Zweites Kapitel

[68] Auch muss man prüfen, ob für die aufgestellte Art noch eine andere Gattung besteht, welche weder über der angegebenen Gattung, noch unter ihr steht; z.B. wenn jemand für die Gerechtigkeit die Wissenschaft als Gattung behauptete; denn auch die Tugend ist ihre Gattung und keine von diesen beiden Gattungen steht über oder unter der anderen; deshalb kann die Wissenschaft nicht wohl die Gattung der Gerechtigkeit sein, da, wenn dieselbe Art unter zwei Gattungen steht, die eine Gattung über der anderen stehen muss. Indess treten hier in einigen Fällen Bedenken hervor; denn Manche halten die Klugheit sowohl für eine Tugend, wie für eine Wissenschaft, und meinen, dass keine dieser Gattungen unter der anderen stehe; indess wird doch nicht allgemein anerkannt, dass die Klugheit eine Wissenschaft sei. Will man indess jener Ansicht beitreten, so wird man doch nothwendig annehmen müssen, dass mehrere Gattungen für dieselbe Art entweder einander untergeordnet sein müssen oder dass sie beide unter einem höheren Begriffe stehen, wie ja sich dies auch für die Tugend und die Wissenschaft ergiebt. Denn beide stehen unter ein und derselben Gattung; beide sind nämlich ein Besitz und ein Gegenstand. Man muss deshalb prüfen, ob etwa die angegebene Gattung sich in keiner dieser beiden Weisen verhält; denn wenn sie und die andere Gattung einander nicht untergeordnet sind, noch beide unter einer höheren Gattung stehen, so wird die angegebene Gattung nicht die richtige sein.

Auch muss man die Gattung von der behaupteten Gattung und so immer weiter die höheren Gattungen untersuchen und sehen, ob sie sich sämmtlich von der aufgestellten Art aussagen lassen und ob sie als das Was derselben ausgesagt werden; denn alle höheren Gattungen müssen von der aufgestellten Art als deren Was ausgesagt werden können. Stimmt dies in einem Punkte nicht, so ist klar, dass die angegebene Gattung nicht die richtige ist. Man muss ferner prüfen, ob die angegebene Gattung an der Art Theil nimmt, und zwar ob dies sowohl bei ihr selbst wie bei einer der höheren Gattungen Statt hat; denn keine höhere Gattung nimmt an einer[69] niederen Theil. Dies ist also bei dem Widerlegen in der angegebenen Weise zu benutzen. Wird dagegen bei dem Begründen zwar zugestanden, dass die angegebene Gattung in der Art enthalten ist, aber bestritten, dass sie als Gattung darin enthalten sei, so ist es nützlich, wenn man darlegen kann, das eine der höheren Gattungen von dem Was der Art ausgesagt wird. Denn wenn auch nur eine davon von dem Was der Art ausgesagt wird, so sind alle über und unter dieser stehenden Gattungen, wenn sie von der Art ausgesagt werden, in dem Was derselben enthalten; folglich gilt dies auch von der im Streitsatz benannten Gattung. Dass, wenn die eine Gattung in dem Was enthalten ist, auch alle übrigen, sofern sie von der betreffenden Art ausgesagt werden, in dem Was derselben enthalten sind, muss durch Beispiele dargelegt werden. Wird aber überhaupt bestritten, dass die genannte Gattung in der Art des Streitsatzes enthalten sei, so nützt es nichts, dass man zeigt, wie die höheren Gattungen von dem Was dieser Art ausgesagt werden. Hat man z.B. als Gattung des Gehens die Ortsveränderung aufgestellt, so nützt es für den Beweis dieses Satzes nichts, dass man zeigt, das Gehen sei eine Veränderung, da es auch noch andere Veränderungen neben der Veränderung des Ortes giebt, sondern man muss auch ausserdem beweisen, dass das Gehen an keiner anderen Art derselben Eintheilung, ausser an der Ortsveränderung Theil nehme; denn das an der Gattung Theilnehmende muss auch an einer der obersten, der Gattung zunächst stehenden Arten Theil nehmen. Nimmt nun das Gehen weder an der Vergrösserung noch an der Verminderung, noch sonst an einer anderen Veränderung Theil, so ist klar, dass es an der Ortsveränderung Theil nimmt und dass also diese die Gattung des Gehens ist.

Ferner muss man prüfen, ob das, was als Gattung für die unter der Art begriffenen Gegenstände aufgestellt worden, auch von dem Was derselben ausgesagt wird und ob dies ebenso bei den höheren Gattungen stattfindet. Stimmt dies irgendwo nicht, so ist klar, dass die angegebene Gattung nicht die richtige ist. Denn wäre dies der Fall, so würden auch alle oberen Gattungen und sie selbst von dem Was derjenigen Dinge ausgesagt werden, von deren Was die Art ausgesagt wird. Diesen[70] Gesichtspunkt kann man zur Widerlegung benutzen, wenn die Gattung nicht von dem Was der Dinge ausgesagt wird, von denen die Art ausgesagt wird; und umgekehrt kann man ihn zur Begründung benutzen, wenn die Gattung von dem Was ausgesagt wird. Es ergiebt sich dann, dass sowohl die Gattung wie die Art bei demselben Gegenstande von seinem Was ausgesagt werden wird und also der Gegenstand unter zwei Gattungen gehört. Deshalb müssen dann diese Gattungen unter einander stehen. Hat man nun gezeigt, dass das, was man als die Gattung beweisen will, nicht unter der angegebenen Art steht, so muss die Art unter jener stehen, und damit ist bewiesen, dass jenes die Gattung ist.

Auch muss man prüfen, ob die Begriffe der Gattungen zu der aufgestellten Art und zu den an der Art theilnehmenden Gegenständen passen; denn die Begriffe der Gattungen müssen von der Art und von den einzelnen zu ihr gehörenden Gegenständen ausgesagt werden können. Stimmt dies bei einem nicht, so erhellt, dass die angegebene Gattung nicht die richtige ist.

Man muss ferner prüfen, ob etwa der Art-Unterschied als Gattung aufgestellt worden ist, z.B. wenn das Unsterbliche als Gattung der Gottheit aufgestellt worden ist, denn das Unsterbliche bildet den Art-Unterschied bei den lebenden Wesen, indem von ihnen ein Theil sterblich und der andere Theil unsterblich ist; offenbar ist also hier gefehlt worden; denn bei keinem Gegenstande kann sein Art-Unterschied dessen Gattung sein, wie daraus erhellt, dass kein Art-Unterschied das Was eines Dinges bezeichnet, sondern mehr eine Beschaffenheit, wie z.B. das »auf dem Lande lebend«, oder das »zweifüssig«.

Auch muss man prüfen, ob etwa der Art-Unterschied in die Gattung aufgenommen worden ist, z.B. ob das Ungerade als Zahl gesetzt worden ist. Denn das Ungerade ist nicht eine Art der Zahl, sondern nur ein Unterschied derselben, und der Art-Unterschied nimmt nicht an der Gattung Theil; denn alles an der Gattung Theilnehmende ist entweder eine Art oder ein einzelner Gegenstand, während der Art-Unterschied keines von beiden ist. Es erhellt also, dass der Art-Unterschied nicht an der Gattung Theil hat. Deshalb kann auch das Ungerade keine Art der Zahl, sondern nur ein Unterschied[71] derselben sein, da es an der Gattung »Zahl« nicht Theil nimmt.

Ferner muss man prüfen, ob etwa die Gattung in der Art aufgenommen worden ist, wie das der Fall wäre, wenn man die Berührung als ein Stetiges, oder die Mengung als eine Mischung oder, wie Plato that, die Ortsveränderung als ein Fortgetragen-werden definirte; denn die Berührung braucht kein Stetiges zu sein, aber umgekehrt ist das Stetige eine Berührung; denn nicht alles, was sich berührt, ist stetig, wohl aber berührt sich alles Stetige. Ebenso verhält es sich mit den anderen Fällen; denn nicht jede Mengung ist eine Mischung (denn die Mengung trockener Dinge ist keine Mischung) und nicht jede Ortsveränderung ist ein Fortgetragen-werden; so ist das Gehen wohl kein Fortgetragen – werden, denn das Fortgetragen-werden braucht man wohl nur von dem, was nicht freiwillig seinen Ort verändert, wie dies bei den leblosen Körpern der Fall ist. Es erhellt also, dass in diesen Fällen die Art von Mehreren wie die Gattung gilt, während doch das Umgekehrte stattfinden muss.

Ferner ist zu prüfen, ob nicht der Art-Unterschied zur Art gemacht worden ist, z.B. ob das Unsterbliche als die Gottheit ausgesagt worden. Denn die Art würde dann von gleich viel Dingen oder von noch mehreren gelten, als die wirkliche Art, weil der Art-Unterschied von gleichviel Dingen wie die Art oder von noch mehreren ausgesagt wird. Ferner muss man prüfen, ob etwa der Art-Unterschied als Gattung gesetzt worden; wie z.B. wenn die Farbe als das Unterscheidbare, oder die Zahl als das Ungerade definirt worden ist; oder ob die Gattung etwa als Art-Unterschied aufgeführt worden; denn es ist möglich, dass jemand auch einen solchen Satz aufstellt, z.B. dass die Mengung der Unterschied der Mischung sei, oder dass die Ortsveränderung der Unterschied des Fortgetragen-werdens sei. Man muss dies Alles auf dieselbe Weise prüfen; denn diese Gesichtspunkte nehmen an einander Theil. So muss die Gattung mehr Dinge umfassen als der Art-Unterschied, und sie darf auch an dem Art-Unterschied nicht Theil nehmen. Beachtet man dies bei Aufstellung eines Satzes, so kann keiner der hier erwähnten Fehler vorkommen, da bei diesen fehlerhaften Sätzen die Gattung von weniger Dingen, als der Art-Unterschied[72] ausgesagt wird oder die Gattung an dem Art-Unterschied Theil nimmt.

Wenn ferner keiner der für eine Gattung bestehenden Art-Unterschiede von der aufgestellten Art ausgesagt werden kann, so kann es auch nicht die aufgestellte Gattung selbst; so kann von der Seele weder das Gerade noch das Ungerade ausgesagt werden und deshalb auch nicht die Zahl. Dasselbe gilt, wenn die aufgestellte Art der Natur nach früher ist, denn dann wird auch die Gattung aufgehoben; und die Art wird eher das Gegentheil sein. Dasselbe gilt, wenn die vorliegende Art die aufgestellte Gattung oder den Art-Unterschied verlassen kann, wie z.B. die Seele das Sich-Bewegen und die Meinung das Wahre und Falsche verlassen kann; denn dann kommt solche Gattung und solcher Art-Unterschied der vorliegenden Art nicht zu, weil die Gattung und der Art-Unterschied der Art eben soweit folgen, als diese sich erstreckt.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 68-73.
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