b) Die rechte Zahl der Freunde

[211] Soll man sich nun so viele Freunde wie möglich erwerben? oder wird, wie von der Gastfreundschaft mit gesundem Urteil gesagt zu sein scheint: »Nicht viele Gäste, aber auch nicht ohne Gäste,« so auch bei der Freundschaft das Wort angebracht sein: nicht ohne Freund, aber auch nicht allzuviele Freunde? Wer dabei nur an den Vorteil denkt, dem wird der Ausspruch überaus einleuchtend erscheinen. Denn vielen Gegendienste leisten macht große Beschwer, und es zu vollbringen ist das Leben nicht lang genug. Mehr Freunde zu haben als für das eigene Leben ausreichen, ist Überfluß und für eine befriedigende Lebensführung nur hinderlich; also hat man auch kein Bedürfnis danach. Gilt es dagegen die Annehmlichkeit, so reicht man wieder mit wenig aus, wie mit dem Gewürz bei der Speise. Wo es endlich um Leute von sittlichem Charakter zu tun ist, soll man da eine[211] möglichst große Zahl suchen? oder gibt es ein rechtes Maß auch für die Menge von Freundschaftsverhältnissen, wie für die Einwohnerzahl einer Stadt? Zehn Menschen machen noch keine Stadt; zehn mal zehntausend aber, das würde keine Stadt mehr sein.

Das Quantitative nun ist eigentlich nicht ein einheitlich zu Bestimmendes, sondern immer ein Mittleres zwischen äußersten Grenzen. So gibt es eine bestimmte Grenze auch für die Zahl der Freunde, und das Maximum würde sich danach bestimmen, mit wievielen man in Lebensgemeinschaft zu stehen vermag; denn dies war es doch, was uns als das für Freundschaftsverhältnisse Bezeichnendste galt. Es ist nun eine ausgemachte Tatsache, daß es unmöglich ist, seine Lebensführung mit vielen zu teilen und sich vielen zu widmen. Die Freunde müßten ferner auch untereinander befreundet sein, wenn sie sämtlich miteinander Tag für Tag zusammen sein sollen; daß ein solches Verhältnis zwischen einer größeren Anzahl bestehe, hat aber seine Schwierigkeit, und auch das hat seine Bedenken, daß eine Mehrheit von Menschen Freud und Leid persönlich miteinander teilen sollen. Es wird wahrscheinlich nur allzuoft beides zusammentreffen, daß man die Freude des einen und das Leid des anderen mitzuempfinden bekommt. Also wird das Richtige doch wohl dies sein, daß man nicht danach strebt, eine möglichst große Anzahl von Freunden zu haben, sondern nur geradeso viele als für eine volle Lebensgemeinschaft zulässig sind.

Es scheint auch gar nicht möglich mit vielen ganz eng befreundet zu sein, aus demselben Grunde aus dem es auch nicht möglich ist, ein Liebesverhältnis mit mehreren zu unterhalten. Denn ein solches bedeutet einen besonders hohen Grad von inniger Zuneigung, und diese gibt es nur im Verhältnis zu einem einzigen. Ebenso kann man denn auch in ganz intimem Freundschaftsverhältnis nur mit wenigen stehen. Daß es sich so verhält, lehrt auch die Erfahrung. Es werden nicht viele unsere Freunde im Sinne eines das Leben ausfüllenden Freundschaftsbundes, und was die berühmten, vielgepriesenen Freundschaftsverhältnisse betrifft, so sind es immer solche zwischen zwei Personen, von denen die Geschichte berichtet. Leute mit vielen Freunden, die sich mit jedem gleich vertraut stellen, sind eigentlich niemandes Freund, sofern es nicht bloß ein Verhältnis wie zwischen Nachbarn und Mitbürgern sein soll. Jene Leute nennt man denn auch Allerweltsfreunde. Nur im Sinne solcher nachbarschaftlichen Verhältnisse als gute Bekannte ist es möglich, mit vielen befreundet zu sein, ohne doch zu den Allerweltsfreunden zu gehören, und so daß man dabei in[212] Wahrheit seinen ehrenwerten Charakter wahrt. Dagegen eine Freundschaft, die den sittlichen Vorzügen und der Person selber gilt, kann man nicht mit vielen unterhalten. Man darf schon zufrieden sein, wenn man auch nur wenige findet, die die dazu erforderlichen Eigenschaften besitzen.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 211-213.
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