a) Wohlwollen

[201] Das Wohlwollen hat mit der Freundschaft Ähnlichkeit, ohne doch Freundschaft zu sein. Wohlwollen kann man auch für Unbekannte hegen und ohne daß sie es wissen: das ist bei der Freundschaft nicht möglich. Wir haben oben davon gehandelt. Wohlwollen ist auch keine tätige Zuneigung; denn es enthält keine Willensregung und kein Streben, was doch mit tätiger Zuneigung untrennbar verbunden ist. Solche Zuneigung ferner erfordert eine Gewohnheit des Zusammenlebens, das Wohlwollen dagegen kann auch plötzlich hervortreten; so das für einen Wettkämpfer, dem man seine Gunst zuwendet und den Sieg wünscht, ohne doch dazu irgendwie mitzuwirken. Denn wie gesagt, solches Wohlwollen ist eine plötzliche Regung und eine ganz flüchtige Neigung. Dagegen läßt es sich wohl als Ausgangspunkt für die Freundschaft bezeichnen, wie es die Freude am Anblick des anderen für die Liebe ist. Niemand liebt, ohne vorher an der äußeren Erscheinung Freude empfunden zu haben; aber die bloße Freude am Anblick macht doch noch nicht den Verliebten; dazu gehört noch, daß man sich nach dem Entfernten sehnt und die Gegenwart des Geliebten herbeiwünscht. So ist es nun auch unmöglich Freund zu sein, ohne Wohlwollen gehegt zu haben; aber Wohlwollen macht noch keine Freunde. Denen, für die man Wohlwollen hegt wünscht man alles Gute; aber man tut nichts dazu und übernimmt für sie keine Anstrengungen. Darum darf man es in übertragenem Sinne eine Freundschaft ohne tätige Bezeugung nennen, die aber, wenn sie eine Zeitlang dauert und zur Gewohnheit des Zusammenlebens führt, in[201] wirkliche Freundschaft übergeht, eine Freundschaft nicht um des Vorteils oder der Annehmlichkeit willen; denn solche Gründe sind dem Wohlwollen fremd.

Wer eine Wohltat empfangen hat, der erwidert für das was er erfahren hat mit seiner wohlwollenden Gesinnung und tut damit nur was gerecht ist. Wer aber wünscht, daß es jemandem wohlergehe, weil er von jenem Förderung für sich erhofft, von dem gilt nicht, daß er für den anderen, sondern eher daß er für sich selbst Wohlwollen hegt, ebenso wie auch der, der sich dem andern um des Nutzens willen gefügig erweist, nicht die Gesinnung eines Freundes zeigt. Überhaupt, Wohlwollen erwächst auf Grund verdienstlicher und sittlicher Eigenschaften, wo jemand den Eindruck macht, mit edler Gesinnung, mit festem Mute oder sonstigen Vorzügen ausgestattet zu sein, wie in dem oben erwähnten Beispiel des Wettkämpfers.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 201-202.
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