Erstes Kapitel

[1] Der Zweck dieser Abhandlung ist die Auffindung des Verfahrens, vermittelst dessen man in Bezug auf jeden aufgestellten Streitsatz Schlüsse aus glaubhaften Ansätzen zu Stande bringen kann, und vermittelst dessen, wenn man selbst einen Satz vertheidiget, nicht in Widersprüche sich verwickelt. Es ist deshalb zunächst anzugeben, was ein Schluss ist und in welche Arten er zerfällt, damit man wisse, was ein dialektischer Schluss ist, denn um diesen handelt es sich in der vorliegenden Abhandlung.

Der Schluss ist nun eine Rede, bei welcher Einiges vorausgesetzt wird und dann daraus etwas davon Verschiedenes sich mit Nothwendigkeit vermittelst jener Vordersätze ergiebt. Einen Beweis liefert der Schluss dann, wenn er aus wahren und allgemeinen obersten Sätzen, oder aus solchen abgeleitet wird, welche auf wahren und obersten Sätzen der betreffenden Wissenschaft beruhen, Dialektisch ist dagegen derjenige Schluss, welcher sich aus glaubwürdigen Sätzen ableitet. Wahre und oberste Sätze sind die, welche nicht vermittelst anderer, sondern durch sich selbst gewiss sind. Denn bei den obersten Grundsätzen der Wissen schaften darf man nicht nach einem[1] Grunde für dieselben verlangen, sondern jeder dieser Grundsätze muss durch sich selbst gewiss sein. Glaubwürdig sind dagegen Sätze, wenn sie von Allen, oder von den Meisten oder von den weisen Männern und zwar bei letzteren von allen, oder von den meisten oder von den erfahrensten und glaubwürdigsten anerkannt werden. Ein Trugschluss ist ein solcher, welcher aus scheinbar glaubwürdigen Sätzen, ohne dass sie es wirklich sind, abgeleitet wird, oder welcher aus wirklich glaubwürdigen oder aus nur so scheinenden Sätzen blos scheinbar abgeleitet wird. Denn nicht alles, was glaubwürdig scheint, ist es auch wirklich und ebenso ist das, was glaubwürdig genannt wird, nicht auf den ersten Blick als falsch zu erkennen, während dies bei den Vordersätzen der Trugschlüsse der Fall ist, wo sogleich und meist selbst für Personen mit geringerer Umsicht die trügerische Natur derselben offenbar ist. Deshalb soll allein die zuerst genannte Art der Trugschlüsse als Schlüsse gelten, während die anderen zwar Trugschlüsse, aber keine Schlüsse sind, weil hier nur scheinbar, aber nicht wirklich ein Schliessen stattfindet.

Neben allen diesen hier genannten Schlüssen giebt es auch noch Fehlschlüsse, welche aus den, einer bestimmten Wissenschaft eigenthümlichen Sätzen abgeleitet werden, wie es deren z.B. bei der Geometrie und den mit dieser verwandten Wissenschaften giebt. Das Verfahren ist hier ein anderes, als bei den vorgenannten Schlüssen; denn der, welcher eine falsche Vorzeichnung macht, schliesst nicht aus wahren und obersten, noch aus glaubwürdigen Sätzen. Ein solches Verfahren fällt nicht unter den Begriff von jenen Schlüssen, denn man benutzt dabei keine Sätze, welche von Allen oder den Meisten anerkannt werden, noch solche, welche von den weisen Männern und bei diesen von allen oder den meisten oder den glaubwürdigsten anerkannt werden, sondern man benutzt zur Ziehung des Schlusses Sätze, welche zwar in das Gebiet der betreffenden Wissenschaften fallen, aber unwahr sind; denn der Fehlschluss wird dadurch bewirkt, dass man z.B. den Halbkreis nicht so, wie es sich gehört, umschreibt, oder gewisse Linien nicht so, wie es geschehen sollte, zieht.

Dies sind, kurz gefasst, die Arten der Schlüsse. Die[2] Unterschiede dieser genannten und der später noch zu erwähnenden Arten im Allgemeinen angedeutet zu haben, mag hier genügen, weil ich nicht beabsichtige, von allen eine genaue Darstellung zu geben, sondern sie nur gleichsam im Umrisse hier durchgehen will und ich es für meine vorliegende Aufgabe für durchaus hinreichend halte, wenn man jede dieser Schlussarten irgendwie zu erkennen vermag.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 1-3.
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