|
[53] Wenn zwei Dinge einander sehr nahe stehen und man keine Vorzüglichkeit des einen vor dem andern herausfinden kann, so muss man auf das ihnen Beifolgende achten; denn das, welchem ein grösseres Gut beifolgt, ist vorzüglicher; sind das Beifolgende aber Uebel, so ist dasjenige das vorzüglichere, welchem das geringere Uebel beifolgt; denn wenn auch beide Dinge wünschenswerth sind, so kann ihnen doch Unangenehmes beifolgen. Diese Beifolge ist aber in zweifacher Richtung zu beachten, denn Manches geht voraus, Anderes folgt erst nach; so ist mit dem Lernenden die Unwissenheit vorher verbunden, aber nachher folgt das Wissen. Meistentheils ist die spätere Folge die bessere. Bei den Erörterungen muss man diejenige Folge wählen, welche dafür am besten zu verwenden ist.
Mehrere Güter sind vorzüglicher, als wenigere Güter, entweder überhaupt, oder auch wenn die einen in den anderen enthalten sind; d.h. die wenigeren in den mehreren. Eine Ausnahme ist da vorhanden, wo das eine um des andern willen gewünscht wird; denn da sind beide nicht wünschenswerther, als das eine allein, um dessentwillen das andere gewünscht wird; so ist das Geheiltwerden und die Gesundheit nicht vorzüglicher, als letztere allein, da man das Geheiltwerden nur der Gesundheit wegen wünscht. Selbst Uebel können wünschenswerther sein als Güter, z.B. die Glückseligkeit in Verbindung mit einem Uebel in Vergleich zur Gerechtigkeit[53] und Tapferkeit. Ferner ist derselbe Gegenstand, wenn mit Lust verbunden, wünschenswerther, als ohne Lust und derselbe Gegenstand ohne Schmerzen wünschenswerther als mit Schmerzen.
Ferner ist jedes Ding zu der Zeit, wo damit das Meiste geleistet werden kann, am wünschenswerthesten; so ist die Freiheit von Kummer im Alter wünschenswerther als in der Jugend, da diese Freiheit im Alter mehr zu leisten vermag; deshalb ist auch die Klugheit im Alter wünschenswerther, denn Niemand wählt sich junge Leute zu Führern, weil er ihre Klugheit nicht hoch stellt. Mit der Tapferkeit verhält es sich umgekehrt, denn die Geltendmachung der Tapferkeit ist in der Jugend nöthiger; ebenso ist es mit der Selbstbeherrschung, da die jüngeren Leute mehr als die älteren von den Leidenschaften beunruhigt werden.
Auch ist das wünschenswerther, was zu jeder Zeit oder doch die meiste Zeit das Nützlichere ist; deshalb ist die Gerechtigkeit und die Selbstbeherrschung vorzüglicher, als die Tapferkeit, da jene immer, diese aber nur zu Zeiten nützlich ist. Auch das ist wüschenswerther, wo, wenn Alle es besitzen, man nichts weiter braucht, gegen das, wo, wenn es auch Alle haben, man doch noch anderes braucht; wie z.B. die Gerechtigkeit im Vergleich zur Tapferkeit; denn wenn Alle gerecht sind, braucht man die Tapferkeit nicht; aber wenn auch Alle tapfer sind, bleibt doch die Gerechtigkeit noch nöthig.
Auch bestimmt sich die Vorzüglichkeit nach dem Untergang oder Verlust und nach dem Entstehen, oder Erlangen, und deren Gegentheilen. Dinge, deren Untergang mehr zu vermeiden ist, sind vorzüglicher. Dasselbe gilt von deren Verlust und von deren Gegentheilen. Dinge, deren Verlust oder deren Gegentheil mehr zu vermeiden ist, sind selbst wünschenswerther, als solche, deren Verlust weniger zu vermeiden ist. Mit dem Entstehen und Erlangen verhält es sich umgekehrt; Dinge, deren Erlangung oder Entstehung wünschenswerther ist, sind selbst wünschenswerther.
Ein anderer Gesichtspunkt ist der, wonach das dem Guten Nähere besser und wünschenswerther ist, als das Entferntere. Dasselbe gilt für das dem Guten Aehnlichere, wie z.B. für die Gerechtigkeit im Vergleich zu dem[54] Gerechten. Auch dasjenige von zweien, was einem Besseren ähnlicher ist, als das andere, ist vorzüglicher; deshalb gilt bei Manchen der Ajax für besser als der Odysseus; weil jener dem Achilles ähnlicher ist. Indess lässt sich dagegen einwenden, dass dies nicht richtig ist; denn Ajax kann gerade in dem Punkte, wo Achilles der Beste ist, ihm nicht ähnlicher sein, während Odysseus gut ist, und nur dem Achilles nicht ähnlich. Man muss also auch prüfen, ob die grössere Aehnlichkeit nicht eine lächerliche Eigenschaft betrifft, wie dies bei dem Affen in Bezug auf den Menschen der Fall ist, während das Pferd vorzüglicher als der Affe ist, obgleich es dem Menschen nicht ähnlich ist; denn der Affe ist nicht besser als das Pferd, obgleich er dem Menschen ähnlicher ist. Wenn ferner von zwei Dingen das eine dem Besseren, das andere dem Geringeren ähnlicher ist, so wird das dem Besserem Aehnlichere das bessere gegen das andere sein. Indess lässt sich auch hiergegen ein Einwurf erheben; denn das eine kann dem Besseren nur wenig ähnlich sein, das andere aber dem Geringeren sehr ähnlich; wie z.B. Ajax dem Achilles nur wenig ähnlich, Odysseus aber dem Hektor sehr ähnlich war. Dies gilt auch dann, wenn das eine, was dem Bessern ähnlich ist, ihm nur in seinen schlechten Eigenschaften ähnlich ist, während das dem Geringeren Aehnliche es in seinen besseren Eigenschaften ist, wie z.B. das Pferd dem Maulesel und der Affe dem Menschen.
Einen anderen Gesichtspunkt bietet das Hervorragendere; es ist vorzüglicher als das weniger Hervorragende; ebenso das Schwierigere; denn man hat dasjenige lieber, was schwerer zu erlangen ist. Ebenso ist das Eigenthümliche dem Gemeinsamen vorzuziehen; ebenso das, was weniger ein Gemeinsames mit dem Schlechten ist; denn dasjenige ist wünschenswerther, welchem keine Unannehmlichkeit folgt, als das, dem solche folgt.
Wenn ferner eine Gattung überhaupt besser ist, als die andere, so ist auch das Beste in jener besser, als das Beste in dieser. Ist z.B. der Mensch überhaupt besser, als das Pferd, so ist auch der beste Mensch besser, als das beste Pferd. Ferner ist, wenn das Beste in einer Gattung besser ist, als das Beste in einer anderen Gattung, auch jene Gattung überhaupt besser als diese; ist z.B.[55] der beste Mensch besser als das beste Pferd, so ist auch der Mensch überhaupt besser als das Pferd.
Ferner ist das vorzüglicher, an dem die Freunde Theil nehmen können, gegen das, wo dies nicht der Fall ist. Ebenso das, was man lieber seinem Freunde gethan wünscht, als dem, welchen man gerade trifft. So ist das Gerecht-handeln und Gutes-thun wünschenswerther, als nur so zu scheinen, als thäte man es; denn man will den Freunden lieber wirklich Gutes erweisen, als nur so scheinen, während in Bezug auf die, welche man gerade trifft, das Umgekehrte gilt.
Auch das über das Nothwendige hinaus Gehende ist besser, als das Nothwendige und manchmal auch wünschenswerther; denn das Wohl-Leben ist besser, als das Leben; jenes geht über das Nothwendige hinaus, während das Leben an sich nur zu dem Nothwendigen gehört. Mitunter ist indess das Bessere nicht auch das Wünschenswerthere. Denn wenn es auch besser ist, so ist es deshalb doch nicht nothwendig und nicht wünschenswerther. So ist die Beschäftigung mit der Philosophie besser als das Geldsammeln, aber für den, dem es am Nothwendigen gebricht, ist es nicht das wünschenswerthere; da jene Thätigkeit zu dem Ueberfluss gehört, wo das Nothwendige schon vorhanden ist und wo man etwas von den edlen Beschäftigungen sich noch hinzu verschaffen will. Sonach dürfte das Nothwendige wohl das Wünschenswerthe, das darüber Hinausgehende aber das Bessere sein.
Auch ist das vorzüglicher, was nicht durch Anderes erreicht werden kann, gegen das auch durch Anderes Erreichbare; wie z.B. es bei der Gerechtigkeit gegen die Tapferkeit statt findet. Ferner wenn Etwas ohne ein Anderes wünschenswerth ist, aber ein Zweites nicht ohne ein Anderes; so ist die Macht ohne die Klugheit nicht wünschenswerth, wohl aber die Klugheit ohne die Macht. Wenn man ferner von zwei Dingen das eine verleugnet, damit es scheine, dass man das zweite besitze; dann ist letzteres das wünschenswerthere; so verleugnet man die schwere Arbeit, damit man für eine Person von vornehmem Stande gehalten werde.
Ferner ist das, dessen Abwesenheit beklagt wird, wünschenswerther, wenn diese Klage weniger tadelnswerth ist, und ebenso ist dasjenige wünschenswerther, bei dem[56] es tadelnswerther ist, dass man sich über dessen Abwesenheit nicht beklagt.
Ausgewählte Ausgaben von
Organon
|
Buchempfehlung
Beate Heinold lebt seit dem Tode ihres Mannes allein mit ihrem Sohn Hugo in einer Villa am See und versucht, ihn vor möglichen erotischen Abenteuern abzuschirmen. Indes gibt sie selbst dem Werben des jungen Fritz, einem Schulfreund von Hugo, nach und verliert sich zwischen erotischen Wunschvorstellungen, Schuld- und Schamgefühlen.
64 Seiten, 5.80 Euro