d) Die Freundschaft als Lebensgemeinschaft

[214] Ist nun nicht für Freunde die Gewohnheit des Zusammenseins ebenso das Erfreulichste, wie Liebende im Anblick des Geliebten das größte Glück finden und diese Empfindung jeder anderen vorziehen, weil die Liebe am meisten in dieser Empfindung ihren Anlaß und ihren Entstehungsgrund hat? Freundschaft bedeutet Gemeinschaft; man verhält sich zum Freunde wie zu dem eigenen Selbst. Ist nun die Empfindung ein Gegenstand des Wunsches, die uns die eigene Existenz erweckt, so ist es auch diejenige, die uns die Existenz des Freundes erweckt; zur Wirklichkeit aber wird sie in der Gemeinschaft der Lebensführung, und so ist es nur natürlich, daß man sich diese wünscht. Was für jeden den Inhalt seiner Existenz bedeutet, das was einem das Leben erst lieb macht, gerade das wünscht man[214] mit dem Freunde zusammen zu genießen. Darum lieben es die einen mit dem Freunde zu zechen, die anderen mit ihm Würfel zu spielen, wieder andere treiben mit ihm Körperübungen und Jagd oder wissenschaftliche Studien, indem jeder das worin er im Leben am meisten Befriedigung findet zur gemeinsamen Unterhaltung mit dem Freunde macht. Denn weil man sein Leben mit den Freunden teilen will, so treibt man in Gemeinschaft mit ihnen eben dies, worin man das Glück seines Lebens findet. Daher wird die Freundschaft zwischen Menschen von niederer Gesinnung zu einer Gemeinschaft im Bösen. Der eine überträgt auf den anderen vermöge ihres unbefestigten Charakters die eigene Schlechtigkeit, und indem sie sich einander angleichen, werden sie nur immer verworfener. Die Freundschaft zwischen guten Menschen dagegen wird zu einer Gemeinschaft im Guten, die durch den steten Umgang nur verstärkt wird. Man kann sagen: sie werden tüchtiger, indem sie miteinander tätig sind und einer den anderen auf dem rechten Wege erhält. Jeder nimmt vom anderen das Gepräge dessen an, was ihm am anderen lieb und wert ist: daher das Wort: »Gutes lernt man von Guten.«

So weit über die Gemeinschaften zwischen den Menschen. Wir gehen nunmehr über zur Erörterung der Gefühle.[215]

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 214-216.
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