Elftes Kapitel

[13] Ein dialektischer Streitsatz ist ein zur Untersuchung gestellter Satz, welcher sich entweder auf ein Befolgen oder Vermeiden oder auf die Wahrheit und die Erkenntniss bezieht, und zwar entweder als ein selbstständiger, oder als Unterstützung eines anderen Satzes solcher Art, insofern über solche Sätze sich überhaupt noch keine Meinung gebildet hat, oder bei welchen die Menge eine den Weisen entgegengesetzte Meinung, oder letztere eine der Menge entgegengesetzte Meinung haben, oder wo jeder dieser Theile in sich selbst nicht einig ist. Die Erkenntniss in Bezug auf solche Streitsätze ist für das Befolgen oder Vermeiden nützlich, z.B. ob man nach der Lust streben solle oder nicht; andere dienen nur dem Wissen, z.B. die Frage, ob die Welt ewig sei oder nicht? Andere haben an sich keinen Bezug auf eines dieser beiden Ziele, aber sie unterstützen andere Sätze von jener Art. Man mag nämlich Vieles nicht um sein selbst willen wissen, sondern nur um anderer Sätze willen, deren Wahrheit man dadurch erkennen will. Zu den Streitsätzen gehören auch die Sätze, bei welchen sich Schlüsse für und gegen sie aufstellen lassen; (denn dann ist zweifelhaft, ob die Sache sich so oder nicht so verhält, weil für beide Fälle annehmbare Gründe vorhanden sind), ferner Sätze, für die man, obgleich sie von grosser Bedeutung sind, keine[13] Gründe zur Hand hat, weil die Auffindung derselben hier für schwierig gilt; z.B. der Satz: Ob die Welt ewig ist oder nicht? Denn auf solche Sätze kann mancher die Untersuchung wohl ausdehnen.

In dieser Weise besteht der Unterschied zwischen den Streitsätzen und den blossen Sätzen. Eine These ist aber eine der gewöhnlichen Meinung zuwiderlaufende Behauptung eines in der Philosophie erfahrenen Mannes; z.B. der Satz, dass es keine Widersprüche gäbe, wie Antisthenes behauptete; oder dass Alles sich bewege, wie Heraklit sagte, oder dass das Seiende nur eines sei, wie Melissos behauptete. Wenn aber blos irgend ein beliebiger Mensch etwas der gewöhnlichen Meinung Entgegengesetztes behauptet, so würde es thöricht sein, wenn man dies beachten wollte. Auch solche Sätze gehören zu den Thesen, wofür ein Grund geltend gemacht wird, welcher der gewöhnlichen Meinung widerspricht, z.B. dass nicht alles Seiende entweder entstanden ist oder ewig ist, wie die Sophisten behaupten; denn dass ein Musiker ein Sprachgelehrter bestehe, sei weder etwas Gewordenes noch etwas ewig Gewesenes; denn dieser Satz dürfte, auch wenn man ihm nicht zustimmen sollte, doch eine These sein, da ein Grund dafür angegeben wird.

Sonach ist jede These auch ein Streitsatz, aber nicht jeder Streitsatz ist eine These, da manche Streitsätze auch der Art sind, dass weder deren Bejahung noch deren Verneinung die Meinung für sich hat. Dass aber jede These auch ein Streitsatz ist, erhellt daraus, dass nach dem Gesagten entweder die Menge mit den Weisen über die These nicht übereinstimmt, oder dass jede dieser Klassen in sich selbst uneinig sein muss, da die These eine gegen die Meinung anstossende Annahme ist. Gegenwärtig werden indess beinahe alle dialektischen Streitsätze Thesen genannt. Indess mag es gleichgültig bleiben, wie man sie nennen will; denn ich habe nicht um der Namen willen sie so von einander gesondert, sondern damit uns nicht die Unterschiede entgehen, welche zwischen ihnen bestehen.

Auch darf man nicht jeden Streitsatz und jede These beachten, sondern nur die, wo man im Zweifel ist, weil man der Gründe bedarf und nicht blos der Züchtigung[14] oder der Wahrnehmung. Denn derjenige, welcher zweifelt, ob man die Götter verehren und seine Eltern lieben solle oder nicht, bedarf nur der Züchtigung, oder wer zweifelt, ob der Schneeweiss ist, oder nicht, bedarf nur der Wahrnehmung. Auch Streitsätze, für welche der Beweis auf der Hand liegt, oder für welche er zu verborgen ist, darf man nicht beachten; denn bei jenen besteht kein Zweifel und bei diesen sind deren für die blosse Uebung zu viele.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 13-15.
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