Fünfzehntes Kapitel

[17] Für die Sätze selbst wird das bisher Gesagte genügen; was aber die Vieldeutigkeit derselben anlangt, so muss man nicht blos untersuchen, welche weitere Bedeutungen ein Ausdruck hat, sondern man muss auch deren Verhältniss zu einander darlegen; also z.B. nicht blos darlegen, dass die Gerechtigkeit und die Tapferkeit, beide in einem anderen Sinne, gut genannt werden, als[17] das, was dem Wohlbefinden und der Gesundheit dient, sondern man muss auch darlegen, dass jene gut genannt werde, weil sie an sich selbst diese Beschaffenheit habe, diese aber, weil sie etwas dahin Gehörendes bewirke und nicht, weil sie selbst an sich der Art sei. Ebenso ist in anderen Fällen zu verfahren.

Ob ein Ausdruck vieldeutig, oder nur eindeutig der Art nach ist, hat man auf folgende Weise zu ermitteln. Man muss nämlich zunächst auf das Gegentheil des betreffenden Satzes achten und sehen, ob es für dieses verschiedene Ausdrücke giebt, sei es dass das Gegentheil der Art oder nur dem Namen nach nicht passt. Manches hat schon für sein Gegentheil verschiedene Namen. So ist dem Scharfen bei der Stimme das Tiefe entgegengesetzt, bei Körpern aber das Stumpfe. Also wird das Gegentheil des Scharfen mit verschiedenen Worten bezeichnet, und ist dies der Fall, so ist noch das Scharfe selbst mehrdeutig, denn es wird für jedes dieser Gegentheile als deren Gegentheil etwas Verschiedenes sein, und dasselbe Scharfe wird nicht das Gegentheil vom Stumpfen und vom Tiefen sein, obgleich doch das Wort: Scharf, das Gegentheil von beiden bezeichnet. Umgekehrt ist von dem Tiefen (Schweren) das Scharfe bei der Stimme und das Leichte bei der Last das Gegentheil; daher ist das Tiefe (Schwere) zweideutig, weil sein Gegentheil zweierlei ist. Ebenso steht dem Schönen bei den Geschöpfen das Hässliche und bei der Wohnung das Schlechte entgegen; mithin ist Schön ein zweideutiges Wort.

In manchen Fällen liegt bei dem Gegentheile der Unterschied nicht in dem Namen, aber er ist sofort in der Sache selbst erkennbar; z.B. bei dem Dunkel und Hell. Denn man nennt sowohl eine Stimme wie eine Farbe hell und dunkel; hier ist in den Worten kein Unterschied, aber in der Sache selbst ist er sofort offenbar; denn die Stimme wird nicht in demselben Sinne hell genannt wie die Farbe. Es erhellt dies auch aus den Wahrnehmungen beider; denn das der Art nach Gleiche wird durch denselben Sinn wahrgenommen, aber das Helle bei der Stimme und bei der Farbe wird nicht mit demselben Sinne erfasst, sondern das eine mit dem Auge, das andere mit dem Gehör. Aehnlich verhält es sich mit dem Scharfen und Stumpfen bei Flüssigkeiten und bei Körpern; das eine wird durch[18] das Gefühl, das andere durch den Geschmack wahrgenommen; auch hier ist kein Unterschied in den Worten, weder für die Eigenschaften noch für ihre Gegentheile, denn das Stumpfe und sein Gegentheil wird von beiden Arten von Gegenständen ausgesagt.

Auch kann man die Zweideutigkeit daran erkennen, dass das Eine ein Gegentheil hat, das Andere aber überhaupt nicht. So hat die Lust aus dem Trinken den Schmerz aus dem Dursten zum Gegentheil, aber der Lust aus der Erkenntniss, dass die Diagonale durch die Seite des Quadrats nicht gemessen werden kann, steht kein Schmerz gegenüber; also wird das Wort: Lust in mehrfachem Sinne gebraucht. Ebenso steht der geistigen Liebe der geistige Hass entgegen, aber der sinnlichen Liebeslust steht kein Gegentheil gegenüber; mithin ist das Wort: Liebe zweideutig. Auch lässt sich die Zweideutigkeit an dem Mittleren erkennen, wenn bei gewissen Gegensätzen ein Mittleres besteht und bei anderen nicht, oder wenn zwar beide ein Mittleres haben, aber nicht dasselbe. So ist z.B. bei dem Schwarzen und Weissen in den Farben das Helle das Mittlere; in der Stimme ist aber kein Mittleres für diese Gegensätze vorhanden. Selbst wenn es das Dumpfe sein sollte, da Manche meinen, dass die dumpfe Stimme die mittlere sei, so erhellt doch hieraus, dass das Weisse und ebenso das Schwarze zweideutige Worte sind. Dies gilt auch dann, wenn mehrere Mittlere zwischen den Gegensätzen bestehen und bei anderen nur eines, wie bei dem Weissen und Schwarzen. Denn bei den Farben giebt es für diese Gegensätze mehrere Mittlere, aber bei der Stimme ist nur das Dumpfe als das eine Mittlere vorhanden.

Man muss dann weiter darauf achten, ob das Widersprechende und Entgegengesetzte in mehrfachem Sinne gebraucht wird. Denn wenn dies der Fall ist, so wird auch das ihm Entgegengesetzte in mehrfachem Sinne gebraucht werden. So gebraucht man das: Nicht-sehen in mehrfachem Sinne; einmal für das: Ueberhaupt nicht sehen können, und dann für das: die Augen nur nicht gebrauchen. Ist sonach das Nicht-sehen zweideutig, so muss auch das Sehen zweideutig sein, denn es bildet den Gegensatz zu den beiden Arten des Nichtsehens, also bezeichnet es einmal das Haben des Gesichtssinnes im Gegensatze zu[19] dem Fehlen desselben und zweitens das Gesicht gebrauchen im Gegensatze zu dem Nichtgebrauch desselben.

Auch auf das, nach dem Haben und dem Beraubtsein Bezeichnete, muss man hierbei Acht haben; denn wenn das eine in mehrfachem Sinne gebraucht wird, so ist auch das andere mehrdeutig. Wenn z.B. das Wahrnehmen mehrdeutig gebraucht wird, nämlich theils in Bezug auf die Seele, theils in Bezug auf den Körper, so wird auch das Nichtwahrnehmen mehrdeutig sein, nämlich entweder auf die Seele oder auf den Körper sich beziehen. Dass diese Beispiele aber in dem Gegensatze von Haben und Beraubtsein stehen, ist klar, da die Geschöpfe von Natur das Wahrnehmen in beiderlei Sinne besitzen, nämlich sowohl das in Bezug auf die Seele, wie das in Bezug auf den Körper.

Auch auf die Beugungen der Worte muss man Acht haben; wenn z.B. das »gerecht« mehrdeutig gebraucht wird, so wird es auch so mit dem »Gerechten« geschehen; denn in jeder Bedeutung von gerecht giebt es auch ein Gerechtes. Heisst es z.B. gerecht, einmal, wenn man nach seiner Ueberzeugung urtheilt, und zweitens, wenn man das Urtheil so fällt, wie es sich gehört, so wird auch das Gerechte diesen doppelten Sinn haben. Ebenso wird, wenn das »Gesunde« mehrdeutig ist, auch das »gesund« es sein; wenn also das Gesunde sowohl das ist, was gesund macht, wie das, was gesund erhält, und das, was ein Zeichen des Gesunden ist, so wird auch das »gesund«, sowohl in dem Sinne des Bewirkens, wie des Erhaltens und des Anzeigens gebraucht werden. Ebenso wird in allen anderen Fällen, wenn das ursprüngliche Wort mehrdeutig gebraucht wird, auch das von ihm durch Beugung gebildete Wort mehrdeutig sein. Auch wird das Wort selbst zweideutig sein, wenn das davon abgeleitete Wort es ist.

Man muss auch bei einem Worte darauf achten, ob die damit bezeichneten Dinge sämmtlich zu derselben Gattung gehören; ist dieses nicht der Fall, so ist das Wort offenbar mehrdeutig. So bezeichnet das Wort: gut, bei den Speisen das, was Lust gewährt; bei der Arzneikunst das, was gesund macht, bei der Seele aber eine Beschaffenheit, z.B.: massig oder tapfer oder gerecht sein; und dasselbe bedeutet es bei dem Menschen. Manchmal bezeichnet es auch die Zeit, wie: zu guter Zeit; denn[20] man nennt das gut, was zur rechten Zeit geschieht. Oft bezeichnet: gut, auch ein Grosses, nämlich das richtige Maass, da man dieses auch das gute Maass nennt; deshalb ist das Wort: gut, vieldeutig! Ebenso ist das Helle vieldeutig; am Körper bezeichnet es die Farbe, bei der Stimme das angenehm Klingende. Ebenso verhält es sich auch mit dem Scharfen; da es nicht in demselben Sinne bei allen Dingen gebraucht wird. So heisst die Stimme scharf, welche schnell schwingt, wie die Harmonielehrer mit Bezug auf die Schwingungszahlen sagen; dagegen heisst ein Winkel dann scharf (spitz), wenn er kleiner ist, als ein rechter und ein Messer heisst scharf, wenn es spitzwinkelig ist.

Auch muss man bei Gattungen, die mit demselben Worte bezeichnet werden, sehen, ob sie verschieden sind und ob etwa die eine der andern nicht untergeordnet ist. So bezeichnet das Wort: Esel sowohl ein Thier, wie ein Geräthe und die mit diesem Worte verbundenen Begriffe sind verschieden; das eine Mal bezeichnet man damit ein Thier, das andere Mal ein Geräthe. Ist aber die eine Gattung der andern untergeordnet, so brauchen die Begriffe nicht verschieden zu sein; denn der Rabe gehört sowohl zu der Gattung der Vögel, wie zu der der Thiere; nennt man also den Raben einen Vogel, so erklärt man ihn auch für ein Thier und beide Gattungen werden von demselben Gegenstande ausgesagt. Ebenso ist es, wenn man den Raben ein zweifüssiges geflügeltes Thier nennt, auch hier nennt man ihn einen Vogel und so werden beide Gattungen sowohl dem Namen, wie dem Begriffe nach von dem Raben ausgesagt. Bei Gattungen, die einander nicht untergeordnet sind, trifft dies aber nicht zu. Denn wenn man mit dem Worte: Esel das Geräthe meint, so bezeichnet man damit nicht das Thier, und wenn man das Thier Esel nennt, so meint man nicht damit das Geräthe.

Man hat jedoch bei dem betreffenden Worte nicht blos zu untersuchen, ob die Gattungen, welche mit denselben bezeichnet werden, verschieden und einander nicht untergeordnet sind, sondern man hat auch auf das gegentheilige Wort zu achten; denn wenn dieses mehrdeutig gebraucht wird, so ist dies auch mit jenem Worte der Fall.[21]

Es ist auch gut, wenn man auf die Definitionen der zusammengesetzten Ausdrücke achtet, wie z.B. auf die Definition des hellen Körpers oder der hellen Stimme; denn wenn man hier in der Definition das Eigenthümliche beseitigt, so muss das Uebergebliebene denselben Sinn haben. Aber bei zweideutigen Worten ist dies nicht der Fall, wie in dem eben angeführten Beispiele mit einem Körper von einer bestimmten Farbe und einer Stimme, die wohlklingend ist; nimmt man nun den Körper und die Stimme hinweg, so ist das bei jeden von beiden Bleibende nicht das Gleiche und dies müsste doch der Fall sein, wenn das »Hell« bei jedem von beiden Gegenständen in dem gleichen Sinn gebraucht würde.

Oft bemerkt man nicht, dass die Zweideutigkeit sich auch mit den Begriffen verbindet; deshalb muss man auch auf diese Acht haben. So z.B. wenn Jemand sagte, das, was die Gesundheit anzeigt und das, was sie bewirkt, sei das, was sich zur Gesundheit angemessen verhalte. Hier muss man sich nicht dabei beruhigen, sondern untersuchen, was er unter: »angemessen« in Bezug auf Beides gemeint habe; also ob es einmal ein solches sei, was die Gesundheit bewirke und dann wieder ein solches, welches ein gewisses Befinden anzeige.

Auch erkennt man die Zweideutigkeit eines Wortes daran, dass die damit bezeichneten Gegenstände nicht nach dem Mehr oder Weniger vergleichbar sind; wie z.B. die helle Stimme und der helle Mantel; ferner: der scharfe Saft und die scharfe Stimme. Diese Dinge werden nicht in gleichem Sinne hell und scharf genannt und das eine ist es auch nicht mehr als das andere. Deshalb sind die Worte: hell und scharf zweideutig; denn alles mit einem unzweideutigen Worte Bezeichnete kann mit einander verglichen werden und man kann es entweder als einander gleich erklären, oder das eine für mehr als das andere.

Da bei verschiedenen und einander nicht untergeordneten Gattungen auch die Art – Unterschiede verschieden sind, wie z.B. die des Geschöpfes und der Wissenschaft (denn deren Art-Unterschiede sind verschieden), so muss man darauf achten, ob die Art-Unterschiede verschiedener und nicht einander untergeordneter[22] Gattungen denselben Namen führen, wie z.B. das Scharfe bei der Stimme und bei dem Körper; denn die Stimmen unterscheiden sich von einander durch das Scharfe und eben so die Körper. Folglich ist das Wort »Scharf« zweideutig, denn die damit bezeichneten Unterschiede betreffen verschiedene, einander nicht untergeordnete Gattungen.

Ferner hat man darauf zu achten, ob von den unter demselben Namen begriffenen Dingen die Unterschiede verschieden sind, wie bei der Farbe an den Körpern und der Farbe beim Gesang; denn die Farbe an den Körpern wird unterschieden und verglichen vermittelst des Gesichts; aber die Farbe bei dem Gesange hat Unterschiede anderer Art. Deshalb ist die Farbe ein zweideutiges Wort, da bei denselben Dingen auch die Unterschiede dieselben sein müssen.

Auch hat man, da die Art kein Unterschied sein kann, darauf zu achten, ob mit demselben Worte einmal eine Art und das anderemal ein Art-Unterschied bezeichnet wird. So bezeichnet z.B. das »Hell« bei den Körpern eine Art der Farbe; aber bei der Stimme nur einen Art-Unterschied; denn eine Stimme unterscheidet sich von der anderen durch Helligkeit.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 17-23.
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