c) Wohltäter und Empfänger

[203] Wohltäter hegen im allgemeinen eine wärmere Gesinnung für die von ihnen Bedachten als diese für ihre Gönner hegen, und dafür sucht man nach einer Erklärung wie für eine unverständliche Erscheinung. Die meisten halten dafür, daß die einen Schuldnern gleichen, die andern ein Forderungsrecht haben. Wie nun im Fall eines Darlehns der Schuldner lieber sähe, er hätte keinen Gläubiger, der Darleiher dagegen das Wohl des Schuldners auf dem Herzen trägt, so habe auch der Wohltäter den Wunsch, daß es dem von ihm Geförderten Wohlergehen möchte, weil er denkt dann den Dank einzuheimsen; dagegen erscheine jenem die Rückerstattung bei weitem nicht so dringlich. Epicharmos würde wahrscheinlich urteilen: so redeten sie, weil sie die Sache von der verkehrten Seite aus ansähen; es läßt sich aber, wie die Menschen nun einmal sind, ganz wohl verstehen. Denn die Masse der Menschen hat erstens ein kurzes Gedächtnis und zieht zweitens das Nehmen des Guten dem Geben vor.

Man möchte deshalb eher meinen, die Sache sei tiefer im Wesen begründet und habe mit dem Verhältnis bei einem Darlehen keinerlei Verwandtschaft. Denn hier ist es ja nicht eine liebevolle Empfindung für den[203] Schuldner, was den Wunsch für sein Wohlergehen begründet, sondern das Verlangen nach Rückerstattung. Dagegen diejenigen die anderen Gutes erwiesen haben, hegen für die von ihnen Geförderten eine freundliche und liebevolle Gesinnung auch dann, wenn ihnen diese keinen Vorteil gewähren noch für die Zukunft einen solchen in Aussicht stellen. Dies lehrt auch die Erfahrung bei den Künstlern. Jeder liebt sein eigenes Werk mehr als dieses ihn lieben würde, wenn es eine Seele bekäme. Am meisten aber tritt es einem wohl bei den Dichtern entgegen. Diese sind in ihre eigenen Schöpfungen über die Maßen verliebt und hängen an ihnen mit der Zärtlichkeit, mit der man an seinen Kindern hängt. Dieser Stimmung nun läßt sich die des Wohltäters vergleichen. Ihr Schützling ist gleichsam ihr Werk, und so lieben sie es mehr, als das Werk seinen Schöpfer liebt.

Der Grund dafür ist der, daß das Dasein für alle ein Gegenstand des Begehrens und der Liebe ist; unser Dasein aber besteht in unserer Wirksamkeit, und mithin im Leben und in der Betätigung. In Wirklichkeit also hat der Schöpfer gewissermaßen sein eigenes Dasein an seinem Werke. So liebt man sein Werk, weil man das Dasein liebt, und das nun ist tief im Wesen begründet. Denn das Werk zeigt als Wirklichkeit, was einer der Möglichkeit nach ist.

Zugleich aber ist für den Wohltäter auch seine Handlungsweise etwas Beglückendes und Edles, so daß er seine Freude an dem hat, dem sie galt. Dagegen der von ihm Geförderte empfindet an dem Spender nicht sowohl das was seine Handlungsweise Edles hat, sondern höchstens das was darin ihm zustatten kommt; dies aber ist nur in geringerem Grade für ihn ein Grund des Wohlgefallens und der Zuneigung. Was Wohlgefallen erregt, ist an dem Gegenwärtigen die Wirklichkeit, an dem Zukünftigen die Hoffnung, am Vergangenen die Erinnerung. Das innigste Wohlgefallen aber ist das, was man an seiner eigenen Wirksamkeit empfindet, und das ruft denn auch in gleichem Maße Zuneigung hervor. Wer die Wohltat vollbracht hat, dem bleibt sie dauernd; denn das beglückend Edle überdauert die Zeit; der Vorteil dagegen für den dem sie erwiesen wurde, geht vorüber. Die Erinnerung an edle Taten ist erfreulich; die an erlangten Vorteil ist es überhaupt nicht oder doch nur in geringerem Maße.

Dagegen möchte es sich mit der Erwartung umgekehrt verhalten. Das Gefühl der Zuneigung gleicht dem Tätigsein, Gegenstand solchen Gefühles sein dem passiven Verhalten. Wer also in der Betätigung der Stärkere ist, auf dessen Seite ist auch das Gefühl der Zuneigung und der Erweis derselben.[204] Überdies, jedermann hat größere Liebe zu dem was ihm sauer geworden ist; so liebt man das Geld mehr, wenn man es selbst erworben, als wenn man es geerbt hat. Wohltat empfangen aber ist im allgemeinen mühelos, sie erweisen mühevoll. Deshalb ist auch die Liebe der Mutter zu dem Kinde die größere; denn sie hat es mit Schmerzen geboren, und sie hat die stärkere Empfindung, daß das Kind das ihre ist. Eben dies aber, darf man sagen, ist auch für den Wohltäter das eigentümlich Bezeichnende.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 203-205.
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