Viertes Kapitel

[34] Auch ist es zweckmässig, ein Wort in ein bekannteres umzutauschen, z.B. für das Wort: genau im Auffassen das Wort: klug, und statt des Wortes: vielgeschäftig das Wort: gerngeschäftig. Denn je verständlicher der Ausdruck der These ist, desto leichter ist sie anzugreifen. Dies Mittel ist ebenso für das Begründen, wie für das Widerlegen benutzbar.

Will man zeigen, dass demselben Gegenstande das Entgegengesetzte zukommen könne, so muss man auf die Gattung desselben Acht haben. Will man z.B. zeigen, dass bei der Wahrnehmung sowohl die Richtigkeit, wie der Irrthum vorkommt, so muss man darlegen, dass das Wahrnehmen ein Urtheilen ist und dass das Urtheilen sowohl wahr, wie falsch geschehen kann und dass deshalb auch bei der Wahrnehmung Richtigkeit und Irrthum vorkommen könne. Hier ist also der Beweis für die Art aus seiner Gattung entlehnt worden; denn das Urtheilen ist die Gattung und das Wahrnehmen eine Art desselben, da jeder Wahrnehmende in irgend einer Art urtheilt. Umgekehrt kann man aus der Art auf die Gattung schliessen; denn alles, was in der Art enthalten ist, muss auch von der Gattung ausgesagt werden können; giebt es z.B. ein schlechtes und ein gutes Wissen, so ist auch der entsprechende Seelenzustand schlecht oder gut, da dieser Seelenzustand die Gattung ist und das Wissen zu einer seiner Arten gehört. Der erst genannte Weg ist für das Begründen der falsche, der zweite aber der richtige; denn nicht alles, was von der Gattung ausgesagt werden kann, kann auch von einer einzelnen Art ausgesagt werden; so kann von dem Geschöpf das: geflügelt und vierfüssig ausgesagt werden, aber von dem Menschen nicht; ist aber der Mensch sittlich, so giebt es auch ein sittliches Geschöpf. Dagegen ist für das Widerlegen der erste Weg der richtige und der zweite der falsche. Denn alles, was[34] in der Gattung nicht enthalten ist, ist auch in der Art nicht enthalten; alles, was dagegen in einer Art nicht enthalten ist, kann deshalb doch von der Gattung ausgesagt werden.

Da aber von dem, von welchem die Gattung ausgesagt wird, auch eine der Arten ausgesagt werden muss und da alles, was die Gattung an sich hat, oder beinamig nach der Gattung benannt wird, auch eine der Arten an sich haben muss oder beinamig nach einer der Arten benannt werden muss; da also, wenn z.B. Jemandem die Wissenschaft zukommt, ihm auch entweder die Sprachlehre, oder die Musiklehre oder eine der übrigen Wissenschaften zukommen muss, und da, wenn Jemand die Wissenschaft besitzt, oder beinamig nach der Wissenschaft benannt wird, er auch die Sprachlehre, oder die Musiklehre oder eine der anderen Wissenschaften besitzen muss oder nach einer derselben beinamung benannt werden muss, wie Sprachgelehrter, oder Musikgelehrter u.s.w., so muss man, wenn Jemand einen Satz, der von einem Gegenstande irgend eine Gattung aussagt, wie z.B. dass die Seele sich verändere, untersuchen, ob nach irgend einer von den verschiedenen Arten der Veränderung die Seele sich verändern könne, z.B. ob sie sich vermehren, oder vermindern, oder entstehen könne, und was sonst es noch für Arten der Veränderung giebt. Findet sich nun, dass sie nach keiner dieser Arten sich verändert, so ist klar, dass sie sich überhaupt nicht verändert. Dieser Gesichtspunkt passt sowohl für das Begründen, wie für das Widerlegen. Denn wenn die Seele sich nach einer Art verändert, so ist klar, dass sie sich auch überhaupt verändert und wenn sie sich nach keiner von allen Arten verändert, so ist klar, dass sie sich überhaupt nicht verändert.

Wenn man nicht leicht zur Widerlegung eines Satzes gelangen kann, so muss man auf die Definition des aufgestellten Gegenstandes sein Augenmerk richten, und zwar sowohl auf die richtigen, wie auf die von der Meinung angenommenen, und wenn es mit einer Definition nicht gelingt, dann es mit mehreren versuchen. Denn gegen einen, der definirt, kann man leichter ankämpfen, da die Angriffe gegen Definitionen die leichteren sind.

Man muss auch bei dem aufgestellten Gegenstande untersuchen, von welcher Ursache derselbe abhängt[35] und welche Folge sich nothwendig ergiebt, wenn der Gegenstand ist. Ersteres braucht derjenige, welcher etwas begründen will (denn wenn der Grund oder die Ursache als vorhanden nachgewiesen worden, so ist auch der vorliegende Satz erwiesen); letzteres braucht derjenige, welcher widerlegen will; denn wenn er darlegt, dass das aus dem Gegenstande Folgende nicht vorhanden ist, so wird er den Streitsatz widerlegt haben.

Auch die Zeit muss man berücksichtigen und prüfen, ob sie irgendwo mit dem Satze nicht stimmt; z.B. wenn der Gegner sagte, dass das, was ernährt wird, nothwendig zunehmen müsse; denn alle Geschöpfe werden zwar immer ernährt, aber sie nehmen nicht immer zu. Ebenso, wenn jemand sagte, dass das Wissen ein Erinnern sei; denn letzteres gilt mir für die vergangene Zeit, das Wissen aber auch für die gegenwärtige und kommende Zeit; denn man sagt, dass man das Gegenwärtige und das Zukünftige wisse, z.B. dass eine Mondfinsterniss eintreten werde; erinnern aber kann man sich nur des Vergangenen.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 34-36.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Organon
Philosophische Bibliothek, Bd.13, Sophistische Widerlegungen (Organon VI)
Organon Band 2. Kategorien. Hermeneutik oder vom sprachlichen Ausdruck. Griechisch - Deutsch
Das Organon (German Edition)