1. Der Intellekt und seine Vermögen

[122] Wir haben oben auseinandergesetzt, daß die sittliche Aufgabe darin besteht, die rechte Mitte innezuhalten und ebenso das Zuviel wie das Zuwenig zu meiden, daß aber diese Mitte zu finden Sache rechten Denkens ist. Wir haben mithin jetzt dieses letztere genauer zu bestimmen. In allen den Formen sittlicher Willensbestimmtheit, von denen die Rede gewesen ist, gibt es gerade so wie auch bei anderen Eigenschaften ein Ziel, auf das hinblickend das Subjekt vermittels des Vermögens der Vernunft seine Kräfte anspannt oder nachläßt. Und so gibt es denn auch eine begriffliche Bestimmung für jeden Fall der richtigen Mitte, die, wie wir gesehen haben, indem sie der rechten Vernunft entspricht, zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig liegt, indessen, wenn die Fassung des Satzes auch an sich zutreffend ist, so hat sie doch keineswegs schon ein hinlängliches Maß von Genauigkeit. Auch auf anderen Gebieten menschlicher Tätigkeit, für die es eine wissenschaftliche Regel gibt, ist es ganz ebenso die gültige Wahrheit, daß man in der Anwendung seiner Kräfte wie in der Zerstreuung weder zuviel noch zuwenig tun, sondern das Mittelmaß innehalten soll, so wie es der rechten Vernunft entspricht. Wenn aber einer bloß diesen Satz innehätte, so wäre er deshalb um nichts klüger; er wäre in derselben Lage, wie wenn einer auf die Frage, was man seinem Leibe zugute tun müsse, die Antwort erhielte: alles was die ärztliche Kunst und was der Mann, der diese Kunst besitzt, verordnet. Es ist darum zu fordern, daß auch hier, wo es sich um die geistigen Beschaffenheiten handelt, das was man vorbringt nicht bloß richtig sei, sondern daß es auch begrifflich völlig bestimmt bezeichnet werde, was denn nun die rechte Vernunft ist und was ihre begriffliche Bestimmung enthält.

Als wir von den verschiedenen Formen rechter geistiger Beschaffenheit handelten, da haben wir solche unterschieden, die die Willensbeschaffenheit, und solche, die den Intellekt betreffen. Diejenigen, die die Willensbeschaffenheit betreffen haben wir durchgegangen; von den übrigen wollen wir im[122] folgenden handeln, aber zuvor einige Bemerkungen über die Seele überhaupt vorausschicken.

Wir haben oben bemerkt, daß es in der Seele zwei Gebiete gibt, das eine, das mit Vernunft ausgestattet ist, und das andere, von dem dies nicht gilt. Jetzt müssen wir in gleicher Weise das mit Vernunft ausgestattete Gebiet weiter einteilen. Als Grundlage mag uns gelten, daß es in diesem vernunftbegabten Teil zwei Unterteile gibt, einen, vermittels dessen wir diejenigen Arten der Gegenstände betrachten, deren Prinzipien kein Anderssein zulassen, und eines, vermittels dessen wir das erfassen was auch anders sein könnte. Das Objekt, das seiner ganzen Art nach ein anderes ist, das wird auch von einem seiner Art nach anderen Vermögen der Seele erfaßt werden müssen, das seiner Natur nach auf das eine der beiden Gebiete angelegt ist, wenn doch Erkenntnis im Sinne einer Angleichung und einer Verwandtschaft zwischen beiden verstanden wird. So mag denn das eine von diesen Vermögen das Erkenntnisvermögen, das andere das Reflexionsvermögen genannt werden. Denn sich etwas überlegen und über etwas reflektieren bedeutet dasselbe, niemand aber stellt Überlegungen an über das was gar nicht anders sein kann. Mithin ist das Vermögen zu reflektierender eine Bestandteil des mit Vernunft ausgestatteten Seelenteils. Die Aufgabe ist demnach die, zu bestimmen, welches die beste Verfassung eines jeden dieser beiden Seelenvermögen ist. Denn das würde seine rechte Beschaffenheit bedeuten; die rechte Beschaffenheit eines Gegenstandes aber wird sich nach dem richten, was die eigentümliche Funktion und Bestimmung desselben ausmacht.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 122-123.
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