b) Die Art des Wissens

b) Die Art des Wissens

[144] Die erste Frage, die wir zu beantworten haben, ist die, ob es sich um ein wissentliches Tun handelt oder nicht, und was unter dem Wissen dabei zu verstehen ist. Zweitens ist die Frage, auf welchen Gebieten man den suchen soll, der seinen Begierden frönt und den der sie beherrscht; das heißt ob jede Lust und jede Unlust, oder nur gewisse genau bestimmte dabei in Betracht kommen, sowie was den Herrn über seine Begierden und den Willensstarken anbetrifft, ob beides dasselbe oder ob es verschiedenes bedeutet. Ebenso haben wir auch über die anderen Fragen zu handeln, die mit dieser Untersuchung in näherem Zusammenhange stehen.

Den Ausgangspunkt der Betrachtung bildet die Frage, was den Unterschied zwischen dem Herrn seiner Begierde und dem Knecht derselben ausmacht, ob der Gegenstand oder die Art und Weise des Verhaltens zum Gegenstande; das will sagen: ob einer ein Knecht der Begierde dadurch ist, daß er dieses Bestimmte begehrt, oder ob er es nicht dadurch ist, sondern durch die Art und Weise seines Begehrens, oder vielleicht auch nicht allein dadurch, sondern aus beiden Gründen zusammen. Sodann, ob Knechtschaft unter der Begierde oder Herrschaft über sie sich auf alles erstreckt oder nicht. Wer unenthaltsam ist ohne weiteren Zusatz, der ist es nicht allen Genüssen gegenüber, sondern eben denen gegenüber, denen ein zügelloser Mensch ergeben ist, und er ist es nicht einfach deshalb, weil seine Begierde darauf gerichtet ist, denn dann würde sein Verhalten soviel bedeuten wie Zügellosigkeit, sondern deshalb weil er sich in bestimmter Weise darauf richtet.[144] Jener, der Zügellose, wird durch einen ausdrücklichen Vorsatz getrieben, weil es seine Ansicht ist, daß man jedesmal dem augenblicklichen Genuß nachzutrachten hat; dieser hat solche Ansicht nicht und trachtet gleichwohl danach.

Die Unterscheidung nun, daß es eine richtige Meinung und nicht begriffliche Erkenntnis sei, wogegen man im Dienste der Begierde verstößt, hat für unsere Untersuchung keinerlei Bedeutung. Kommt es doch vor, daß Leute in ihren Meinungen gar nicht schwanken, sondern sich fest einbilden, sie besäßen ein sicheres Wissen. Wenn also Leute mit bloßen Meinungen, weil ihr Glaube wenig befestigt ist, in höherem Grade als die Menschen mit begrifflicher Erkenntnis in ihrem Handeln wider die Ansicht verstoßen, die sie selber hegen, so wird sich zeigen, daß begriffliche Erkenntnis darin vor bloßer Meinung gar nichts voraus hat. Denn so mancher glaubt nicht weniger fest an das was seine Meinung ist, als andere an das was sie in begrifflicher Form wissen. Das zeigt schon Heraklit.

Dagegen kommt mehreres andere wohl in Betracht. Wir sprechen erstens von begrifflichem Wissen in doppelter Weise. Man schreibt ebensowohl dem ein Wissen zu, der von dem Wissen das er hat doch keinen wirklichen Gebrauch macht, wie dem der es tätig anwendet. Es wird also einen Unterschied ausmachen, ob einer zwar ganz wohl weiß was wider die Pflicht ist, aber es sich nicht gegenwärtig hält, oder ob einer es weiß und es sich auch vergegenwärtigt. Denn das letztere erscheint in der Tat ungeheuerlich; aber nicht so, wenn er sein Wissen nicht ausdrücklich gegenwärtig hat.

Es kommt zweitens hinzu, daß es zwei Arten von Vordersätzen gibt, Obersatz und Untersatz. So hindert denn nichts, daß einer der beide innehat gegen seine Erkenntnis handele, indem er wohl den allgemeinen, den Obersatz, anwendet, aber nicht den partikularen, den Untersatz. Denn Gegenstand des Handelns ist das Einzelne. Aber auch in dem allgemeinen Satz finden sich unterschiedene Bestimmungen enthalten. Dies Allgemeine betrifft teils die Person, teils die Sache; so z.B. der Satz, daß jedem Menschen das Trockene zuträglich ist, er selbst aber ein Mensch ist; und daß ein Ding dieser Art von trockener Beschaffenheit ist. Ob aber dieser bestimmte Gegenstand diese Beschaffenheit hat, davon hat man dadurch entweder noch keine Kenntnis, oder diese Kenntnis wird doch nicht wirksam. Es wird außerordentlich viel darauf ankommen, welche von diesen Arten des Wissens einer hat. So erscheint es keineswegs fremdartig, daß einer sich im Handeln wider sein eigenes besseres Wissen vergißt, wenn er ein Wissen[145] in diesem Sinne hat; dagegen würde es höchst verwunderlich sein, wenn sein Wissen ein Wissen in der anderen Bedeutung wäre.

Drittens aber nimmt das begriffliche Wissen bei den Menschen noch in anderer Weise verschiedene Gestalten an, als in der, wovon bisher die Rede war. Wir sehen nämlich in Fällen, wo jemand die Erkenntnis inne hat, sie aber nicht anwendet, daß der geistige Zustand des Innehabens hier eine ganz andere Bedeutung hat; es ist ein Haben, das im Grunde zugleich ein Nichthaben ist, wie bei einem der schläft oder der von Sinnen oder betrunken ist. Nun sind aber diejenigen die von heftigen Gefühlen aufgeregt sind in ganz ähnlicher Verfassung. Heftige Aufregung, geschlechtliche Begierde und manches Ähnliche zieht augenscheinlich auch den Leib in Mitleidenschaft; bei manchen bringt es geradezu Geistesstörung hervor. Offenbar also muß man sagen, daß es um diejenigen die ihrer Begierden nicht mächtig sind, ganz ähnlich steht wie um diese Leute. Daß sie die Sätze die sich aus ihrer Erkenntnis ergeben, im Munde führen, beweist gar nichts. Denn Leute in solcher Gefühlsaufregung wiederholen auch Beweisgänge und Aussprüche des Empedokles; sieht man doch auch diejenigen die etwas eben erst gelernt haben, wohl die Sätze hintereinander aufsagen, ohne daß sie doch schon ein wirkliches Wissen hätten. Denn wirkliches Wissen muß mit dem Menschen verwachsen sein; dazu aber bedarf es der Zeit. Man muß sich also vorstellen, die Reden von solchen Leuten die sich nicht zu zügeln vermögen, seien ebenso aufzufassen, wie die von Schauspielern.

Viertens läßt sich der Grund auch unter dem Gesichtspunkte der Natur der Seele wohl einsehen. Da ist nämlich erstens eine Meinung als allgemeiner Satz, zweitens eine Annahme die das Einzelne betrifft, und darüber entscheidet nunmehr die sinnliche Erfahrung. Wird nun aus beiden ein Satz gewonnen, so ergibt sich für das Bewußtsein die Notwendigkeit, das eine Mal diesen Satz bloß auszusagen; aber wo es sich um das handelt was zu tun ist, die Sache auch gleich zur Ausführung zu bringen. Z.B. gilt der Satz: alles was süß ist soll man genießen, und ist nun dieser einzelne Gegenstand hier süß, so ist man genötigt, wenn man das Vermögen dazu hat und kein Hindernis vorliegt, danach auch sogleich zu verfahren. Gesetzt nun, man hege im Gemüte den allgemeinen Satz, der den Genuß verbietet, zugleich aber den Satz, daß alles Süße Lust bereitet, und daß dies hier süß ist, und dies macht den allgemeinen Satz erst wirksam; ist dann im Gemüte zugleich die Begierde rege: so rät auf der einen Seite jener Satz, sich der Sache zu enthalten, andererseits lockt und treibt die Begierde; denn sie[146] vermag jedes unserer Organe in Bewegung zu setzen. Das Ergebnis ist, daß man unenthaltsam ist auf Grund sozusagen von Vernunft und Meinung, die nicht an und für sich, sondern nur unter besonderen Umständen zueinander im Gegensätze stehen. Denn den wirklichen Gegensatz zum rechten Grundsatz bildet die Begierde und nicht die Meinung. Schon aus diesem Grunde darf man ein Tier nicht unenthaltsam schelten; denn es ist nicht fähig das Allgemeine zu denken, sondern vermag nur von sinnlich Einzelnem Eindrücke zu empfangen und festzuhalten. Wie aber die Abweichung vom Denken sich aufhebt und der seiner nicht Mächtige wieder zur rechten Vernunft zurückkehrt, das ist derselbe Vorgang wie beim Betrunkenen und beim Schlafenden und nichts diesem Gebiete Eigentümliches. Darüber also muß man sich bei den Biologen befragen.

Da aber der Untersatz im Schlusse eine Meinung über einen Gegenstand sinnlicher Wahrnehmung bedeutet und diese das Handeln bestimmt, so hat ihn wer in der Gefühlserregung befangen ist entweder gar nicht, oder er hat ihn in der Weise, daß solches Haben wie wir oben sagten nicht ein Wissen bedeutet, sondern ein bloßes Reden gleich dem eines Trunkenen, der Aussprüche von Empedokles hersagt. Und da der Untersatz nicht allgemein ist, noch wie das Allgemeine den Charakter begrifflicher Erkenntnis an sich trägt, so macht es den Eindruck, als ob die Frage die Sokrates aufwarf, wirklich darin ihren guten Grund habe. Denn die Gefühlserregung erwacht nicht, solange dasjenige was im eigentlichen Sinne als Erkenntnis gilt in der Innerlichkeit gegenwärtig ist, und also ist es auch nicht diese Erkenntnis, die durch die Gefühlserregung mit fortgerissen wird; sondern die Erregung entsteht, wenn die Erkenntnis eine nur sinnliche ist.

Das Ausgeführte mag genügen, um die Frage zu entscheiden, ob das Handeln dessen der seiner Begierde unterliegt, möglicherweise ein wissentliches sein kann oder nicht, und wenn ja, in welchem Sinne es das sein kann.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 144-147.
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