenn also das Gesetz eine allgemeine Bestimmung trifft, ein einzelner Fall aber vorkommt, auf den die allgemeine Bestimmung nicht paßt, dann ist es ganz angemessen, da wo der Gesetzgeber versagt und mit der allgemeinen Bestimmung dieser Art den besonderen Fall nicht getroffen hat, das von ihm Übersehene zu ergänzen durch einen Spruch, wie ihn der Gesetzgeber selbst fallen würde, wenn er zugegen wäre, und wie er die Bestimmung getroffen haben würde, wenn er den Fall vorausgesehen hätte. Daher ist das Billige ein Gerechtes und besser als eine gewisse Art des Gerechten, nicht als das Gerechte schlechthin, sondern als das die Sache nicht Treffende, was in der Allgemeinheit der Bestimmung seinen Grund hat.

Das also ist das Wesen des Billigen, eine Ergänzung des Gesetzes zu bilden, wo es wegen seines Charakters als allgemeiner Bestimmung unzulänglich ist. Darin liegt der Grund auch dafür, daß nicht alles durch Gesetz festgelegt ist. Es gibt manches, was durch ein Gesetz zu treffen unmöglich ist, so daß es einer Spezialbestimmung bedarf. Denn für die Behandlung des Unbestimmten ist auch der Maßstab unbestimmt, wie bei der auf Lesbos üblichen Bauweise auch das Richtscheit, das von Blei ist. Wie dieses sich der Form des Steines anschmiegt und nicht starr verharrt, ebenso macht es ein Spezialgesetz mit den realen Verhältnissen.

Man sieht also, was das Wesen des Billigen ist, und daß es ein Gerechtes und besser ist als ein Gerechtes von gewisser Art. Daraus geht denn auch[118] hervor, wer ein billig gesinnter Mann ist. Billigkeit liebt, wer jenes Billige mit Vorsatz anstrebt und ausübt, wer nicht in pedantischer Strenge den Rechtssatz zum Schlimmeren auslegt, sondern ihn zu mildern geneigt ist auch da wo er das Gesetz auf seiner Seite hätte. Diese Gesinnung nennt man Billigkeit. Sie ist eine Art der Gerechtigkeit, und nicht eine von dieser verschiedene Denkungsart.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 117-119.
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