a) Gründe der Befreundung

[170] Die Frage kann leicht zum Austrag gebracht werden, wenn man sich nur erst über das klar geworden ist, was für Menschen Gegenstand der Liebe zu werden vermag. Man darf doch wohl sagen, daß nicht jegliches sich Liebe gewinnt, sondern nur das, was dazu geeignet ist, und dazu wird erfordert, daß es gut, angenehm oder nützlich sei. Nun kann man nützlich nennen, woraus uns ein Gutes oder eine angenehme Empfindung zufließt; demnach wäre in letzter Instanz Gegenstand der Zuneigung das Gute und das Angenehme.

Gilt nun die Liebe der Menschen dem was gut ist, oder gilt sie dem, was für sie gut ist? Dies beides fällt doch bisweilen auseinander. Und ebenso steht es mit dem Angenehmen. Es scheint doch, daß jeder liebt, was ihm gut ist, und danach wäre Gegenstand der Liebe schlechthin das Gute, für den einzelnen aber das, was für ihn gut ist. Nun liebt aber der einzelne nicht, was für ihn gut ist, sondern was ihm das für ihn Gute zu sein scheint. Indessen, darauf kommt es hier nicht an; es bestimmt sich nur danach der Gegenstand der Liebe als das was gut zu sein scheint. Während nun die drei Gründe der Zuneigung auch leblosen Dingen gegenüber gelten, so gebraucht man den Ausdruck Liebe doch nicht von der Neigung zu diesen. Denn hier gibt es keine Erwiderung der Neigung; hier hat auch der Wille, dem Gegenstande Gutes zu erweisen, keinen Platz. Es wäre doch eine lächerliche Vorstellung, dem Weine etwas Gutes antun zu wollen; höchstens will man ihn doch nur aufbewahren, um ihn zur Verfügung zu haben. Dagegen heißt es, daß man dem, dem man freundlich gesinnt ist, alles Gute wünschen muß um seiner selbst willen. Diejenigen, die in dieser Weise anderen Gutes wünschen, nennt man wohlwollend, wenn ihnen von jenen[170] nicht das gleiche zuteil wird; denn ist das Wohlwollen gegenseitig, so nimmt es den Namen der Freundschaft an. Oder muß man noch das weitere hinzufügen, daß die Gesinnung des anderen auch den beiden nicht unbekannt bleiben darf? Denn es kommt vor, daß man Wohlwollen für solche hegt, die man nie gesehen hat, die man aber für ehrenhafte oder für wertvolle Persönlichkeiten hält, und es kann auch das vorkommen, daß einer von diesen ganz dieselbe Gesinnung jenem gegenüber hegt, so daß augenscheinlich zwischen ihnen gegenseitiges Wohlwollen herrscht. Gleichwohl dürfte man diejenigen als befreundet bezeichnen, die von diesem ihrem gegenseitigen Verhältnis doch nichts wissen? Wenn es also doch erforderlich ist, daß sie einander aus einem der oben angegebenen Gründe wohlgesinnt seien und sich alles Gute wünschen, so gehört dazu auch dies, daß ihnen diese gegenseitige Gesinnung nicht verborgen bleibe.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 170-171.
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